Anständig oder politisch korrekt?

20. Juni 2017 in Kommentar


Anstand gilt im zwischenmenschlichen Bereich, politische Korrektheit regelt den öffentlichen Diskurs - Diakrisis am Dienstag von Sebastian Moll


Linz (kath.net)
„Was heute als politische Korrektheit verachtet wird, wurde früher als Anstand geachtet.“ Derartige Bemerkungen sind derzeit viel bei den Verteidigern der politischen Korrektheit zu lesen oder zu hören. Die politische Korrektheit ist also nur ein neuer Name für eine alte Art zu denken? Aber warum wurde dieser Begriff dann überhaupt erfunden? Und warum hat der Begriff ‚Anstand‘ dennoch überlebt? In Wirklichkeit sind Anstand und politische Korrektheit zwei verschiedene Dinge, weil sie sich auf verschiedene Sphären beziehen. Anstand gilt im zwischenmenschlichen Bereich, politische Korrektheit regelt den öffentlichen Diskurs. Einige klassische Beispiele mögen dabei helfen, diesen Punkt zu verdeutlichen.

1. Geschlechterverhältnis

Die erste nachweisebare Verwendung des Begriffs „politically correct“ findet sich im Jahre 1970 bei einer feministischen Autorin aus den USA. Das Wort stammt also aus den Vereinigten Staaten und ist im Rahmen der Frauenbewegung entstanden, wo es sich offenbar bis heute recht wohl fühlt. Als politisch inkorrekt wurde und wird in diesem Zusammenhang jedwede Äußerung empfunden, mit der die vollkommene Gleichartigkeit von Männern und Frauen in Frage gestellt wird. Die Regeln des Anstands hingegen beinhalten keine derartige Weltanschauung, sondern gebieten mir als Mann, Frauen nicht in irgendeiner Weise verächtlich zu behandeln bzw. mich ihnen gegenüber – Verzeihung, hier bin ich etwas altmodisch – zuvorkommend zu verhalten.

2. Sexuelle Orientierung

Hier verhält es sich ähnlich wie bei der Geschlechterdebatte. Dass man einem Homosexuellen mit demselben Respekt begegnet wie jedem anderen Menschen und ihn nicht mit „Du schwule S*“ anspricht, gebietet der Anstand. Will man sich zusätzlich politisch korrekt verhalten, so muss man politische Maßnahmen wie die Einführung der Homo-Ehe befürworten sowie jedweden grundlegenden Unterschied zwischen verschiedenen sexuellen Orientierungen leugnen.

3. Nation und Kultur

Ein anständiger Mensch wird, wenn er in einem anderen Land zu Gast ist, sich entsprechend verhalten und die Regeln und Bräuche der gastgebenden Kultur respektieren. Will er hingegen politisch korrekt sein, muss er öffentlich bekennen, dass es keinerlei qualitative Unterschiede zwischen seiner eigenen Kultur und anderen gibt. Diese Facette der politischen Korrektheit ist besonders faszinierend. Einerseits machen es sich die politisch Korrekten zum Ziel, ihre eigenen Wertvorstellungen mit allen Mitteln gegen Andersdenkende zu verteidigen. Gleichzeitig besteht man aber darauf, dass die eigenen Wertvorstellungen nicht besser seien als die anderer. Man verteidigt also die Gleichberechtigung der Frau, findet es aber auch richtig, wenn andere Kulturen Frauen bis zum Kopf im Sand verbuddeln, um sie anschließend zu steinigen.

"Das Private ist politisch“ – so lautete ein Schlachtruf der Frauenbewegung, der in etwa zur selben Zeit entstand wie der Begriff ‚politisch korrekt‘. Zufall? Mitnichten! Denn wie soeben erläutert ist der Übergang vom Privaten zum Politischen identisch mit dem Übergang vom Anstand zur politischen Korrektheit. Es ist daher wohl ebenfalls kein Zufall, dass die politische Korrektheit ihre Anerkennung eher bei der politischen Linken findet, die seit jeher ein kollektives Gesellschaftsverständnis pflegt, während sie vom bürgerlichen Lager, das stets mehr Wert auf das Individuelle und das Persönliche legte, eher kritisch betrachtet wird.

Gegner der politischen Korrektheit wehren sich keineswegs gegen Anstandsregeln, wie das eingangs erwähnte Zitat suggeriert. Vielmehr wehren sie sich gegen eine staatliche Gesinnungsüberwachung, die eine ehrliche Debatte über strittige Themen mitunter unmöglich macht. So gesehen ist politische Korrektheit dem Anstand sogar direkt entgegengesetzt. Denn Anstand gebietet Wahrhaftigkeit.


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