Erzieht Kinder! Setzt Grenzen!

2. Juni 2016 in Familie


Psychotherapeuten warnen: Viele Kinder entwickeln sich zu Tyrannen. Wie lässt sich ein verwöhnender Erziehungsstil verhindern? Interview mit Erziehungsberaterin Christa Hübner, die ein Elterntraining anbietet. Von idea-Reporter Karsten Huhn


Regensburg (kath.net/idea) Eltern sollten ihre Kinder liebevoll erziehen, zugleich aber auch Grenzen setzen. Das forderte die Erziehungsberaterin Christa Hübner (Regensburg) in einem Interview mit der Evangelischen Nachrichtenagentur idea. Hübner bietet Elterntrainings an. Ihr zufolge dominierte vor 40 Jahren ein autoritärer Erziehungsstil. Heute würden dagegen Kinder häufig verwöhnt. Viele Eltern wollten die besten Freunde ihrer Kinder sein. Die meisten Mädchen und Jungen, die antiautoritär erzogen würden, sehnten sich jedoch nach klaren Strukturen und wollten nicht in völliger Ungebundenheit leben. Denn eindeutige Erziehungsprinzipien gäben den Kindern Sicherheit.

idea: Frau Hübner, Sie bieten ein Elterntraining an. Was lernt man dort?

Hübner: Es geht nicht nur darum, dass man einfach ein paar Erziehungstipps lernt. Eltern lernen, über ihr eigenes Erziehungsverhalten nachzudenken und es gegebenenfalls zu verändern. Eine Mutter sagte mir: „Ich habe jahrelang versucht, etwas in der Erziehung meiner Kinder zu verändern, und nichts hat geklappt. Jetzt endlich habe ich gemerkt, ich muss erst mal was an mir und an meiner Einstellung ändern.“ Vor 40 Jahren war eher ein strenger, autoritärer Erziehungsstil üblich, heute ist es häufig eine verwöhnende, antiautoritäre Erziehung. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es das Modell des demokratischen Erziehungsstils, der von Liebe gekennzeichnet ist, zugleich aber auch Grenzen setzt – und das müssen viele Eltern erst lernen.

Machtkämpfe verhindern

idea: Viele wirken bei der Erziehung verunsichert. Woran liegt das?

Hübner: Viele merken, dass ihre eigene Kindheit nicht so optimal lief. So streng, wie die eigenen Eltern einen erzogen haben, will man selbst auf keinen Fall sein. Aber wie macht man es dann besser? Oft fehlen dafür die Vorbilder. Die Eltern wollen der beste Freund ihres Kindes sein. Sie scheuen sich, Grenzen zu setzen, weil sie fürchten, dann vom Kind nicht mehr geliebt zu werden. Kinder spüren diese Unsicherheit – und spielen dann die Macht über ihre Eltern aus.

idea: Wie verhindern Eltern, dass es zu Machtkämpfen kommt?

Hübner: Zum einen dadurch, dass man klare Absprachen trifft. Wenn sich das Kind dann nicht daran hält, muss es die Konsequenzen tragen: Wenn es zum Beispiel nicht zur verabredeten Zeit den Fernseher ausmacht, kann es am nächsten Tag eben nicht fernsehen. Am übernächsten Tag aber schon. Es bekommt eine neue Chance, sich an die Absprachen zu halten. Klare Grenzen zu setzen und diese dann auch zu verteidigen, ist entscheidend. Kinder sehen sich zunächst selbst im Zentrum, sie müssen erst lernen, gemeinschaftsfähig zu werden und auf andere Rücksicht zu nehmen. Hilfreich ist es, wenn Eltern ihrem Kind eine Wahlmöglichkeit geben. Zum Beispiel kann man bei kleinen Kindern den morgendlichen Kampf ums Anziehen dadurch vermeiden, dass man das Kind vor eine Alternative stellt: Willst du lieber die blaue oder die rote Hose anziehen? Das nimmt Druck raus.

Wenn ein 14-Jähriger verschläft

idea: Mit solchen Tricks kommt man weiter?

Hübner: Wenn Sie es Tricks nennen wollen. Ich würde eher sagen, Kinder von Anfang an mit in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Bei kleinen Kindern kann das helfen. Bei älteren Kindern sehen die Wahlmöglichkeiten wieder anders aus, und sie lernen aus den natürlichen Konsequenzen: Wenn der 14-jährige Sohn verschläft, kommt er eben zu spät in die Schule und bekommt eine Verwarnung. Diese Erfahrung dürfen Eltern ihrem Kind nicht ersparen. Es geht ja darum, dass Kinder lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich ihnen immer alles abnehme, gelingt das nicht. Entscheidend ist dabei, dass das Kind alt genug ist, um die Konsequenzen seines Handelns selbst einschätzen zu können: Ein kleines Kind, das einfach auf die Straße rennt, muss ich natürlich daran hindern, damit es nicht vom Auto überfahren wird.

Eltern sind nicht der Freund des Kindes

idea: Sie sind dagegen, dass Eltern der beste Freund des Kindes sind. Was spricht dagegen?

Hübner: Eine gute Beziehung zum Kind aufzubauen, ist etwas anderes, als der beste Freund zu sein. Gute Freunde bewegen sich auf der gleichen Ebene und tragen gleichermaßen Verantwortung. Die Aufgabe von Eltern ist es aber zu erziehen. Die meisten Kinder, die antiautoritär erzogen werden, sehnen sich danach, dass sie klare Strukturen bekommen und nicht in völliger Ungebundenheit leben müssen. Klare Erziehungsprinzipien geben Kindern Sicherheit. Anstatt der beste Freund des Kindes zu sein, sollten Eltern ein liebender Vater oder eine liebende Mutter sein, die den Kindern sichere Gebundenheit und mit zunehmendem Alter mehr Freiheit geben. Bewährt hat sich das Motto: „Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.“

Keine Lust auf Hausaufgaben

idea: Ihr Kind kommt nach der Schule nach Hause und muss noch Hausaufgaben machen – hat aber natürlich keine Lust darauf. Was machen Sie?

Hübner: Ich nehme mir kurz Zeit, um zu überlegen, bei wem die Verantwortung für das Problem in dieser Situation liegt. Zur Hilfe nehme ich folgende Fragen: Sind meine Rechte missachtet, wenn das Kind die Hausaufgaben nicht macht? Ist das Kind alt genug um, selbst dafür Verantwortung zu übernehmen? Ist die Sicherheit des Kindes gefährdet? Kann sein Verhalten teuer werden?

idea: Man könnte antworten: Es ist immer das Problem der Eltern – schließlich handelt es sich um ihr Kind.

Hübner: Aber für jedes Problem gibt es ein Alter, in dem das Kind alt genug ist, selbst Entscheidungen zu treffen, auch wenn man dabei sicher immer die Individualität und den Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigen muss. Das ist wie beim Schwimmenlernen: Am Anfang muss der Erwachsene immer dabei sein, später reicht es, wenn er in der Nähe ist, und irgendwann kann das Kind ohne Aufsicht der Eltern mit seinen Freunden zum See fahren.

idea: Wie ist es bei den Hausaufgaben?

Hübner: Ich treffe mit dem Kind Absprachen und schaue, ob ich es unterstützen kann. Ziel ist es aber immer, dass es eine Aufgabe schließlich eigenverantwortlich lösen kann. Dazu kommt die Wahlmöglichkeit: Wenn mein Kind keine Lust hat, die Hausaufgaben sofort zu machen, kann es sagen, zu welchem Zeitpunkt es sie lieber machen will. idea: „Am liebsten gar nicht“, sagt das Kind.

Hübner: Dann darf ich mich als Mutter nicht in einen Machtkampf hineinziehen lassen – wenn ich das tun würde, habe ich diese Kämpfe jahrelang.

idea: Wie verhindern Sie das?

Hübner: Ich traue meinem Kind zu, dass es einen Weg findet. Ich kann ihm zuhören, erkunden, wo die Schwierigkeiten liegen, nach Alternativen forschen und es ermutigen, einen Weg zu finden. Das Kind merkt dann, dass ich es nicht ärgern, sondern ihm helfen will. Aber meine Aufgabe ist es nicht, diesen Weg für das Kind allein zu gehen, indem ich ihm vorschreibe, was es wann zu tun hat.

Wenn ich keine Energie mehr habe

idea: Solche Gespräche zu führen, klingt sehr aufwendig. Viele Eltern haben diese Energie nicht.

Hübner: Wer in die Zeit fürs Zuhören investiert, wird langfristig viel Zeit sparen. Das beobachte ich bei meinen drei Kindern und auch aus den Erfahrungen anderer Eltern.

idea: Ab wann sagen Sie: Das ist jetzt das Problem des Kindes?

Hübner: Bei kleineren Kindern tragen fast immer die Eltern die Verantwortung. Je älter das Kind ist, desto mehr Eigenverantwortung trägt es. Zum Beispiel beim morgendlichen Aufstehen: Ich kann die zehnjährige Tochter wecken, ich kann das Frühstück vorbereiten, aber ich renne ihr morgens nicht bei jedem Schritt nach. Sie muss selbst lernen, auf die Uhr zu schauen, um rechtzeitig fertig zu sein. Wichtig sind dabei die Signale, die ich sende: Ich äußere keine Häme.

Ich spiele aber auch nicht bei dem „Wie bringe ich Mama auf die Palme?“-Spiel mit. Wenn das Kind nicht aus dem Bett kommt, ist es sein Problem. Normalerweise wollen Kinder aber kooperieren und in der Familie dazugehören. Nur wenn ich keine positive Beziehung zum Kind habe, versucht es auf negative Weise, Aufmerksamkeit zu erregen, und so kommt es zu Machtkämpfen.

idea: Was machen Sie, wenn Ihr Sohn die ganze Nacht vor dem Computer sitzt?

Hübner: Damit das nicht geschieht, muss ich Verantwortung übernehmen. Gerade im Umgang mit Medien müssen Grenzen gesetzt werden, und eine davon ist die Nachtruhe. Konkret: Unser 13-jähriger Sohn kann täglich eine Stunde am Computer spielen – diese Zeit kann er bis 20 Uhr frei wählen –, nachdem er seine Hausaufgaben gemacht hat.

idea: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Hübner: Im Grunde ja, wobei wir abgesprochen haben, dass er nach der Schule auch erst mal eine Pause macht, bevor er wieder für die Schule arbeitet. Oft ist es ja so, dass Eltern zu strikte Vorgaben machen und dem Kind keine Freiheit zur eigenen Gestaltung lassen. Da machen Kinder nicht mit. Wichtig ist also, das Kind mitbestimmen zu lassen, wie es seine Zeit und seine Aufgaben einteilt. Zum Beispiel muss das Kinderzimmer sicher aufgeräumt werden – aber wann das geschieht, müssen Eltern nicht anordnen, sondern sie können es mit dem Kind besprechen.

idea: Wenn die Stunde am Computer um ist: den Stecker ziehen?

Hübner: Da gibt es sicher intelligentere Lösungen. Es gibt für Computer heute Kinderschutzprogramme, die mitteilen, wie viel Zeit noch bleibt und den Computer nach einer bestimmten Zeit automatisch abschalten – damit vermeide ich den täglichen Machtkampf. Je älter das Kind wird, desto mehr Freiheiten bekommt es natürlich, und dann kann man die Nutzungsdauer auch neu verhandeln.

idea: Freunde ihres Kindes wollen mit ihm ins Kino gehen. Nach allem, was zu lesen ist, ist der Film extrem gewalttätig oder versaut. Er hat jedoch die Jugendfreigabe ab 12 Jahren bekommen. Muss Ihr 13-Jähriger dann zu Hause bleiben?

Hübner: Dann rede ich mit meinem Sohn: Du kannst gern ins Kino gehen, aber nicht in diesen Film.

Die Kunst, Grenzen zu setzen

idea: Der Sohn antwortet dann: „Mama, du Spaßbremse!“.

Hübner: Das kann passieren. Es kann aber auch sein, dass Kinder dankbar sind, wenn man bei falschem Spaß auf die Bremse drückt, zum Beispiel bei der Grenze „Bis 16 Jahre kein Alkohol“. Alle anderen dürfen – da fällt es schwer, von selbst zu sagen, dass man lieber darauf verzichtet. Wenn die Eltern es verbieten, mag das uncool sein, aber die Grenze hilft dem Kind, den Freunden „Nein“ zu sagen.

idea: Grenzen setzen – das klingt anstrengend.

Hübner: Erziehen ist anstrengend. Aber wenn man im Gespräch mit den Kindern bleibt, ist das weit weniger stressig, als wenn man einen autoritären oder auch einen verwöhnenden Erziehungsstil hat.

Nicht verwöhnen

idea: Warum ist Verwöhnen verkehrt?

Hübner: Wenn man die Erziehung einfach laufen lässt, und das Kind kann machen, was es will, tue ich ihm nichts Gutes. So lernt es nicht, lebenstüchtig zu werden, sich anzustrengen, Konflikte zu bestehen und beziehungsfähig zu werden.

Nicht zu spät anfangen

idea: Die Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger sagt: „Immer mehr Kinder sind tyrannisch und voller Widerstand.“

Hübner: Das beobachte ich auch. Es sind Folgen des verwöhnenden Erziehungsstils. Aus diesem Grund nehmen Eltern an unseren Elterntrainings teil. Das Problem: Viele Eltern kommen erst, wenn ihre Kinder schon Teenager sind, die Erziehung also eigentlich weitgehend abgeschlossen ist und die Einflussmöglichkeiten schwinden.

Elternführerschein in Kirchengemeinden?

idea: Und dann soll man auch noch an zehn Abenden eine Art Elternführerschein machen.

Hübner: Am besten wäre es, man besuchte das Training am Anfang der Elternschaft, also vorbeugend. In anderen Lebensbereichen bilden wir uns doch auch ständig weiter. Und warum immer erst dann reagieren, wenn es schon schlimm steht? Ein Elterntraining entlastet Familien ungemein.

idea: Sollten Kirchengemeinden Elterntrainings anbieten?

Hübner: Teilweise geschieht das ja schon. Ohnehin sind Kirchengemeinden Orte, an denen Beziehungen gelebt und auch das Vater- und Muttersein vorgelebt werden. Zudem gehen viele Bildungsinitiativen auf die Initiative von Christen zurück, etwa die Erfindung des Kindergartens. Ziel müsste es sein, dass Elterntrainings flächendeckend angeboten werden. Je normaler sie werden, desto leichter fällt es Eltern, daran teilzunehmen. Christen dürfen nicht klagen, wie schlecht es um die Jugend bestellt ist, wenn sie nicht gleichzeitig aktiv etwas für Kinder und Familien tun.

Ist die Bibel ein Erziehungsratgeber?

idea: Ist die Bibel ein Erziehungsratgeber?

Hübner: Ja, allerdings kein systematischer. Für wichtig halte ich zum Beispiel die Aussage in Kolosser 3,20-21: „Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem, denn daran hat der Herr, dem ihr gehört, Freude. Ihr Väter, seid mit euren Kindern nicht übermäßig streng, denn damit erreicht ihr nur, dass sie mutlos werden.“ In der Bibel ist immer wieder von der Ermutigung die Rede – das brauchen Kinder auch heute. Auch von der Möglichkeit, den Weg selbst zu wählen, ist in der Bibel immer wieder Rede, etwa wenn Josua das Volk Israel vor die Wahl stellt: „Gefällt es euch aber nicht, dem Herrn zu dienen, so wählt euch heute, wem ihr dienen wollt: den Göttern, denen eure Väter gedient haben jenseits des Stroms, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen“ (Josua 24,15). Der Glaube an Gott beruht immer auf einer freien Entscheidung – und so sollte es auch in der Erziehung sein. Vor allem aber denke ich, dass Gott selbst das beste Vorbild für Eltern ist.

Worauf kommt es in der Erziehung an?

idea: Weshalb?

Hübner: Er zeigt mir, worauf es in der Erziehung ankommt: auf Beziehung, Bindungssicherheit und Geborgenheit. Gott sagt zum Beispiel: „Ich habe dich je und je geliebt“ (Jeremia 31,3). Und: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jesaja 66,13). Gott nimmt uns an, wie wir sind, und traut uns zu, dass wir uns durch seinen Geist verändern können. Er hilft uns, zu wachsen, erwachsen zu werden. Ich muss nicht perfekt sein und etwas leisten, damit er mich liebt. Er vergibt uns. Bei ihm gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Von dieser Haltung können Eltern lernen.

idea: Vielen Dank für das Gespräch!

Christa Hübner (45) ist evangelische Therapeutische Seelsorgerin und arbeitet als Beraterin mit Schwerpunkt Ehe und Erziehung. Sie bietet den Kurs „STEP – das Elterntraining“ an. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern im Alter von 18, 15 und 12 Jahren.


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