‚Inquisition’ – die Wahrung des göttlichen Ordnungsgefüges

4. Oktober 2016 in Aktuelles


Ein korrektes historisches Urteil kann nicht von einer sorgfältigen Berücksichtigung der kulturellen Bedingungen der jeweiligen Epoche absehen. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) „Inquisition“ – allein der Name erweckt bei nicht wenigen Menschen ein Gefühl des Unbehagens. Wem kommen nicht grausame Geschichten in den Sinn, die im Laufe der Zeit das allgemeine Bewusstsein durchdrungen haben und in diesem Begriff eines der kritikwürdigsten Phänomene in der Geschichte des Christentums fassen? Das Schaudern wird verstärkt durch die Vorstellung eines unsäglichen körperlichen und psychischen Leidens, das ob der dogmatischen Verteidigung der Wahrheit dem angetan wurde, der sich von dieser entfernte und nicht dem unfehlbaren Lehranspruch der katholischen Kirche unterwarf, sondern versuchte, diesen sogar mit Gründen der Vernunft zu diskutieren – was auch den Tod einbringen konnte. Der Inquisitor ist ein stattlicher und stolzer Mann, vom Papst mit der Hoheit ausgestattet, die Wahrheit des Dogmas erkannt zu haben und somit Verfehlen in anderen feststellen zu können.

Wo aber ein endlicher Mensch eine derartige Befugnis besitzt, kann es nicht anders sein, dass diese missbraucht wird und zur Verdeckung des eigenen Unglaubens unter dem Mantel der reinen Machtausübung wird, so das Bild. Wer liest nicht bewegten Herzens Dostojewskijs Gleichnis vom Großinquisitor, eines der beeindruckendsten Stücke der Weltliteratur, das im Werk „Die Brüder Karamasow“ gerade von einem radikalen Skeptiker auf der Suche nach einer erlösenden Wahrheit erzählt wird? Der Großinquisitor – die Inkarnation der Macht, weit weg vom Volk, der nicht umhin kommt, um der Aufrechterhaltung eines Machtgefüges willen Christus selbst einem Prozess zu unterziehen. Spöttisch erklärt der greise Mann sein Ansinnen: die lästige Bürde der Freiheit, die der Gottessohn den Menschen auferlegt hatte, musste einer Lösung zugeführt werden: die Freiheit war niederzuringen, um den Menschen zu seinem wahren Glück zu führen: dem Erliegen gegenüber den Versuchungen, vor die Satan Christus in der Wüste gestellt hatte.

Bilder und Gleichnisse wie dieses bestimmen das allgemeine öffentliche Wissen, das zudem in der jüngsten Zeit sogar vom Papst selbst bestätigt worden zu sein scheint. Hatte nicht Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben „Tertio millennio adveniente“ (1994) zur Vorbereitung auf das Jubeljahr 2000 von einem „schmerzlichen Kapitel“ geschrieben, „auf das die Kinder der Kirche mit reuebereitem Herzen zurückkommen müssen“ und welches sich als die „besonders in manchen Jahrhunderten an den Tag gelegte Nachgiebigkeit angesichts von Methoden der Intoleranz oder sogar Gewalt im Dienst an der Wahrheit“ erweist? Dabei stellte der Papst fest, dass ein korrektes historisches Urteil nicht von einer sorgfältigen Berücksichtigung der kulturellen Bedingungen der jeweiligen Epoche absehen könne, unter deren Einfluss viele in gutem Glauben angenommen haben mögen, dass ein glaubwürdiges Zeugnis für die Wahrheit mit dem Ersticken der Meinung des anderen oder zumindest mit seiner Ausgrenzung einhergehen müsste. „Doch die Berücksichtigung der mildernden Umstände entbindet die Kirche nicht von der Pflicht, zutiefst die Schwachheit so vieler ihrer Söhne zu bedauern, die das Antlitz der Kirche dadurch entstellten, dass sie sie hinderten, das Abbild ihres gekreuzigten Herrn als eines unübertrefflichen Zeugen geduldiger Liebe und demütiger Sanftmut widerzuspiegeln.“ Wie ist es jetzt aber um dieses korrekte historische Urteil aus?

Zunächst ist festzuhalten, dass der Glaube für den mittelalterlichen Menschen kein persönliches „Optional“ war, das in den Kreis einer rein subjektiven Bedingtheit und Wirklichkeit gehörte. Die Zugehörigkeit zur Kirche war mit der Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft identifiziert. Umgekehrt bedeutet dies: Wendet sich jemand gegen das Dogma der Kirche, greift er gleichzeitig die Grundlagen des sozialen Zusammenlebens und der politischen Ordnung an. Die mittelalterliche Ordnung war die einer einen christlichen Gesellschaft, die innerhalb des Bereichs der aufeinander zugeordneten Brennpunkte der weltlichen Macht und der geistlichen Gewalt strukturiert war. Stellten somit einzelne oder Gruppen Wesenselemente des Glaubens in Frage, indem sie sie aus dem „depositum fidei“ aussonderten, das heißt „Häretiker“ waren, so schlossen sie sich damit ipso facto aus dem bürgerlichen Gemeinwesen aus. Der Angriff auf das Dogma war ein Angriff auf die weltliche Macht, auf den diese reagieren musste. „Häresie“ verließ einen persönlichen religiös bestimmten Phänomenbereich und wurde zum politischen Faktor.

Die mittelalterliche Inquisition (die von der auf Veranlassung von Königin Isabella von Castiglia und König Ferdinand von Aragon von Papst Sixtus V. 1478 geschaffenen „Spanischen Inquisition“ sowie von der von Paul III. 1542 eingerichteten „Kongregation der Heiligen Römischen und universalen Inquisition“ zu unterscheiden ist) geht auf das 13. Jahrhundert zurück. Sie stellt eine Antwort auf die häretischen Bewegungen der Waldenser, Albigenser und Katharer dar. Diese Bewegungen beschränkten sich nicht darauf, theologisch vom Dogma abweichende Inhalte zu verbreiten (was bis zu diesem Punkt allein mit den Mitteln geistlicher Disziplin kontrastiert wurde). Wie der Kirchengeschichtlicher Ignaz Döllinger 1861 erklärte: „Jene gnostischen Sekten (…), welche eigentlich die harte und unerbittliche Gesetzgebung des Mittelalters gegen die Häresie hervorriefen und in blutigen Kriegen bekämpft werden mussten, griffen Ehe, Familie und Eigentum an. Hätten sie gesiegt, ein allgemeiner Umsturz, ein Zurücksinken in die Barbarei und heidnische Zuchtlosigkeit wäre die Folge gewesen.“ Und er protestantische Historiker Henry Charles Lea (1825-1909) erkannte, dass die „Sache der Orthodoxie“ nichts anderes als die „Sache der Zivilisation und des Fortschrittes“ war. Die zivile Gewalt sah sich genötigt, gegen diese Gefahr vorzugehen. Die Kirche musste dafür sorgen, die Reaktion der Zivilbevölkerung zu bremsen, sowohl auf der Ebene des Gewissens als auch auf jener der Gerichte, wo die zivilen Autoritäten nur allzu schnell zum Tode verurteilten.

Die „Christianitas“ fühlte sich vom Katharismus und Waldensertum zutiefst bedroht. Diese Häresien bezweckten unter dem Deckmantel einer scheinbaren Strenge und Askese einen ideologischen Umsturz, dies durch die scharfe Ablehnung der materiellen Welt, das Verbot der Fortpflanzung und – extremer Höhepunkt des asketischen Verzichts – den rituellen Selbstmord. Die Häresie musste zwischen der weltlichen Macht des Kaisers und der geistlichen Oberhoheit des Papstes aufgerieben werden. Dazu kam dann das wachsende Machtbewusstsein des Stauferkaisers Friedrichs II. (1194-1250), der bereits 1213 Papst Innozenz III. seine Hilfe zugesagt hatte. Die mittelalterliche Inquisition wird damit zu einem System repressiver Maßnahmen geistlicher und weltlicher Natur zur gleichzeitigen Verteidigung der religiösen und bürgerlichen Ordnung.

Die Etappen der Entwicklung dieser neuen Organisationsform bestehen in der Dekretale „Ad abolendam“, die nach dem Konvent von Verona 1184 von Papst Lucius III. (1181-1185) promulgiert wurde und alle Bischöfe zur Visitation ihrer Diözesen auf er Suche („inquisitio“) nach Häretikern verpflichtet. Auch die bischöfliche Inquisition ist nach den Worten des Papstes auf ein Verlangen des Kaiser zurückzuführen. Friedrich Barbarossa erließ seinerseits eine eigene Konstitution, mit der er die Reichsacht über alle Häretiker aussprach. Zeit seines Lebens verfolgte der Kaiser die Ketzer und ordnete deren Verbrennung an: 1231 mit einer gesetzlichen Bestimmung in Sizilien, die ein Jahr später zum Reichsgesetz erhoben wurde.

Kirchliche Autoritäten hingegen zeigten sich nicht einfachhin mit der physischen Eliminierung von Ketzern einverstanden, und oft war es der Klerus, der sich dem flammenden Volkswillen und der Staatsraison widersetzte. Als ein Zeuge hierfür sei der heilige Bernhard von Clairveaux genannt. Als dieser 1144 in Köln bei einem Ketzerpogrom zusehen musste, wie das aufgebrachte Volk die Ketzer auf den Scheiterhaufen brachte, erklärte der Heilige: Es sei zwar der Eifer des Volkes zu billigen, „nicht aber, was es getan hat: denn der Glaube ist ein Werk der Überzeugung, er lässt sich nicht mit Gewalt aufdrängen“. Erst später kam es im Rahmen der entstehenden Kanonistik zu einer Forcierung der Reflexion über Art und Grenzen der Berechtigung der Todesstrafe für Ketzer, dies immer verbunden mit der Definition der Häresie als Majestätsverbrechen – „crimen laeseae majestatis“. Wenn schon das Verbrechen gegen die weltliche Majestät mit dem Tode geahndet wird, so schloss man, um wie viel schwerwiegender musste es dann angesehen werden, die göttliche Majestät zu beleidigen.

Papst Innozenz III. (1198-1216) richtete dann die Inquisition durch entsandte Legaten ein und beauftragte den Zisterzienserorden damit, in den von den häretischen Umtrieben am meisten betroffenen Ländern zu predigen und sich öffentlich mit den ketzerischen Thesen auseinanderzusetzen. Gregor IX. (1227-1247) führte mit dem Dekret „Excommunicamus“ die ersten ständigen Inquisitoren ein, die vornehmlich aus dem Orden der Franziskaner und Dominikaner stammten. Der Papst hatte sich davon überzeugt, dass die Bischöfe die Ketzerdekrete des Konvents von Verona nicht umsetzten, insofern sie mit ihrer Heimat und dem dortigen sozialen Umfeld eng verbunden waren. Dies ließ eine unabhängige Institution angemessen erscheinen. Obliegenheit des Inquisitors war es, als außerordentlicher Richter mit spezifischer Kompetenz neben dem ordentlichen Richter, das heißt dem Bischof, zu wirken. Es war nicht Aufgabe des Inquisitors, bereits angeklagte Häretiker zu verhören oder zu verurteilen, sondern nach Formen der Ketzerei zu forschen, den Einzelnen aufzuspüren und ihm den Weg der Umkehr zu ermöglichen. Dabei unterlag der Inquisitor strengen Vorschriften, deren Nichtbeachtung scharfe Strafe nach sich zog.

Zu den strengen Regeln der Inquisition gehörte, dass die Verfahren in allen ihren Teilen schriftlich festgehalten werden mussten. Somit ist die Inquisition eine der ersten Organisationen der Vergangenheit, deren schriftliche und konstante Dokumentation eine Geschichtsverfälschung unmöglich macht. Die Historiker, die sich mit den Akten auseinandersetzen, finden ein Gericht vor, das durch gerechte Regeln und nicht von Willkür bestimmten Verfahrensformen charakterisiert ist. Zudem zeichnen sich viele Inquisitoren durch ihre hohe intellektuelle Begabung aus, was auch dazu führen konnte, dass sie dem zu untersuchenden Subjekt mit größerer Härte begegneten, da sie es für intelligenter oder „verschlagener“ hielten, als es dies wirklich war oder sein konnte. Ein weiteres Problem ergab sich aus oft zu schematisch angelegten Verhörprotokollen und der mit diesen verbundenen Rigidität.

Im Laufe der Zeit kam es zur Abfassung verschiedener Handbücher. Eines der bekanntesten ist das „Directorium inquisitorum“ des Dominikanerpaters Nicholas Eymerich (1376), eine Gestalt, die in Italien aufgrund einer Romanreihe des zeitgenössischen Autors Valerio Evangelisti wieder Interesse erweckt hat. Insgesamt betrachtet war die Aufgabe des Inquisitors pastoraler Natur, insofern er nicht selten versuchte, die Härte der weltlichen Gerichte zu mildern, und ungerechtfertigte Anzeigen und Verleumdungen entmutigte. Dabei ist aber auch der große Mangel der Inquisitionsgerichte nach allgemeinem Rechtsverständnis festzuhalten, insofern dem Beschuldigten keine Verteidigungsmöglichkeit zugestanden war.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es einer ideologisch motivierten Verfälschung entspricht, die Inquisition als Ausdruck von dogmatisch orientierten Extremisten zu sehen, die unter der Vorgabe der Rechtgläubigkeit nichts anderes getan hätten, als willkürlich und verbunden mit einer gewissen sadistischen Ader eine „Meinungsfreiheit“ zu unterdrücken. Die Analyse der historischen Umstände lässt eine derartige Schlussfolgerung im Raum der historischen Unwahrheit versinken. Um zu einem wahren Verständnis der mittelalterlichen Inquisition vorzudringen, darf nicht vergessen werden, dass Häresie und das „crimen laeseae maiestatis“ rechtlich gleichgestellt waren.

Um eine (auch unter absoluten Gesichtspunkten kritikwürdiges) Phänomen wie die Inquisition zu verstehen, darf die theozentrische Gestaltung des mittelalterlichen Weltbildes nicht außen vor gelassen werden, innerhalb dessen Gott und das ihn dem Menschen vermittelnde Dogma nicht auf die Verwirklichung des Glückes des Individuums ausgerichtet waren. Gott vielmehr ist der absolute Wert, der sich innerhalb einer universalen und vom Naturrecht strukturierten Ordnung kund tut. Eine Beleidigung dieser Ordnung war für den Menschen des Mittelalters nichts anderes als Blasphemie – das höchste Verbrechen. Denn: nicht nur Gott wird beleidigt, sondern auch die eigentliche Heimat des Menschen im Jenseits unter dem Joch der Irrlehre verdunkelt: der Mensch wird seiner eigentlichen Zukunft beraubt.

Nachdem die mittelalterliche Inquisition die Aufgabe erfüllt hatte, die Häresien zu zerstören, kommt es zu ihrem langsamen Niedergang. Sie wird immer mehr der weltlichen Macht unterstellt und verschwindet von allein.

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