Ratzinger exklusiv: 'Ich muss einfach weitermachen'

8. September 2003 in Hot


Kardinal Joseph Ratzinger im EWTN-Interview über den neuen Frühling in der Kirche, die Liturgiereform, sein Amt in der Glaubenskongration und die US-Kirche in der Krise. Das Interview im Wortlaut!


Rom (www.kath.net / ewtn)
EWTN: Eminenz, zunächst möchte ich Ihnen danken, daß wir dieses Gespräch führen können. Es ist eine große Ehre, hier bei Ihnen zu sein. In Ihrem Buch "Gott und die Welt" sprechen Sie von der Krise des Glaubens. Und wer sollte den Zustand der Kirche besser kennen als Sie. Sie erhalten jeden Tag Berichte. Wo steht die Glaubenskrise heute? Ist Besserung in Sicht?

Ratzinger: Ja, in gewissem Sinne können wir eine Besserung feststellen. Es gibt aber auch andere Entwicklungen. Im allgemeinen sehen wir einen wachsenden Relativismus, jedenfalls in der westlichen Welt: die Idee, dass alles gleich gültig sei, dass wir keine klaren Erkenntnisse über Gott haben und daher alle Glaubensrichtungen gleich nebeneinander stehen und so weiter. Das ist mein allgemeiner Eindruck von der heutigen Welt. Dies ist für uns als Christen eine Versuchung. Andererseits gibt es in vielen Menschen eine wirkliche Sehnsucht, eine konkrete Beziehung zu Christus zu haben, eine konkrete Verbindung mit der Gegenwart unseres Herrn. So würde ich sagen, daß sich bei der Jugend der Kirche die Lage schon verbessert hat, weil sie nicht einfach tut, was alle tun. Sie sind wirklich in Kontakt mit dem Herrn und teilen den Glauben der Kirche. Daher würde ich sagen, daß sich zwar die allgemeine Situation der westlichen Welt in Bezug auf den Glauben nicht gebessert hat. Aber in der Kirche, bei der Jugend der Kirche können wir einen Neubeginn sehen.

EWTN: Also Zeichen der Hoffnung?

Ratzinger: Ja.

EWTN: Lassen Sie uns für einen Moment über das II. Vatikanische Konzil reden und insbesondere über die Umsetzung des Konzils. Sie haben so viel darüber geschrieben und gesprochen. Für die Menschen meiner Generation ist vermutlich die Liturgie, insbesondere die Heilige Messe, dasjenige, was sich am deutlichsten vom Glauben der Generation unserer Eltern und Großeltern unterscheidet. Sie haben über die Reform der Reform gesprochen, also davon, die Reform zu reformieren. Sehen Sie, auf welche Weise das geschehen kann? Wie soll das künftig konkret Gestalt annehmen?

Ratzinger: Im allgemeinen, würde ich sagen, ist die Liturgiereform nicht angemessen umgesetzt worden. Sie war eine allgemeine Idee. Jetzt ist die Liturgie eine Sache der Gemeinschaft geworden. Die Gemeinde stellt sich selbst dar. Und das tun auch die die Priester beziehungsweise die Gruppen. Sie gestalten ihre eigene Liturgie. Es handelt sich mehr um die Gegenwart der eigenen Erfahrungen und Ideen als um die Begegnung mit der Gegenwart des Herrn in der Kirche. Und mit dieser Kreativität und Selbstdarstellung der jeweiligen Gemeinschaft verschwindet das Wesen der Liturgie. Denn im Wesen der Liturgie geht es darum, daß wir unsere eigenen Erfahrungen übersteigen, um zu empfangen, was nicht aus unserer Erfahrung stammt, sondern ein Geschenk Gottes ist. Daher müssen wir meines Erachtens nicht so sehr bestimmte Zeremonien wieder einführen, als vielmehr die grundlegende Idee der Liturgie wiederbeleben – damit wir verstehen, daß wir in der Liturgie nicht uns selbst darstellen, sondern die Gnade der Gegenwart des Herrn empfangen in Gemeinschaft mit der Kirche des Himmels und der Erde. Die Universalität der Liturgie gehört meines Erachtens wesentlich zur Definition der Liturgie dazu und stellt diesen Grundgedanken der Liturgie wieder her. Es würde auch helfen, die Normen besser zu befolgen, nicht im Sinne eines Rechtspositivismus, sondern damit wir wirklich das teilen und an dem teilhaben, was uns vom Herrn in der Kirche geschenkt worden ist.

EWTN: Wie sehen Sie den Sinn des Opfers und der Anbetung, über die Sie so eloquent gesprochen haben, konkret wieder hergestellt? Werden wir eine Rückkehr zur Ausrichtung ad orientum erleben, wo der Priester während des Hochgebets seinen Blick vom Volk weg nach Osten richtet? Werden wir eine Rückkehr zum Latein erleben, zu mehr Latein in der heiligen Messe?

Ratzinger: Versus orientem, die Ausrichtung nach Osten, könnte eine Hilfe sein. Denn sie ist in der Tat eine Tradition aus Apostolischer Zeit, und nicht nur eine Norm. Sie ist auch Ausdruck der kosmischen und historischen Dimension der Liturgie. Wir feiern mit dem Kosmos, mit der Welt. Wir richten uns aus auf die Zukunft der Welt und unserer Geschichte, die sich in der Sonne und den kosmischen Realitäten widerspiegelt. Ich denke, daß heute die Wiederentdeckung unseres Verhältnisses zur gesamten Schöpfung von den Menschen besser verstanden wird als vielleicht vor 20 Jahren. Zudem bedeutet die Orientierung gen Osten eine gemeinsame Ausrichtung des Priesteres und des Volkes auf den Herrn. Von daher denke ich, daß dies hilfreich sein könnte. Äußere Gesten allein sind niemals das Heilmittel. Aber sie können eine Hilfe sein. Schließlich ist dieses äußere Zeichen eine klassische Interpretation der Ausrichtung der Liturgie. Im Allgemeinen war es gut, die Liturgie in die gesprochenen Sprachen zu übersetzen, weil wir sie verstehen und so auch mit unserem Denken an der Liturgie teilhaben können. Aber eine stärkere Präsenz lateinischer Elemente ist hilfreich, um die universale Dimension zu unterstreichen und allen Teilen der Welt die Möglichkeit zu gewähren, das zu erkennen: Ich bin in ein und derselben Kirche. Im Allgemeinen ist die Volkssprache…

EWTN: ...eine gute Sache…

Ratzinger: …eine Lösung. Aber eine gewisse Präsenz des Lateinischen dient der Erfahrung der Universalität.

EWTN: Ich weiß, daß Sie an einem neuen liturgischen Gesetzeswerk arbeiten, das der Papst in seiner Enzyklika über die Eucharistie vorgezeichnet hat. Wir hören vieles von Kardinal Arinze und entnehmen aus einigen Publikationen, daß diese Arbeit ein Vorläufer für ein universelles Indult der Tridentinischen Messe sei. Ist das überhaupt vorgesehen?

Ratzinger: Ich würde unterscheiden zwischen dem künftigen Dokument und der Frage der Indulte. Das künftige Dokument ist keine neue Gesetzgebung, sondern eine Interpretation der bestehenden Normen. Wir haben also nur zu erläutern und zu klären, was Mißbrauch und was richtige Anwendung der liturgischen Vorschriften ist. In diesem Sinne sind die Möglichkeiten des Dokuments sehr begrenzt. Es geht zum gegenwärtigen Zeitpunkt um die Klärung von Mißbräuchen und Normen. Die Frage des Indults ist ein anderes Problem. Ich denke, allgemein gesprochen, war die alte Liturgie niemals verboten. Wir brauchen nur Regeln, wie wir friedfertig von ihr Gebrauch machen. Sie ist eine reformierte normale Liturgie der Gemeinschaft der Kirche. Aber es ist immer auch eine Frage der Zugänglichkeit ihres Gebrauchs in der Kirche, und zwar im Gehorsam gegenüber den Bischöfen und dem Heiligen Vater.

EWTN: ... und das ist, wie ich weiß, für einige Teile der Kirche eine große Herausforderung. Andere Teile der Kirche haben den Aufruf des Papstes zu einer häufigeren Praxis der alten Messe sehr begrüßt.

Ratzinger: Ja, ich denke, daß es wichtig ist, für diese Möglichkeit offen zu sein und die Kontinuität der Kirche deutlich zu machen. Wir sind heute keine andere Kirche als diejenige vor 500 Jahren. Es ist immer dieselbe Kirche. Was der Kirche zu einer bestimmten Zeit heilig war, ist der Kirche immer heilig und kann daher zu einem anderen Zeitpunkt nicht plötzlich ein Ding der Unmöglichkeit sein.

EWTN: Einige behaupten, daß es heute de facto ein Schisma in der Kirche gibt. Denn viele, die sich selbst Katholiken nennen und in die Katholische Kirche hineingeboren und hineingetauft wurden, glauben einfach nicht mehr, noch leben sie aus der Fülle des Glaubens. Wie wollen wir diese zurückführen? Wie können wir sie in der heutigen kulturellen Wirklichkeit noch erreichen?

Ratzinger: Das ist eine ständige seelsorgliche Herausforderung, dafür Sorge zu tragen, daß alle Menschen wirklich den authentischen Glauben der Kirche teilen. Daß der Glaube vieler Menschen unvollständig und ungenügend ist, ist kein neues Problem. Klar ist, daß mit all dem …. …

EWTN: Relativismus?

Ratzinger: …Relativismus das Problem heute virulenter ist als früher. Die Anforderungen an die Glaubensunterweisung und die Evangelisierung ist viel schwieriger geworden als zu anderen Zeiten. Das Wichtigste für die Vorbereitung und Erziehung im Glauben ist eine gute Katechese, in der der authentische Glaube der Kirche wirklich gelehrt wird. Der Katechismus der katholischen Kirche ist eine große Hilfe für die gesamte Welt. Er erläutert, was der Glaube der Kirche ist und was nicht. Und das neue Kompendium, das in Vorbereitung ist, wird eine weitere Stütze sein, um den großen Katechismus besser für die praktische Glaubensunterweisung zu nutzen. Das also ist der erste Punkt: in der Glaubenserziehung die gemeinsame Grundlage legen. Ein weiterer wichtiger Punkt in der Glaubensvorbereitung sind die Predigten. Durch sie können die Gläubigen Jahr für Jahr lernen, was der Glaube in seiner Fülle beinhaltet, so daß sie nicht nur einige Ideen oder immer nur dieselben Gedanken mitnehmen. Ich halte es für eine echte Gefahr, wenn Priester und auch Bischöfe im wesentlichen nur ihre bevorzugten Aspekte und nicht die Fülle des Glaubens in ihren Predigten verkündigen. Auch hier ist eine Erneuerung in der Vorbereitung des Glaubens sehr wichtig. Die Liturgie ist lebendige Katechese. Ich denke, daß sehr viel von einer authentischen Liturgie abhängt, die nicht nur wie gesagt die Ideen und die Erfahrungen der jeweiligen Gemeinschaft zum Ausdruck bringt, sondern den Glauben der Kirche vergegenwärtigt. In der Liturgie kann man erfahren, daß das Opfer Christi gegenwärtig ist, daß der Dreieinige Gott sich mit uns verbindet und wir mit Ihm und vieles mehr. Die Liturgie ist sehr wichtig. Und ebenso die Vertiefung des Gebets in der Kirche. Der Weg, Gott kennenzulernen, geht über das Gebet. Eine Schule des Betens ist von großer Bedeutung. Durch eine konkrete Gebetsbeziehung lernen wir über Gott und über die Kirche. Daher sind Gebetbücher wichtig, die die Tiefe unseres Glaubens widerspiegeln. Darüber hinaus geben die Werke der christlichen Nächstenliebe unserem Glauben die Konkretheit. Denn der Glaube ist nicht nur eine Idee, nicht nur eine Theorie, sondern lebendige Wirklichkeit.

EWTN: Und diese Erfahrung - wir sprachen vor hin über die heilige Messe -..

Ratzinger: Ja.

EWTN: …in der Heiligen Messe ist diese Erfahrung einer echten Beziehung zwischen Gott und Mensch besonders mächtig, wenn beide, Gott und Mensch, miteinander in Aktion treten. Reden Sie ein wenig über den neuen Frühling. Der Papst hat viel vom neuen Frühling gesprochen, und Sie selbst haben Ihre eigenen Ideen entfaltet. Ihre Vision unterscheidet sich von der einiger anderer. Einige sehen steigende Zahlen und daß jeder glaubt und Hand in Hand in das neue Jahrtausend tanzt. Sie sehen ein anderes Bild vor sich. Erzählen Sie uns von Ihrem Bild. Wie sehen Sie das Aufblühen des Frühlings?

Ratzinger: Ich schließe nicht aus, daß Menschen Hand in Hand tanzen. Aber das ist nur ein Moment. Meine Vorstellung vom Frühling der Kirche meint nicht, daß wir binnen Jahresfrist einen Ansturm an Konversionen erleben, daß alle Menschen auf der Welt sich zum katholischen Glauben bekehren. Das ist nicht die Art und Weise, wie Gott handelt. Die entscheidenden Dinge der Geschichte beginnen immer mit den kleinen, überzeugten Gemeinschaften. Die Kirche beginnt mit den zwölf Aposteln. Und auch die Kirche des hl. Paulus verbreitete sich im Mittelmeerraum in kleinen Gemeinden. Aber diese Gemeinden waren die Zukunft der Welt, weil sie die Wahrheit und die Kraft der Überzeugung besaßen. Auch heute ist es meines Erachtens ein Irrtum, zu meinen, daß jetzt oder in 10 Jahren mit dem neuen Frühling alle Menschen Katholiken werden. Das ist weder unsere Zukunft noch unsere Erfahrung. Aber wir werden wirklich überzeugte Gemeinschaften mit Glaubensélan haben. Das ist der Frühling: ein neues Leben in sehr überzeugten Personen mit Freude am Glauben.

EWTN: Aber, kleiner an Zahl?

Ratzinger: Ja, ich glaube, kleiner an Zahl. Aber von diesen kleinen Zahlen wird Freude in die Welt ausstrahlen. Und so entwickeln sie eine Anziehungskraft, wie es sie in der frühen Kirche gab. Sogar als Kaiser Konstantin das Christentum zur öffentlichen Religion erhob, war die Zahl der Gläubigen gering. Aber es war klar, daß sie die Zukunft waren. So können wir uns über die Zukunft freuen. Wenn junge Menschen mit echter Freude am Glauben diese Freude am Glauben ausstrahlen, dann wird das der Welt zeigen: “Auch wenn es mir im Moment nicht gelingt, den Glauben mitzuteilen und zur Umkehr zu bewegen, hier ist der Weg zum Leben für Morgen.”

EWTN: Sehen Sie in den verschiedenen Bewegungen der Kirche einen Teil dieser Umkehr, die wir zur Zeit feststellen können? Besteht nicht die Gefahr, daß wir, wenn Sie so wollen, innerhalb der Kirche in einen Wettbewerb der Gruppierungen hineingeraten, an dem wir teilnehmen müssen, wenn wir ernsthafte Christen sein wollen?

Ratzinger: Ja, auf der einen Seite bin ich wirklich ein Freund dieser Bewegungen – Communione e Liberazione, Focolare, Charismatische Erneuerung. Ich halte sie für ein Zeichen des Frühlings und der Gegenwart des Heiligen Geistes, der uns heute neue Charismen schenken will. Für mich bedeuten sie eine große Hoffnung, weil sie nicht von irgendwelchen Verantwortlichen in Organisationen gegründet worden sind, sondern wirklich die Kraft des Heiligen Geistes in diesen Menschen sichtbar wird. Wir haben Bewegungen und Neuanfänge des Glaubens, neue Formen des Glaubens. Ich halte es andererseits für wichtig, daß diese Bewegungen sich nicht in sich selbst verschließen und verabsolutiert werden. Vielmehr müssen sie verstehen, daß sie, auch wenn sie von ihrem jeweiligen Weg überzeugt sind, akzeptieren müssen, daß wir alle auf einem und nicht auf ihrem Weg sind. Wir müssen offen für die anderen sein, in Gemeinschaft mit den anderen, und wir müssen vor allem wirklich in der Kirche sein und im Gehorsam gegenüber der einen Kirche mit den Bischöfen und dem Papst leben. Nur in dieser Offenheit, seine eigenen Ideen nicht absolut zu setzen und sich in den Dienst der gemeinsamen Kirche, der Weltkirche, zu stellen, kann ein wirklicher Weg für die Zukunft liegen.

EWTN: Eminenz, ich möchte Ihnen eine paar persönliche Fragen stellen, wenn Sie mir gestatten? Sie haben jüngst in Ihrem Buch Gott und die Welt über Ihre Position als Präfekt der Glaubenskongregation geschrieben und auch gesagt: „Das ist meine unbequemste Position gewesen“. Was meinen Sie damit?

Ratzinger: Ja, sie ist in verschiedener Hinsicht unbequem. Wir haben es wesentlich und oft mit allen Problemen der Kirche zu tun: Probleme des Relativismus und der Häresie, mit inakzeptablen theologischen Theorien, mit schwierigen Theologen, auch mit disziplinarischen Fällen, auch mit dem Problem der Pädophilie. Im Grunde mit allen Problemen. Wir haben in dieser Kongregation wirklich mit den schwierigsten Aspekten des Lebens der heutigen Kirche zu tun. So wird uns unverholen der Vorwurf gemacht, Inquisition zu betreiben, was Sie besser wissen als ich...

EWTN: …sicher…

Ratzinger: …Das ist die eine Seite der Medallie. Auf der anderen Seite gilt, was ich auch in dem Buch sage: Jeden Tag erlebe ich, daß Menschen dankbar sind und mir sagen: “Ja, die Kirche hat eine Identität und Kontinuität. Das macht ihre wirkliche Präsenz auch heute noch möglich.” Und wenn ich über den Petersplatz gehe, kann ich jeden Tag Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt sehen, die mich kennen und sagen: „Vielen Dank, Vater. Wir sind dankbar, daß Sie diesen schwierigen Job machen. Sie helfen uns damit.“ Sogar viele protestantische Freunde sagen zu mir: „Was Sie tun, hilft dem Glauben. Denn Sie verteidigen auch unseren Glauben und die Präsenz des Glaubens an Christus. Wir brauchen so eine Instanz wie die Ihre, auch wenn wir nicht alles teilen, was Sie sagen. Aber es ist auch für uns von Wert, zu sehen, daß der Glaube auf diese Weise beständig verteidigt wird. Das ermutigt uns, im Glauben treu zu sein und den Glauben zu leben.“ In diesen Tagen sagte eine Delegation orthodoxer Christen zu mir: „Was Sie tun, ist auch für unseren Glauben gut.“ So haben wir auch eine Ökumenische Aufgabe, die oft nicht .....

EWTN: ...in ihrem Wert erkannt wird?

Ratzinger: Ja, genau das.

EWTN: Eminenz, die andere Sache, die ich – und das ist eine ganz persönliches Einschätzung– aufgrund meiner Arbeit als Nachrichtenmann erlebe, ist folgende. Ich komme viel in der Welt herum und spreche mit sehr vielen Menschen. Ich bin sicher, daß sich dies nicht annähernd vergleichen läßt mit den zahlreichen Menschen und Gruppen, mit denen Sie sprechen, und mit den Dingen, die Ihnen begegnen. Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß die jüngste Zeit eine Versuchung für meinen Glauben war und, wie ich weiß, auch für einige meiner Kollegen. Wie gehen Sie mit Dingen um, die, da bin ich sicher, bisweilen Anlaß zur Verzweiflung geben können, wenn ich an die Fälle denke, die Sie zu untersuchen haben, und an die Personen, denen Sie zum Teil begegnen?

Ratzinger: Ja, ich denke wir müssen uns an das erinnern, was unser Herr zu uns gesagt hat – lassen Sie mich auf italienisch antworten: Auf dem Acker der Kirche wird es nicht nur Weizen, sondern auch Unkraut geben. Auf dem Meer zieht man nicht nur Fische aus dem Wasser, sondern auch Unrat, Dinge, die nicht akzeptabel sind. Der Herr kündigt uns also schon eine Gemeinschaft, eine Kirche, an, in der Skandale und sündige Menschen sehr präsent sein werden. Halten wir uns nur vor Augen, daß der heilige Petrus, der Anführer der Apostel, ein großer Sünder war. Der Herr hat gerade diesen Sünder, Petrus, ausgewählt, um ihn zum Felsen Seiner Kirche zu machen. Damit hat Er uns schon angedeutet, dass wir nicht erwarten dürfen, dass alle Päpste große Heilige sind. Vielmehr müssen wir auch damit rechnen, dass sie sündige Menschen sind. Der Herr sagt uns also schon voraus, dass auf dem Acker der Kirche immer viel Unkraut wachsen wird. In diesem Sinne sollte uns das nicht verwundern, wenn man die gesamte Geschichte der Kirche betrachtet. Es gab Zeiten, die mindestens so schwierig waren wie die unsrigen, was die Skandale betrifft. Denken wir an das 9. und 10. Jahrhundert oder an die Zeit der Renaissance. Daher können wir mit Blick auf die Worte des Herrn und auf die Geschichte der Kirche die heutigen Skandale im Kontext sehen. Wir leiden darunter und wir müssen auch darunter leiden vor allem deshalb, weil diese Skandale so vielen Menschen Leid gebracht haben. Denken wir vor allem an die Opfer. Wir müssen alles tun, um in Zukunft solche schrecklichen Dinge zu vermeiden, um sie, so weit wir dies können, für die Zukunft auszuschließen. Wir wissen andererseits aber auch, dass sich der Herr - und Er ist das Vorbild für die Kirche – mit den Sündern an einen Tisch gesetzt hat. Also, wenn das die Definition der Kirche ist, dass sich der Herr an den Tisch der Sünder setzt, dann dürfen wir uns nicht darüber wundern, daß es so ist. Wir dürfen über diese Dinge nicht verzweifeln. Im Gegenteil, der Herr hat gesagt: Nicht wegen der Gerechten, sondern wegen der Sünder bin ich gekommen. Und seien wir sicher, daß der Herr auch heute die Sünder wirklich aufsucht, um sie zu retten. Und er lädt uns ein, Ihm dabei zu helfen.

EWTN: Sie waren, wie ich weiß, eng betraut mit der andauernden Krise der Kirche in den Vereinigten Staaten. Sie sind um Klärung und Heilung bezüglich des schrecklichen sexuellen Mißbrauchs in den Vereinigten Staaten bemüht. Meine Frage lautet: Worin sehen Sie die Wurzeln dieser Krise, die wir nach wie vor in den Vereinigten Staaten durchleben?

Ratzinger: Ich möchte zwei verschiedene Aspekte unterscheiden: einen allgemeinen Aspekt und einen spezifischen Aspekt dieses konkreten Skandals unserer Tage. Der allgemeine Aspekt betrifft die Schwachheit unserer menschlichen Natur, auch von Priestern. Diese Schwachheit wird nie zu beseitigen sein. Von daher wird es immer Versuchungen für den Menschen, auch für Priester geben. Das müssen wir als Faktum hinnehmen. Wir müssen wissen, daß auch in der Gemeinschaft von Priestern und Bischöfen diese Dinge vorkommen können. Der zweite Aspekt ist spezifischer: Warum geschieht dies zur Zeit so oft und häufiger als früher? Ich glaube, daß der wesentliche Grund ein schwacher Glaube ist. Denn nur, wenn ich in einem wirklich persönlichen Vetrauensverhältnis mit dem Herrn stehe, wenn der Herr für mich nicht eine bloße Idee ist, sondern die Person, mit der ich am tiefsten befreundet bin, wenn ich den Herrn persönlich kenne und ich jeden Tag in enger liebender Verbindung mit Ihm und in Ihm lebe, wenn für mich der Glaube eine Realität ist, der Grund meines Lebens, die sicherste aller Wirklichkeiten, und nicht eine bloße Möglichkeit, dann wird der Herr, wenn ich wirklich überzeugt bin und in einer innigen liebenden Beziehung mit dem Herrn lebe, mir in diesen Versuchungen helfen. Dann kann ich auch das überwinden, was mir selbst zu überwinden unmöglich scheint. Wenn der Glaube nicht jeden Tag gelebt wird, wenn der Glaube geschwächt ist und beginnt, nur noch eine Hypothese zu sein, dann ist er kein Fundament unseres Lebens mehr. Dann beginnen die Probleme. Also für mich ist der entscheidende Punkt die Glaubensschwäche und eine mangelnde Präsenz des Glaubens in der Kirche. Ich denke, das war ein Problem der letzten 40, 50 Jahre. Die Grundüberzeugung war: Wir haben gemeinsame Vorstellungen, die wir mit der ganzen Welt teilen. Daß der Glaube zugleich ein sehr persönliches und universales Geschenk des Herrn ist, war nicht so präsent. Also der erste Punkt ist, daß wir neu lernen und zu einem vertieften Glauben zurückkehren müssen – ebenso zu einer vertieften Glaubenserziehung. Ich glaube auch, daß in den letzten 40, 50 Jahren die Gültigkeit der Morallehre der Kirche nicht so klar war. Wir hatten so viele Lehrer in der Kirche, die anderes gelehrt haben und sagten: „Nein, dieses ist keine Sünde und jenes ist keine Sünde. Das ist allgemeine Praxis und was der Durchschnitt tut, ist auch erlaubt.“ Mit einer solchen Auffassung haben wir keine klare Morallehre. Wenn wir nur von den gewöhnlichen Handlungen der Menschen lernen, so finden auch wir in uns in gewöhnlichen Handlungen wieder und ... …

EWTN: Geben uns der Welt Preis?

Ratzinger: Ja, so ist es. Deshalb halte ich zwei Dinge für ganz wesentlich: die Umkehr hin zu einem soliden und tiefen Glauben, der eng verbunden ist mit dem Leben Christi und mit den Sakramenten, und eine klare Morallehre und Überzeugung bezüglich dieser Lehren der Kirche. Bitten wir den Heiligen Geist darum. Er kann uns diesen Weg schenken.

EWTN: Was würden Sie den Gläubigen sagen, die in den USA zur Zeit sehr verunsichert sind und nicht wissen, an wen sie sich halten sollen? Was würden Sie Ihnen sagen?

Ratzinger: Vor allem, daß sie sich an den Herrn wenden sollen. Er ist immer für uns da und in unserer Nähe. Sie sollen auch auf die Heiligen schauen, ganz gleich wann sie gelebt haben. Man findet auch in unserer Zeit Heilige. Es gibt unter uns demütige und gläubige Menschen, vielleicht nicht so sichtbar, weil sie nicht im Fernsehen erscheinen. Aber es gibt auch heute demütige, betende Menschen. Sie sind die Zuversicht der Kirche und aller Menschen. Sucht diese Menschen auf! Trotz aller heutigen Probleme ist die Kirche nicht von der Bildfläche verschwunden, sondern lebt fort, gerade in den Personen, die nicht so sehr in Erscheinung treten. Also, ich denke, das ist wesentlich: den Herrn aufsuchen, die Heiligen gleich welcher Zeit wiederentdecken, aber auch die einfachen Menschen ausfindig machen, die nicht heilig gesprochen sind, aber wirklich im Herzen der Kirche leben.

EWTN: Eminenz, in den Vereinigten Staaten hat die Bischofskonferenz zum großen Teil das Heft in die Hand genommen, um die Krise zu heilen und zu beenden. Glauben Sie, daß die Bischofskonferenz zum gegenwärtigen Zeitpunkt die richtige Instanz dafür ist, da unter den Gläubigen ein großer Vertrauensmangel gegenüber ihren Bischöfen zu verzeichnen ist?

Ratzinger: Das ist eine schwierige Frage, wie Sie wissen.

EWTN: Deshalb stelle ich sie.

Ratzinger: Erstens ist eine Koordination der Bischöfe untereinander sicherlich notwendig. Die Vereinigten Staaten sind ein großes Land, und es kann nicht angehen, daß der eine Bischof andere disziplinarische Regeln hat als der andere. Eine Abstimmung untereinander ist also absolut unerläßlich. In diesem Sinne ist eine Einigung unter den Bischöfen auf eine gemeinsame Norm wichtig, um eine einheitliche Regelung in den verschiedenen Diözesen sicherzustellen. Klar ist auch, daß die persönliche Verantwortung des einzelnen Bischofs für die Kirche von fundamentaler Bedeutung ist. Von daher kann die Anonymität der Bischofskonferenz auch eine Gefahr für die Kirche darstellen. Denn niemand ist unmittelbar persönlich verantwortlich. Es ist immer eine Konferenz, und man weiß nicht, wo oder wer die Konferenz eigentlich ist. So gesehen ist eine angemessene Beziehung zwischen diesen beiden Realitäten notwendig: Auf der einen Seite die Kooperation und die Kollegialität sowie die Gleichheit des Rechts und der Normen. Auf der anderen Seite die persönliche Verantwortung des Bischofs, den ich kenne und der sagt: “Das ist jetzt meine Aufgabe, ich bin verantwortlich dafür.” Er nimmt die Verantwortung in seine Hände in schönen, aber auch in schwierigen Angelegenheiten.

EWTN: Ja, es ist schwierig für die Kinder der Kirche, einen Vater zu umarmen, wenn sie nicht wissen wer er ist.

Ratzinger: Das ist klar. Es gehört zum Bild eines Bischofs, daß er mutig und präsent ist.

EWTN: Das ist sehr wichtig. In Gott und die Welt reflektieren Sie ein wenig über Dominus Jesus, ein Dokument, das im Jahr 2000 veröffentlicht wurde. Das Dokument wurde kontrovers aufgenommen, weil Sie darin gesagt haben: Gott habe seinen Bund mit dem Volk Israel nicht aufgekündigt, vielmehr sei Jesus der Messias für alle geworden, und deshalb sei eine Bekehrung immer noch nötig oder sollte eine Möglichkeit sein. Wie vereinbaren Sie diese beiden Ideen?

Ratzinger: Vielleicht ist es uns nicht möglich, sie zu vesöhnen, aber wir können es Gott überlassen. Denn zwei Dinge sind in der Heiligen Schrift sehr klar. Im Brief des Apostels Paulus an die Römer heißt es deutlich: Die Treue Gottes ist absolut klar. Er steht treu zu Seinen Versprechen. Daher ist einerseits das Volk Abrahams immer Gottes Volk. Und es heißt dort ebenso klar: Ganz Israel wird gerettet werden. Aber ebenso eindeutig ist, daß Jesus der Retter ist, nicht nur für die anderen Völker. Er ist Jude und Er ist der Retter, vor allem Seines Volkes.” Der hl. Bernhard von Clairvaux sagte: Gott hat sich selbst die Rettung Israels vorbehalten. Er wird es persönlich tun. So müssen wir es Gott selbst überlassen in der Überzeugung und in dem Wissen, daß Christus der Retter aller ist, der retter Seines Volkes und aller Menschen. Aber wie Er es tun wird, liegt in Gottes Hand.

EWTN: Aber ist die Kirche dafür verantwortlich, das Evangelium, die Botschaft zugänglich zu machen?

Ratzinger: Ja. Es ist absolut notwendig, das Evangelium allen Menschen zugänglich und auch für das jüdische Volk verständlich zu machen. Ich weiß nicht, ob Sie das neue Buch von Kardinal Lustiger gelesen haben. Sein Titel lautet: „Das Versprechen“. Er beschreibt dort auf sehr berührende Weise seine eigenen Erfahrungen. Er zeigt, wie wir verstehen können, auf welche Weise das Alte Testament von Christus spricht und wie wir Christus in den heiligen Büchern des Volkes Israel selbst zugänglich machen können, in denen Christus selbst heute noch spricht. Es gehört zur Pflicht der Kirche zugänglich und verständlich zu machen, daß Er der Retter ist, auch Seines eigenen Volkes.

EWTN: Ich möchte in diesem Zusammenhang für unsere Zuschauer erwähnen, daß Kardinal Lustiger Erzbischof von Paris ist und vom jüdischen Glauben zum Christentum konvertiert ist. Lassen Sie uns einen Augenblick über ein anderes Thema sprechen. Sie haben oft die Natur der Sexualität dsikutiert und darüber gesprochen, daß sie ihren eigentlichen Ort in der Ehe habe. Das ist eine heute sehr umstrittene Auffassung und Lehre. Wie kann die Kirche diese Botschaft in die heutige Kultur einbringen, wo die Homo-Ehe legalisiert wird und die In-vitro-Fertilisation sowie andere reproduktive Techniken außerhalb des ehelichen Aktes an der Tagesordnung sind?

Ratzinger: Sie erwarten doch nicht, daß ich jetzt in einer Minute klären kann, was so viele Menschen in dicken Büchern nicht haben klären können? Ich denke, es ist nach wie vor wesentlich, daß die menschliche Natur etwas Gegebenes ist. Wir verstehen, daß Mann und Frau füreinander geschaffen sind. Es handelt sich um die Schöpfung einer Beziehung, die all das berücksichtigt, was in der Natur für den Fortbestand der Menschen gegeben ist. Es ist von grundlegender Bedeutung, daß Gott Männer und Frauen dazu geschaffen hat, eins zu sein, wie es in den ersten Kapiteln der Bibel heißt. Auch wenn unsere Kultur sich gegen die Ehe als die wesentliche Form der Beziehung zwischen zwei Menschen, zwischen Mann und Frau, richtet, bleibt unsere menschliche Natur immer präsent. Das können wir verstehen, wenn wir es verstehen wollen. Ich halte eine andere Auffassung für eine Gegenkultur. Ich denke, jeder kann verstehen, daß dies nicht in Einklang steht mit dem, was in unserem menschlichen Wesen innerlich angelegt ist. Ich hoffe, daß es in einem ehrlichen und offenen Dialog mit den Menschen möglich ist, auch heute zu verstehen, daß Mann und Frau füreinander geschaffen sind.

EWTN: Eine Ihrer Aufgaben hier in der Glaubenskongregation ist es, Marien-Erscheinungen zu untersuchen, die sich in der Geschichte ereignet haben und in unserer Zeit ereignen. Sie haben im Jahr 2000 das sogenannte „Dritte Geheimnis von Fatima“ veröffentlicht. Ein Teil dieser Offenbarung war, daß es einen Kugelhagel geben werde, daß der Papst hinfallen und es den Anschein haben werde, daß der Papst tot ist. Die Kongregation interpretierte das als den Mordanschlag auf Seine Heiligkeit Johannes Paul II. Ist es möglich – und ich habe viele Briefe von Menschen erhalten, die mich gebeten haben, diese Frage zu stellen -, daß dies ein Hinweis auf einen künftigen Papst ist?

Ratzinger: Ich kann das nicht auschließen. Damit das klar ist. Normalerweise sind Voraussagen auf die nächste Generation begrenzt. Auch Lucia und die anderen in Fatima waren der Überzeugung, daß die Voraussagen innerhalb einer Generation Wirklichkeit werden würden. Daher würde ich sagen, dass dies der unmittelbare Inhalt der Vision ist. Dabei findet die Vision ihren Ausdruck in einer apokalyptischen Sprache. Klar ist, daß wir bei allen Visionen keine historische Redeweise vorfinden wie etwa in einer Fernseh-Berichterstattung. Vielmehr handelt es sich um eine visionäre, symbolische Sprache. Wir können die Vision in der Tat verstehen als ein Anzeichen für die Krise der Kirche in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und in unserer heutigen Zeit. Aber auch wenn der unmittelbaren Sinn dieser Prophezeiung, dieser Vision, sich auf die nächste Generationen bezieht, hat die Vision auch einen Sinn für die fernere Zukunft. Wir können das also nicht ausschließen. Ich würde sogar sagen, wir müssen darauf gefaßt sein, daß wir auch zu anderen Zeiten ähnliche Krisen der Kirche erleben werden und vielleicht sogar ähnliche Anschläge auf einen Papst.

EWTN: Lassen Sie uns also für diesen Papst hoffen. Sie haben nun 21 Jahre – das ist kaum zu glauben - eng mit ihm zusammen gearbeitet. Wie bewerten Sie seinen Beitrag für die Kirche. Wie hat der das Papsttum heute und für die Zukunft geprägt?

Ratzinger: Ja, es gibt eine politische Dimension und eine geistliche Dimension, die eigentliche Dimension seines Ponitifikats: Politisch hat er, wie wir alle wissen, wesentlich zum Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen in Osteuropa beigetragen. Und er schuf – und damit kommen wir schon zur geistlichen Dimension seines Pontifikats – ein neues Verhältnis zu Israel und ein neues Engagement für die armen Völker der Welt. Das ist wirklich ein wesentliches Element seines Pontikats, daß dieser Papst das karitative Engagement der Kirche für die leidenden Völker der Erde wieder sichtbar gemacht und verstärkt hat. Zur geistlichen Dimension seines Pontifikates gehört sein tiefer Glaube und seine Liebe zu Christus und zu Maria, Seiner Mutter, zur Gottesmutter. Auch die Art und Weise, wie er betet, wie er sich sichtbar in die Gegenwart des Herrn versetzt und sich mit Ihm verbindet. Er hat vor allem auch einen Neubeginn, einen neuen Eifer für die Kirche bei den jungen Menschen entfacht, so daß sie sagen können: „Ja, wir können zu Christus beten, der heute gegenwärtig ist.” Mit seinen Reisen, seinen Predigten und Schriften hat der Papst den Glauben vertieft und erneuert. Ganz besonders stand und steht er im Zentrum der Jugendbewegung, im Zentrum des den neuen Frühlings der Kirche . Junge Menschen können wieder entdecken: “Ja, so können wir unser Leben leben. Christus ist da. Und das ist wichtiger als alle Glaubensprobleme oder moralischen Schwierigkeiten unseres Lebens, daß wir den Herrn bei uns haben und Er der Weg ist.“ Wir erleben eine Erneuerung unseres Glaubens und des sakramentalen Lebens. Ich glaube, das ist das Wesentliche, was dieser Papst bewirkt hat.

EWTN: Was sagen Sie über sein Leiden, das Leiden, das am Leib dieses Mannes vor aller Welt sichtbar ist? Was trägt das Ihrer Einschätzung nach bei?

Ratzinger: Ich glaube, daß dies in unserer Zeit eine sehr wichtige Rolle spielt, wo nur aktive Persönlichkeiten, Sportstars und so weiter zählen. Die Idee ist weit verbreitet, daß man jung und schön sein muß. Der Papst zeigt, daß sogar ein alter, leidender Mann einen wichtigen Beitrag für das Leben von Menschen leisten kann. Sein Leiden vereint sich mit dem Leiden Christi. Und vielleicht verstehen wir durch sein Leiden besser, daß das Leiden Christi die Welt erlöst hat. Wenn man sich im Leiden selbst hingibt, nicht nur etwas oder einige Aktivitäten, sondern wirklich sich selbst, dann verweist das auf die Kraft einer tieferen Dimension menschlichen Lebens. Wir können vom Leiden des Papstes lernen, dass Leiden und Selbsthingabe das wesentliche Geschenk ist, das unsere Zeit so dringend benötigt.

EWTN: Sie sind nun seit 21 Jahren Vorsitzender der Glaubenskongregation. In vielen Berichten habe ich immer wieder gelesen, daß Sie sich zurückziehen wollen. Warum sind Sie immer noch da?

Ratzinger: Ja, ich hatte mir schon 1991, 1996 und 2002 gewünscht, in den Ruhestand zu gehen. Ich könnte einige Bücher schreiben und wieder zu meinen Studien zurückkehren, wie dies Kardinal Martini getan hat. Dasselbe wollte ich gerne auch tun. Auf der anderen Seite, wenn ich den Papst so leiden sehe, kann ich nicht zu ihm sagen: “Ich möchte mich zur Ruhe setzen. Ich möchte Bücher schreiben.” Wenn ich sehe, wie der Papst sich hingibt, muß ich einfach weitermachen.

EWTN: Nun, wir sind froh, wenn Sie weitermachen. Meine letzte Frage lautet: Was betrachten Sie, Eminenz, als größte Gefahr und was als größte Hoffnung in der Kirche von heute?

Ratzinger: Ich sehe die große Gefahr, daß wir nur noch ein Sozialverband und nicht im Glauben an den Herrn festgemacht sind. Im ersten Moment scheint nur zu zählen, was wir tun, während der Glaube nicht so wichtig erscheint. Aber wenn der Glaube verdunstet, zerfallen auch die anderen Dinge, wie wir gesehen haben. Also, ich denke, es gibt zur Zeit mit all den Aktivitäten und äußerlichen Visionen die Gefahr, die Bedeutung des Glaubens zu unterschätzen und den Glauben zu verlieren. Das gilt auch für eine Kirche, in der der Glaube nicht mehr so wesentlich ist.

EWTN: Ja.

Ratzinger: Die große Hoffnung ist, daß wir eine neue Gegenwart des Herrn erleben. Wir können erfahren, daß die sakramentale Gegenwart des Herrn in der Eucharistie ein wesentliches Geschenk für uns ist, das uns die Möglichkeit gibt, die anderen zu lieben und für sie zu arbeiten. Ich glaube, daß die neue Präsenz des eucharistischen Christus eine neue Liebe für Christus entfacht. Der in der Eucharistie gegenwärtige Christus ist das ermutigendste Zeichen unserer Zeit .

Das Interview führte Raymond Arroyo, News Director des katholischen Fernsehsenders "Eternal Word Television Network" (EWTN), im Rahmen des Nachrichtenmagazins "The World Over". Es wurde am 5. September ausgestrahlt. Das Interview ist original in englischer Sprache (eine Antwort des Kardinals erfolgte auf italienisch).

(c) Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von www.ewtn.de.


© 2003 www.kath.net