Radikal, rechtsradikal, extremistisch

16. Februar 2016 in Kommentar


Anmerkungen zu einer giftigen Begriffsbrühe. Gastkommentar von Martin Lohmann


Bonn-Berlin (kath.net) Einzelfall? Oder vielleicht doch eine nicht ganz untypische Situation für heute üblichen Sprachmissbrauch? Manche Begegnung scheint mehr als nur ein zufälliges Schlaglicht zu sein. Und deshalb schildere ich sie, wobei der konkrete Name nicht so wichtig ist. Es geht um ein – leider – aktuelles Symptom. Also:

Der Kollege ist öffentlich-rechtlich und bewegt sich im politischen Journalismus. Mit ihm komme ich am Flughafen in ein Gespräch über journalistische Verantwortung, zu der ja wesentlich der Umgang mit Sprache gehört. Falsche Begriffe schaffen Falsches, richtige Begriffe Richtiges. Das weiß man. Eigentlich. Und so stellt sich die Frage, ob manche Vertreter der Zunft heute absichtlich oder aus purer Unwissenheit im Blick auf jene, die sich dem gerade geltenden Mainstream zu widersprechen trauen, Eindrücke zulassen, die verheerend sind und Böses schaffen. Ich halte es nämlich für bedenklich und gefährlich, dass etwa aus dem politisch linken Spektrum jeder, der sich - logischerweise von links gesehen - in der Mitte oder in der demokratischen rechten Mitte aufhält, sich allzu schnell in einem Topf geworfen sieht, in dem man Begriffe wie "rechts", "rechtsradikal", "fundamentalistisch", "radikal", "extremistisch" und „intolerant“ zu einer giftigen und jeden vergiftenden Brühe zusammenrührt. Warum das so gefährlich ist?

Keine Sorge, ich komme auf den Kollegen wieder zurück. Doch zunächst: Aus gutem Grunde wollen und sollten wir Deutschen nichts mehr mit der braunen und rechtsradikalen Ideologie der Menschenverachtung zu tun haben. Die verbale Waffe, die der Begriff "rechtsradikal" beinhaltet, muss scharf und eindeutig bleiben! Deshalb ist es fahrlässig und höchst unverantwortlich, dass man die oben genannten Begriffe alle in einen Topf wirft. Wer etwa Lebensschützer mit dieser Giftbrühe überziehen will oder wer die legitime und eindeutig demokratische Position der rechten Mitte, die es genau so gibt wie die linke Mitte, mit rechtsradikal oder radikal gleichsetzt, der ist nichts anderes als ein geistiger Brandstifter und Produzent von Radikalismus und Radikalisierung.

Und genau das ist alles andere als gut. Denn diese Propagandisten, die letztlich gegen alles, was ihrem eigenen Denken nicht hundertprozentig entspricht, entwerten die verbale Waffe gegen Rechtsradikalismus, indem sie den Eindruck zulassen, dass dieser ja eigentlich nichts Schlimmeres sei als "rechts". So schafft man das, wovor man warnt - und bestätigt schließlich sich selbst, mit der Warnung doch Recht gehabt zu haben. Ganz abgesehen davon, dass die Rechtsradikalen oder Braunen - Stichwort Lebensschutz - meines Wissens nicht gerade dadurch aufgefallen sind, dass sie einen unbedingten und konsequenten Respekt vor dem Lebensrecht eines jeden (!) Menschen hatten oder haben. Genau das aber zeichnet Lebensschützer aus: unbedingter Respekt vor dem Lebensrecht eines jeden Menschen.

Und jetzt zurück zu dem Kollegen, den ich an die Verantwortung von "uns Journalisten" erinnerte, die im Umgang mit Sprache schlummert und uns fordert, zu einer maßstabsgetreuen Differenzierung beizutragen. Ich war nicht schlecht überrascht, als er mir sagte, er nehme Menschen wie mich schon als radikal wahr. Nach der Begründung gefragt, meinte er, ich würde ja etwa in der Abtreibungsfrage auf meinem Standpunkt beharren und die Gegenposition nicht als ebenso gerechtfertigt ansehen. Ich staunte - und stockte. Weil ich also für das Leben bin, bin ich "radikal" - mit allem, was da in der Begrifflichkeit - siehe oben - mitschwingt? Ich hatte logische Schwierigkeiten, diesem Gedanken zu folgen.

Auf Nachfrage erklärt mir der Kollege der ARD, der uns immer wieder die Politik so schön erklärt, für ihn sei es radikal, wenn man nicht auch die Gegenseite genauso verstehe und ihr dieselbe Berechtigung zukommen lasse. Ich sei eben radikal, weil ich nicht wahrhaben wolle, dass die Abtreibung ein ganz normaler gesellschaftlich anerkannter Weg sei, den ich eben nicht zulassen wolle. Und das sei halt intolerant und radikal. Schließlich sei Abtreibung in Deutschland ja erlaubt und irgendwie ganz normal.

Ich stutzte erneut nicht schlecht. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass der kompetente Kollege tatsächlich nicht wissen sollte, dass Abtreibung in Deutschland grundsätzlich verboten ist und der Staat nur unter bestimmten Voraussetzungen von der Strafe absieht, auch wenn der Eindruck entstehehen kann, dies sei „ganz normal“. Doch das wusste er wirklich nicht. Erstaunlich. Und als ich ihm von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes erzählte, das in den 90er Jahren darauf hingewiesen hat, dass der noch nicht geborene Mensch von Anfang an eine Würde habe und zu schützen sei, rutschte ihm gar heraus, dass er dieses Urteil gar nicht kenne.

Weil ich aber immer noch nicht verstanden hatte, dass man radikal sein soll, wenn man nicht ebenso das Gegenteil seiner eigenen Überzeugung für richtig hält, und weil mir der Kollege sagte, man müsse doch stets Kompromisse machen, fragte ich ihn, ob es zwischen Leben und Tod eine Mischform gebe. Er winkte daraufhin ab. Auf meine Frage, ob man wirklich ein - mit all dem Klang des Undemokratischen, der da mitschwingen soll - Radikaler sei, wenn man zum Beispiel entschieden gegen die Todesstrafe eintrete und es nicht gut finden könne, wenn jemand für die Todesstrafe votiere oder werbe, ob also auch er, wenn er - wie ich vermute - ein entschiedener Gegner der Todesstrafe sei, als Radikaler bezeichnet werden wolle, beendete er das Gespräch und zog "einen Schlussstrich" mit dem Hinweis: "Ich habe mich Ihnen nicht verständlich machen können."

So kann man es auch sagen. Denn wenn man seiner "Logik" folgen würde, dann wären ja auch - das sagte ich ihm - das Grundgesetz radikal, das Bundesverfassungsgericht radikal, Papst Franziskus ein Radikaler, unsere Staatsspitze Radikale und so weiter. Ja, selbst Jesus Christus würde heute wohl als Radikaler beschimpft. Aber auch Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, den man zu Lebzeiten eher einen Linken zu nennen pflegte. Und auf den Wortstamm des lateinischen „radix“, also Wurzel, will ich erst gar nicht eingehen. Wichtig ist heute, welchen Klang das Wort „radikal“ hat oder welche Konnotation ihm angeheftet wird.

Seither denke ich darüber nach, was mir ein wenig erschreckend durch dieses Gespräch (noch) deutlich(er) geworden ist: Wie und was können wir, vor allem die Journalisten tun, um eine Begrifflichkeit zu ermöglichen, die sowohl der Logik als auch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entspricht und ihr dient. Denn der Leichtsinn - oder ist es bewusste Zerstörung? -, mit dem heute eine giftige Begriffssoße allenthalben gekocht und geradezu als Zwangsernährung angeboten wird, ist höchst gefährlich.

Diejenigen, die fahrlässig mit dem Stigma-Stempel "Radikal" hantieren und ihn jedem, der sich dem diktatorischen Mainstream des absolutistischen Relativismus mit guten Argumenten fair und tolerant zu widersetzen traut, brutal freundlich und "besorgt" aufdrücken, sägen an unserer Demokratie und Freiheit. Es sind geistige Brandstifter, die durch unterlassene Differenzierung das wirklich Radikale und Undemokratische erst salonfähig machen - und exakt das produzieren, wovor sie anscheinend edel warnen. Mir, einem überzeugten Europäer und Deutschen, der sich dem Grundgesetz und seinem Artikel Eins freudig verpflichtet weiß und den Einsatz für das unteilbare Lebensrecht eines jeden Menschen für das Normalste hält, bereitet die perfide Verleumdung und das Unterdrücken legitimer Überzeugungen Sorge. Es ist nicht gut, wenn Diskreditierungen und Diskriminierungen zur Normalität avancieren.

Es mag etwas abgedroschen und einfach klingen, ist aber dennoch vielleicht nicht falsch: Wir brauchen dringend aufgeklärte und wirklich gebildete Journalisten, Medienleute mit demokratischer und freiheitlicher Kompetenz zur Verantwortung im Umgang mit Sprache und Begrifflichkeit! Jedenfalls dann, wenn uns ein guter Journalismus und eine lebbare Freiheit noch etwas bedeuten und wir sie auch morgen noch als Realität haben wollen.

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Foto Lohmann © Lohmann Media


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