Zur nichtgesendeten ARTE-Doku über Antisemitismus

15. Juni 2017 in Kommentar


Durch Weigerung des TV-Senders ARTE, die Sendung auszustrahlen, wird nun also zumindest Interesse geweckt, und das ist bitter notwendig – VIDEO: Die ARTE-Doku – kath.net-Kommentar von Anna Diouf


Düsseldorf (kath.net/ad) Der Bildzeitung ist ein medialer Coup geglückt: Eine von ARTE und dem WDR in Auftrag gegebene Dokumentation über modernen Antisemitismus hatte ARTE nicht senden wollen. Unklug, und Wasser auf die Mühlen derer, die öffentlich-rechtlichen Medien Manipulation vorwerfen. Indem Bild die Dokumentation nun 24 Stunden lang gestreamt hat, stellt sie sich als Speerspitze von journalistischer Freiheit und Meinungsvielfalt dar, was dem Blatt zweifelhafter Reputation das Wohlwollen medienkritischer Kreise eintragen wird. Obwohl der Inhalt des Formats brisant ist, handelt es sich keinesfalls um Offenbarungen ungeahnten Ausmaßes.

Sichtbar werden drei Aspekte modernen Antisemitismus': Der überbordende arabische Judenhass, der auf dem Kampf gegen den Staat Israel beruht, die innige Verbindung dieser Bewegung mit der Linken einerseits, die diesen Judenhass ideologisch befördert und mit der Neuen Rechten andererseits, die ihn mit ihren Verschwörungstheorien verknüpft, sowie die Verstrickung von Hilfswerken, NGOs und "christlichen" Organisationen mit dem arabisch-palästinensischen Antisemitismus. Neu ist das alles nicht, aber es ist eben auch nicht präsent. Durch ARTEs Weigerung, die Sendung auszustrahlen, wird nun also zumindest Interesse geweckt – und das ist bitter notwendig. Denn wenn eines deutlich wird, dann, dass die deutsche Politik die besondere Verantwortung gegenüber Israel mittlerweile maximal in Worten zelebriert, dafür aber finanzkräftig Israels Gegnern hilft: Der Palästinenserkonflikt wird auch durch europäische Geldströme am Leben erhalten und dieser Konflikt wiederum belebt den Judenhass immer neu.

An einigen Stellen leuchtet wohltuende Klarheit auf, die auch erahnen lässt, wieso die Dokumentation umstritten ist: Da wird die "Neue Rechte" charakterisiert als Zusammenschluss "frustrierter Linker, politischer Esoteriker und Neonazis". Genau das ist sie, und die Verbrüderung von linkem und rechtem Antikapitalismus wird so manchem, der Rechtspopulismus geißeln will, nicht passen. Ein anonymer französischer Beobachter bescheinigt der Linken gar einen "antiparlamentarischen, antirepräsentativen, diskussionsfeindlichen und antidemokratischen (...) zutiefst reaktionären Charakter". Liebgewonnene Schubladen werden durchgerüttelt – und einigen wird es nicht geheuer sein, dass hier Antisemitismus als Betätigungsfeld der Rechten wie der Linken belegt wird.

Besonders gelungen ist die Auswahl der Interviewpartner im Nahen Osten. Studenten im Gazastreifen beklagen erstaunlich unverblümt die Korruption, verorten die Verantwortung für die Misere bei ihrer eigenen Regierung und offenbaren sich gar als Anhänger einer Zweistaatenlösung. Währenddessen schwafeln deutsche Studenten, die man im Vergleich nicht anders denn als degenerierte dekadente Dumpfbacken bezeichnen kann, von Imperalismus und Zionismus. Einer ist derart vernebelt, dass er ungeachtet der Chancen, die der real existierende Sozialismus von Kuba bis Nordkorea bereits hatte, davon ausgeht, es brauche eine "Revolution der Palästinenser und des israelischen Proletariats" um einen "sozialistischen multiethnischen Arbeiter*Innenstaat" zu kreieren. Totgeglaubter studentenrevoltischer Muff, der an der intellektuellen Reife der Interviewten erhebliche Zweifel aufkommen lässt. Wenn allerdings die Protokolle der Weisen von Zion als Beleg für die Weltverschwörung herangezogen werden, vergeht einem das Lachen: Man erschrickt darüber, dass derart peinliche argumentative Fossilien überhaupt noch herumgeistern. Auch die zynische Gleichsetzung der israelischen Politik mit dem Holocaust darf nicht fehlen im Reigen der antifaschistischen, antikapitalistischen und antiimperialistischen Mythen.

Relativ indirekt wird problematisiert, dass der muslimische Antisemitismus im Milieu schlecht integrierter Zuwanderer grassiert und von hier aus äußerst gewalttätige und mörderische Züge annimmt. Ausschnitte deutscher Rapsongs, die Intifada, Jihad und Judenhass besingen, belegen, dass dies auch in Deutschland ein Problem ist. Dass sich eine "Minderheit", die man vor Rassismus und Diskriminierung schützen will, mit Rassisten solidarisiert um gegen eine andere Minderheit zu hetzen, passt nicht in unser Konzept von Integration und Koexistenz, und ist daher schwer zu vermitteln. Dabei ist die Kooperation von Nazis und Muslimen nicht einmal neu, wie die Zusammenarbeit des Großmuftis von Jerusalem mit Hitler belegt. Dies passt nicht ins Konzept, weil Deutsche immer fürchten, den Holocaust zu relativieren, wenn sie anderen eine Mitveranwortung daran zubilligen. Der paradoxe Effekt ist, dass man Judenhass nicht bekämpft, weil man an der Lesart, die eigenen Vorfahren seien der einzig wahre Judenfeind, unbedingt festhalten möchte.

Die Dokumentation bietet also ein breites Panorama und hat doch entscheidende Schwachstellen. Streckenweise verliert sie den Faden im investigativen Nachgehen der Geldströme, die in Gaza versickern. Und während sie doch recht intensiv die Zeit vor und während der Staatsgründung Israels behandelt, wird nicht ein einziges Mal auf jüdische Siedler und deren Extremismus hingewiesen. Da es ja auch nicht um eine vollumfängliche Darstellung des Nahostkonflikts geht, ist das durchaus in Ordnung, aber latent entsteht der Eindruck, Gewalt und Hass gäbe es allein auf Seiten der Palästinenser. Wenn dann von der Vertreibung der Palästinenser durch einen jüdischen Zeitzeugen berichtet wird, als sei dies eine praktisch friedliche und gewaltfreie Umsiedlung gewesen, gerät das Bild doch ein wenig schief.

Auch an anderer Stelle müssten die zusammengetragenen Informationen besser eingeordnet werden: Z.B. offenbaren grauhaarige Teilnehmerinnen des Evangelischen Kirchentags ein erstaunliches Gemisch aus Desinformation, Naivität und Dummheit. Dies ist aber natürlich nicht gleichzusetzen mit brutalem Judenhass. Ebenso handelt eine Organisation wie Brot für die Welt bei aller berechtigten Kritik mit Sicherheit nicht aus Antisemitismus heraus, selbst, wenn sie ihn indirekt befördert. Hier könnte der Blick schärfer unterscheiden und so die Aussagekraft der Dokumentation noch steigern. Dies kann aber auch Aufgabe des Diskurses sein, den dieser Film auslösen sollte. Wenn pauschal von "christlichen NGOs" gesprochen wird, ist das problematisch, weil mit dem Attribut nicht nur ausgedrückt wird, es handle sich um Engagement von Christen, sondern dass die Kirche(n) dieses Engagement unterstützen, bzw. dass es von ihnen ausgehe. Außerdem lässt sich nicht unterscheiden zwischen unter Umständen "wildem" Engagement freier christlicher Kreise und offizieller kirchlicher Haltung. Das wäre allerdings wichtig, nicht um sich vom Vorwurf reinzuwaschen, sondern um kirchlicherseits gegen solche Umtriebe aktiv werden zu können! Es ist, das wird deutlich, in jedem Fall die "Kirche von unten", die in ihrem Engagement für die vermeintlich Benachteiligten antisemitischen Ideen auf den Leim geht. Eine unangenehme Einsicht in Zeiten der Forderung nach "Demokratisierung" in der Kirche.

Schlicht unannehmbar ist der Aufmacher der Dokumentation. Nun mögen die Autoren des Films ihre eigene Überzeugung einfließen lassen, niemand ist völlig "objektiv". Dies rechtfertigt aber keinesfalls offensichtliche Falschinformationen aufgrund antichristlichen Ressentiments. Die Autoren versteigen sich gar dazu, die christliche Kultur als "Mutter allen Judenhasses" zu bezeichnen! Dies ist gelinde gesagt eine Frechheit, tatsächlich aber eine kaum zu überbietende Infamie. Zuerst einmal ist die zerstörerischste Form des Judenhasses der rassistisch-eugenisch bedingte, eine Ideologie, die sich gegen erbitterten Widerstand der Kirche entwickelt hat. Es war die dem Christentum bereits entfremdete Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts, aus der der moderne Antisemitismus erwachsen konnte. Es gibt ein Interesse daran, in Sachen Antisemitismus eine Linie von Paulus über Luther zu Hitler zu ziehen, aber die Sehnsucht nach einem geschlossenen Narrativ macht diese Idee nicht stichhaltiger. Es wird gar behauptet, um das Judentum zu stigmatisieren hätte man den Verräter unter den Aposteln "Judas" genannt: Erstens wird hier die Geschichtlichkeit des Christentums geleugnet und das Neue Testament als Mythos dargestellt, der Stereotype darstellen wolle, keine historischen Begebenheiten. Zweitens ist Jehuda ein ungemein gebräuchlicher Name jener Zeit. Drittens gibt es einen zweiten Apostel dieses Namens, der hochverehrt ist.

Sodann wird Paulus verfälschend zitiert: Er schreibt im ersten Brief an die Thessalonicher: "Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa sind in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt wie auch sie von den Juden, die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind (...)." (1 Thess 2, 14-16). Diese Passage wird erstens nur gekürzt wiedergegeben. Außerdem ist sie im Kontext völlig unpassend. Eher noch wäre es verständlich gewesen, antijudaistische Zitate frühchristlicher Autoren zu nennen, aber diese sind den Machern der Dokumentation wahrscheinlich nicht einmal bekannt. "Die Juden" bezeichnet hier nicht das gesamte jüdische Volk als solches, sondern die, die die Verheißung ablehnen. Im Grunde verstanden sich die ersten Christen ja selbst als die eigentlichen Juden, die nicht nur die Verheißung, sondern auch deren Erfüllung angenommen hatten. Es geht hier um eine Parallele in der Verfolgung, nicht um eine Dämonisierung des gesamten jüdischen Volkes (dem Jesus ja angehörte, wie implizit klar ist, da die Analogie sonst keinen Sinn ergäbe). Dass die ersten christlichen Gemeinden durch Juden verfolgt wurden, ist völlig unstrittig; solange man daraus nicht eine Rechtfertigung zu "Rache" o.ä. ableitet, handelt es sich nicht um Hetze, sondern um Fakten. In diesem Zusammenhang fällt die immer wieder geäußerte Behauptung, die Christen hätten die Juden als Gottesmörder betrachtet. Dies wurde tatsächlich als Rechtfertigung für antijüdische Ausschreitungen angeführt, war aber nie christliche Lehre. Im Gegenteil. Man kann bis in früheste Zeit nachverfolgen, dass man stets davon ausging, dass das Leiden Christi durch die Sünde aller und vor allem auch durch die persönliche Sünde des Einzelnen verschuldet sei. Dies wird verstärkt dadurch, dass die Kirche sich selbst als Gottesvolk verstand, und darin eben auch als das "Volk", das den Tod Christi mitverschuldet hat. Die gesamte Karfreitagsliturgie wäre völlig unsinnig, wenn die Kirche die Schuld am Tod Jesu bei jemand anders als bei sich selbst suchen würde. Wäre die christliche Kultur selbst "Mutter allen Judenhasses", so müsste Judenhass in der christlichen Lehre implementiert sein, und nicht bloß bei christlichen Menschen vorkommen und genau das ist nicht der Fall.

Hier zeigt sich eine an korrekter historischer Einordnung nicht interessierte Voreingenommenheit gegenüber dem Christentum, die sich in einer Dokumentation, die sich gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit richtet, sonderbar ausnimmt. All dieser Unfug konzentriert sich im Übrigen auf die ersten fünf Minuten des Beitrags und wird als nicht zu problematisierender weil allgemein angenommener Wissensstand dargestellt. Insofern dürfte sich der Jubel konservativer Christen, die meinen, "endlich" jemanden gefunden zu haben, der Tacheles redet, in Grenzen halten. So verdienstvoll die Dokumentation in anderen Bereichen ist, sie leistet ihrerseits einer ideologischen Verblendung Vorschub, die wir in Europa ebenso wenig gebrauchen können wie antiisraelisch verbrämten Antisemitismus. Man beobachtet zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen Unwillen gegenüber grundlegendster historischer Einordnung und gegenüber differenzierter Darlegung, weil man ein übersichtliches Weltbild der realen Komplexität der Dinge vorzieht. Dies steht im Widerspruch zu Wissenschaftlichkeit und zum umfassenden Verständnis von Zusammenhängen. Von dieser beunruhigenden Tendenz distanziert sich die Dokumentation leider nicht im Geringsten.

Die vieldiskutierte ARTE-Doku in voller Länge!



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