18. April 2016 in Kommentar
Das Apostolische Schreiben Amoris laetitia verändert keineswegs die Disziplin der Kirche. Von Prof. Livio Melina, Präsident des Päpstlichen Instituts Johannes Paul II. für Studien über Ehe und Familie
Vatikan (kath.net) Erfüllt von Respekt, Dankbarkeit und im Geiste treuer Verfügbarkeit nimmt das Institut Johannes Paul II. für Studien über Ehe und Familie das Nachsynodale Apostolische Schreiben Amoris laetitia entgegen, mit dem Papst Franziskus den vor zwei Jahren begonnenen synodalen Weg abgeschlossen hat. Wir haben diesen Weg begleitet mit der Sorge, es nicht an unserem Beitrag fehlen zu lassen mit der Offenheit von Herz und Verstand, mit Klarheit und mit Parrhesia und fest überzeugt von der Fruchtbarkeit der Inspiration, die vom heiligen Johannes Paul II., dem Papst der Familie, ausgegangen ist. Diese Inspiration ist in den nunmehr 34 Jahren des Engagements in Forschung und Lehre gereift, und dies stets in engem Kontakt mit der konkreten Erfahrung der Familienpastoral.
Ich möchte unverzüglich einige Reflexionen mitteilen, die einer ersten Lektüre des Dokuments entspringen. Es wird nicht an Zeit und Gelegenheit fehlen, um dieses Lehrschreiben von Papst Franziskus mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit zu vertiefen. Es zeichnet sich vor allem durch seinen großen pastoralen Wunsch aus, die Frohe Botschaft von der Familie aus der Perspektive der Barmherzigkeit zu verkünden, indem es sich bemüht, auf die Familien in der Konkretheit ihrer Probleme und Schwächen einzugehen und für alle Menschen Wege der Bekehrung und eines Wachstums in der Liebe zu eröffnen.
In der kirchlichen Diskussion und der öffentlichen Meinung herrschte großes Interesse in Bezug auf eine konkrete Frage, die aus pastoraler Sicht sicher keineswegs die wichtigste ist: die eventuelle Zulassung der in einer neuen zivilen Verbindung lebenden Geschiedenen zur Kommunion. In der Tat war dies nicht die zentrale Frage der Synode, wie Papst Franziskus selbst unterstrich. Es mag genügen, an die großen Herausforderungen der Kirche im Hinblick auf die Familie im aktuellen Kontext zu denken: an die Tatsache, dass junge Menschen immer seltener überhaupt heiraten; an den Verlust der gesellschaftlichen Rolle der Ehe; an die neuen Ideologien, die die Familie bedrohen; und vor allem und an erster Stelle an die große Aufgabe, Christus mit einer neuen Evangelisierung zu allen Familien zu bringen Und doch konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf jenen spezifischen Punkt, den man als Prüfstein für die gewünschte mögliche Änderung der Position der Kirche (eine angebliche Revolution) ansah, möglicherweise, so wurde behauptet, nur auf der Ebene der Pastoral und nicht der Lehre.
Ein Weg der Begleitung und der Integration der Fernstehenden
Aus diesem Grund ist es legitim, sich die Frage zu stellen: Stellt der soeben veröffentlichte Text wirklich eine Veränderung in der traditionellen Disziplin der Kirche dar und erlaubt den wiederverheirateten Geschiedenen nun endlich, wenigstens in bestimmten Fällen die Kommunion zu empfangen? Hat man das achte Kapitel gelesen, in dem diese Frage untersucht wird, ist nur eine einzige Schlussfolgerung möglich: Das Apostolische Schreiben Amoris laetitia verändert keineswegs die Disziplin der Kirche, die sich auf die lehrmäßige Begründung stützt, wie sie in Familiaris consortio 84 dargelegt und in Sacramentum caritatis 29 bestätigt wurde. Tatsächlich wird im fortlaufenden Text des achten Kapitels die Eucharistie nicht einmal erwähnt. Papst Franziskus sagt an keiner Stelle des neuen Nachsynodalen Apostolischen Schreibens, dass die wiederverheirateten Geschiedenen die Eucharistie empfangen können, ohne die Voraussetzung zu erfüllen, wie Bruder und Schwester zusammenzuleben. Und daher behält dieser in Familiaris consortio 84 und in Sacramentum caritatis 29 dargelegte Anspruch seine volle Gültigkeit als Bezugspunkt für die Unterscheidung. Eindeutige Klarheit ist das mindeste, was man verlangen müsste, um die Änderung einer Disziplin zu legitimieren, die in Tradition und Lehre der Kirche wurzelt und vom Lehramt zweifelsfrei festgelegt wurde (vgl. Mt 5,37). In der Tat haben sich der heilige Johannes Paul II. in Familiaris consortio und Benedikt XVI. in Sacramentum caritatis mit kristallklarer Eindeutigkeit geäußert.
Es ist daher ganz offensichtlich, dass Papst Franziskus, der die Wichtigkeit des synodalen Prinzips in der Kirche immer wieder unterstrichen hat, nicht über die Entscheidungen der Synode hinausgehen wollte. Und damit muss ganz klar gesagt werden, dass auch nach Amoris laetitia die Zulassung der wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion, mit Ausnahme der in Familiaris consortio 84 und in Sacramentum caritatis 29 vorgesehenen Situationen, gegen die Disziplin der Kirche verstößt. Und zu lehren, dass der Kommunionempfang für wiederverheiratete Geschiedene unter Absehung von diesen Kriterien möglich ist, widerspricht dem kirchlichen Lehramt.
Was das Dokument von Papst Franziskus dagegen vorschlägt, ist ein Weg der Integration, der es diesen Getauften erlaubt, sich nach und nach der dem Evangelium entsprechenden Lebensweise anzunähern. Denn die objektiven Normen betreffen nicht die subjektive Schuld, über die nur Gott richten kann, der die Herzen erforscht. Aber sie zeigen die Anforderungen und das Ziel, das jede Evangelisierung anstrebt: ein Leben in vollkommenem Einklang mit dem Evangelium, das die Kirche jedem anzubieten berufen ist, ohne Ausnahme und ohne Kasuistik. Dieses Leben ist möglich, denn das ist es, was das Evangelium verlangt (Nr. 102). Für die negativen sittlichen Normen, die in sich schlechte Handlungen verbieten, kann es keine Ausnahme und keine Gradualität geben, und ebenso wenig eine mögliche Unterscheidung, die sie rechtfertigen würde: das ist die solide Lehre des heiligen Johannes Paul II. in der Enzyklika Veritatis splendor.
Was also ist das Neue an diesem achten Kapitel? Das Neue besteht nicht in einer Veränderung der Lehre oder der Disziplin, sondern es handelt sich um einen neuen, von Barmherzigkeit geprägten pastoralen Ansatz, Ausdruck des Wunsches von Papst Franziskus, das Evangelium zu den Fernstehenden zu bringen, indem man der Logik einer schrittweisen Integration folgt. Aus diesem Grund weist das Dokument darauf hin, dass es Situationen geben kann, in denen Menschen, die objektiv in einer Situation der Sünde leben, vielleicht subjektiv nicht schuldig sind aufgrund von Unkenntnis, Furcht, ungeordneter Affekte und aus anderen Gründen, die die traditionelle Morallehre immer anerkannt hat und die im Katechismus der katholischen Kirche unter Nummer 1735 genannt werden. Diese Aussage ist wichtig, denn es bedeutet, dass wir diese Menschen nicht verurteilen oder verdammen dürfen, sondern dass wir barmherzig und geduldig mit ihnen sein müssen, wie das der Vater gegenüber einem jeden von uns ist, und dass wir für einen jeden den Weg der Abkehr von der Sünde und des Wachsens in der Liebe suchen müssen. Sicherlich entbinden die Worte von Amoris laetitia über die Unmöglichkeit, die Tödlichkeit der persönlichen Sünde unter Absehung von einer Prüfung der individuellen Verantwortlichkeit die abgemildert sein oder ganz fehlen kann (Nr. 301) festzustellen, nicht von der Notwendigkeit zu sagen, dass es sich nichtsdestoweniger um eine objektive Situation der Sünde handelt (wie dies unter Nr. 305 getan wird).
Eine neue pastorale Perspektive für die Kirche
Hat man einmal die kasuistischen und tendenziösen Interpretationen ausgeschlossen, kann man sich fragen: Was also will uns der Heilige Vater mit diesem Text wirklich sagen? Die einfache und entscheidende Antwort ist: Er möchte auf eine neue Weise das Evangelium von der Familie verkünden und alle, in welcher Situation auch immer sie sich befinden mögen, zu einem Weg einladen: Gehen wir voran als Familien, bleiben wir unterwegs! (Nr. 325). Der Papst selbst hat auf diesen grundlegenden Schlüssel zur Interpretation hingewiesen, als er im Interview auf dem Rückflug aus dem Heiligen Land im Mai 2014 verriet, dass die Grundfrage, die ihn zur Abhaltung des synodalen Weges inspiriert hatte, nicht eine Frage der Kasuistik war, sondern die Dringlichkeit zu verkünden, was Christus in die Familie bringt. Und im Dokument geht er von der Feststellung aus, dass in unseren westlichen Gesellschaften leider auch von vielen Getauften die Ehe nicht mehr als Frohe Botschaft gesehen wird. Das ist das wahre pastorale Problem, dessen sich das Apostolische Schreiben mutig annimmt. Der Papst möchte der Verkündigung der Frohen Botschaft der Ehe und der Familie für das Leben der Kirche einen neuen Weg eröffnen.
Um zu verstehen, in welchem Sinn dies gemeint ist, muss berücksichtigt werden, dass der Papst in diesem Dokument das Hohelied der Liebe aus 1 Kor 13 in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt (Amoris laetitia, Kapitel IV), in dem der heilige Apostel Paulus von der Liebe als dem besten Weg spricht. Auf diese Weise macht der Papst deutlich, dass für ihn die Liebe ein immer neuer Weg ist, der in vollkommener Treue zum Plan Gottes für die menschliche Liebe gegangen werden muss. Dieser Plan Gottes für die menschliche Liebe schließt natürlich die grundlegenden Dimensionen ein, die die großartige Theologie des Leibes von Johannes Paul II. ins Licht gerückt hat. Sie werden im Dokument aufgegriffen (vgl. Nr. 150ff.) und somit auch von Papst Franziskus erläutert und betont: der geschlechtliche Unterschied, die unauflösliche und treue Einheit sowie die Offenheit für das Leben in der Fruchtbarkeit.
Im Hinblick auf diesen Weg der Liebe wollen wir einige entscheidende Aspekte hervorheben, die das Schreiben Amoris laetitia vorlegt und die für die Erneuerung der Pastoral von großer Bedeutung sind:
1. Die Zentralität des Themas der Erziehung als Berufung zur Liebe (Kapitel VII). Häufig ist im Text von Weg, Geschichte, Erzählung die Rede. Es sind Begriffe, die auf die wichtige Bedeutung der Dimension der Freiheit im Laufe der Zeit verweisen: die Kirche geht nicht nur hinaus und nähert sich den Menschen, indem sie sie so annimmt, wie sie sind, sondern sie wird auch Weggefährtin, um sie dort abzuholen, wo sie stehen, und ihnen zu helfen, an das erreichbare Ziel zu gelangen. Angesichts des affektiven Analphabetismus und der Zerbrechlichkeit der Freiheit im Hinblick auf die ganze Person verpflichtende, unwiderrufliche (für immer) Entscheidungen kann die Antwort nur ein erneuerter Einsatz der Familie, der Kirche, der gesellschaftlichen Gruppen im Bereich der Erziehung sein.
2. Die Klarheit der Lehre über die eheliche Liebe und Fruchtbarkeit, ausgehend von der Enzyklika Humanae vitae. So stellt sich die entscheidende Aufgabe, die Enzyklika des seligen Paul VI. (deren 50. Jahrestag wir 2018 begehen werden) als Vorschlag der Kirche für eine Evangelisierung der sexuellen Intimität aufzugreifen. Das ist ein Licht, das äußerst notwendig ist in einer Kultur, die seit der sexuellen Revolution die Sprache des Leibes und der Sexualität verlernt hat (Nr. 222). Dieses wahrhaft prophetische Lehramt wird auch aus der Sicht einer ganzheitlichen menschlichen Ökologie vollkommen bestätigt.
3. Die Anerkennung des pastoralen Schwerpunkt der Familie in der Kirche: Die Familie ist zunächst einmal kein zu lösendes pastorales Problem unter anderen. Die Familie ist vielmehr ein aktives und präsentes Subjekt: Sie ist die Hauptressource für die Evangelisierung, auch im Hinblick auf eine familiärere Kirche, eine Kirche, die das Profil einer Familie Gottes hat. Das heißt zwischen Kirche und Familie muss eine Wechselwirkung und eine ungehinderte Synergie in Gang gesetzt werden. Wie die Familie eine kleine Hauskirche ist, muss auch die große Kirche die Züge einer Familie Gottes tragen und so gelebt werden (Nr. 86-87).
4. Der sakramentale Charakter des christlichen Lebens: Das Christentum ist auf ein historisches Ereignis gegründet, das uns bis in unseren Leib hinein berührt und den menschlichen Leib verwandelt. Denn die am grünen Tisch entworfenen Pastoralpläne werden uns nicht retten können, und noch weniger jene, die versuchen, die christliche Moral der Mentalität einer westlichen Welt anzupassen, die sich in einer tiefen Sinnkrise befindet. Daher muss man jede Art von rein emotivistischer Sicht der Liebe oder auch deren banal kontraktualistische Interpretation hinter sich lassen. Man muss die Bedeutung der Ehe wiederentdecken, die für die, die zu ihr berufen sind, der Dreh- und Angelpunkt der Berufung zum christlichen Leben ist. Die Ehe in ihren konstitutiven Erfordernissen abzuschwächen oder die Eucharistie auf ein Zeichen der Integration in die Gemeinschaft zu reduzieren, das würde bedeuten den Realismus der sakramentalen Ontologie aufzugeben und die göttliche Gabe zu verlieren, die das Leben der Kirche erhält.
In der Abwendung von einer Logik der Kasuistik muss der weite und positive Horizont gesehen werden, den das Dokument von Papst Franziskus für die Sendung der Kirche gegenüber den Familien eröffnet, gerade indem es die Erziehungsfrage als entscheidende pastorale Frage in den Mittelpunkt stellt. Hier fühlt sich das Päpstliche Institut Johannes Paul II. in besonderer Weise angesprochen sowohl aufgrund der ihm übertragenen Sendung als auch aufgrund der auf theologischer und pastoraler Ebene herangereiften Erfahrungen.
Übersetzung aus dem Italienischen: Frau Dr. Johanna Weißenberger
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