'Kohl konnte polarisieren, aber hatte auch die Gabe der Freundschaft'

28. Juni 2017 in Chronik


Predigt von Prälat Jüsten bei Gedenkgottesdienst für früheren Bundeskanzler: "Vertrauen und Hoffnung haben Helmut Kohl sein Leben lang begleitet" - Mit VIDEO


Berlin (kath.net/DBK) kath.net dokumentiert die Predigt von Prälat Karl Jüsten, Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro (Berlin), anlässlich des Gedenkgottesdienstes für Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl am 27. Juni 2017 in der St. Hedwigs-Kathedrale zu Berlin in voller Länge:

Liebe Schwestern und Brüder,

ein langjähriger Weggefährte des Verstorbenen erzählte mir einmal, dass Helmut Kohl in seiner Jugend mit einer ganz anderen Branche als der Politik geliebäugelt habe: nämlich der Land- und der Forstwirtschaft.

Besondere Hochachtung hatte er vor Förstern: Sie ernten, was ihre Vorfahren gepflanzt haben und sie setzen, was ihre Nachfahren ernten. Ihr Beruf verlangt Tatkraft und Geduld. Sie müssen Gestaltungswillen haben, aber auch in der Lage sein, Dinge wachsen und sich über lange Zeiträume hinweg entwickeln zu lassen. Sie brauchen ein Gefühl dafür, wann die Zeit reif für die Ernte ist. Vielleicht ist Helmut Kohls Wertschätzung dieser Berufe ein Schlüssel, der uns helfen kann, ihn besser zu verstehen.


Bauern und Förster sind bodenständig im konkreten Sinne des Wortes. Sie denken in Generationen. Sie erleben die Natur als Schöpfung, mit der wir Menschen pfleglich umgehen müssen. Die Klugen hören auf die Erfahrungen der Vorfahren und Kollegen. Die besonders Erfolgreichen sind schlau – im Umgang mit der EU bisweilen listig –, kennen die Marktgesetze und wissen, wie man ein gutes Betriebsergebnis erzielt. Bisweilen spekulieren sie auch, aber ihnen ist klar, dass der, der faule Eier verkauft, schnell jegliches Vertrauen verspielt.

Landwirte kennen sich bestens in der sie umgebenden Welt aus. Sie wissen um die Bedeutung einer funktionierenden Gemeinschaft und darum, welche Anstrengungen immer wieder zu unternehmen sind, damit das Dorf, das Gemeinwesen funktioniert. Ohne große Worte darüber zu verlieren, haben sie ein sicheres Gespür für die Wirkungszusammenhänge von Solidarität, Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Subsidiarität. Bauern wissen um die Bedeutung der Familie, guter Nachbarschaft und Freundschaft, Beziehungspflege und Kollegialität. Bauern sind im besten Sinne des Wortes konservativ, weil sie die Schöpfung auch für die kommenden Generationen bewahren müssen.

Das lateinische Wort für das Bearbeiten des Ackers lautet colere, es ist der Wortstamm für unser deutsches Wort Kultur. In diesem Sinne – und weit mehr im übertragenen – sind Landwirte und Förster also Kulturschaffende. Sie veredeln, was die Natur hergibt, und schaffen so Neues. Ein Kulturschaffender findet sich nie mit den gegebenen Umständen ab. Fatalismus ist ihm ebenso fremd wie Machbarkeitswahn. Er weiß um die eigenen Begrenztheiten und mehr noch um die Begrenzungen durch die Naturgesetze. Aber er nutzt die Gestaltungsmöglichkeiten, die die Schöpfung ihm eröffnet. Vielleicht ist es kein Zufall, dass unter Landwirten Religiosität besonders verbreitet ist. Sie spüren tagtäglich, dass sie nicht Herren der Welt sind, sondern nur Verwalter auf Zeit. Die Welt verdankt sich einem anderen, nämlich Gott.

Für mich, der ich Helmut Kohl während seiner aktiven politischen Zeit nur aus den Medien kannte, verkörperte er in der Tat die Tugenden eines guten Försters und Landwirtes. Später lernte ich ihn dann auch persönlich kennen – und jeder, der ihn kannte, wird ein noch reicheres, wahrscheinlich differenzierteres Bild von ihm haben, je nachdem, wie man zu ihm stand.

Auch in seiner eigenen Familie haben alle ein je eigenes Bild von ihm, geprägt von ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Wir Außenstehenden sollten uns bei der Bewertung dieser unterschiedlichen Sichtweisen zurückhalten. Was wir sagen können – und sollen – ist dies: In dieser Stunde sind unsere Gedanken auch bei Helmut Kohls Witwe sowie bei seinen Söhnen und ihren Familien. Und wir wünschen ihnen allen, dass sie untereinander Versöhnung und Frieden erfahren.

Helmut Kohl konnte polarisieren, aber er hatte auch in ganz herausragendem Maße die Gabe der Freundschaft. Seine Freunde und engsten Vertrauten werden sich an schöne gemeinsame Stunden und Gespräche erinnern, an Wanderungen und Saunagänge, an gutes Essen und Wein, an den überaus belesenen Geschichtskenner und anekdotenreichen Geschichtenerzähler, an den humorvollen, oft spöttischen und bisweilen melancholischen Mann, der in jeder Runde die Themen zu setzen wusste. Der einen genauso in den Bann ziehen wie irritieren konnte. Helmut Kohl mochte, wie ein enger Mitarbeiter mir erzählt hat, den Satz „Als Christen glauben wir auch an ein Leben VOR dem Tod!“

Kohl interessierte sich für die Menschen und ihre Beziehungen untereinander, ihm war völlig gleich, welchen Rang, welche Bedeutung, welche Herkunft sie hatten. Er hatte ein außerordentlich sicheres Gespür für Andere. Er konnte mit seinem Charme blitzschnell Distanz überwinden. Und er betrachtete es als eine der größten Gefahren, die mit der Macht verbunden ist, dass man sich von den Menschen unmerklich immer weiter entfernt, dass man abhebt.

Weggefährten aus aller Welt, aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Kirche genauso wie engste Vertraute werden sich an sein phänomenales Gedächtnis, seine Aufmerksamkeit für die Großen und die Kleinen, für die Details wie für die großen Linien erinnern. Wie oft hat er unkompliziert geholfen. Viele sind ihm auf immer sehr dankbar. Er vergaß wenig und konnte auch Unterstützung einfordern. Er schenkte Vertrauen und konnte nicht ertragen, wenn es missbraucht wurde. Viele verstanden nicht, dass er nach den für ihn bittersten Stunden seines Lebens Freundschaften aufkündigte, weil sich manche Weggefährten nicht solidarisch mit ihm zeigten. Auch das gehört zu seinem Leben: die Erfahrung der Einsamkeit. Und auch hier steht es uns nicht zu, die Schuldfrage zu stellen. Wir haben jedoch die Gewissheit, dass Helmut Kohl jetzt in Frieden ruht.

Helmut Kohl war ein gläubiger Mann, er bezeichnete sich selbst als christ-katholisch und hat einmal diese weitherzige Katholizität als ein Erbe seines Elternhauses beschrieben. Gewiss war es auch die Liebe zu seiner evangelischen Frau Hannelore, die ihn antrieb, ein gutes Miteinander der Kirchen und der Christen einzufordern. Er kannte die Kirchen und ihre Vertreter nur zu gut. Mit manchen verband ihn ein freundschaftliches Verhältnis – legendär sind seine Wanderungen mit Kardinal Lehmann. Wenn ihm etwas nicht passte, dann sagte er das dem Ratsvorsitzenden der EKD genauso wie dem Papst. Immer betonte er den Beitrag Johannes Pauls II. für den Fall des Eisernen Vorhangs und die Wiedervereinigung. Das hinderte ihn aber nicht daran, ihn zu kritisieren, wenn er die nach seiner Meinung Falschen zu Bischöfen ernannte.

Mehr noch als für die institutionelle Seite des Glaubens interessierte sich Helmut Kohl aber für die Frage nach dem Grund unseres Glaubens: nach Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Im Gleichnis des heutigen Evangeliums kommen diese beiden Dimensionen des Glaubens zum Klingen. Es geht um das Reich Gottes, das mit einem Senfkorn verglichen wird. Gott hat sein Reich hier auf Erden schon anbrechen lassen, er vertröstet uns nicht auf das Leben nach dem Tod. Durch seinen Schöpfungsakt rief Gott die Welt ins Dasein. In diese Welt sandte er seinen Sohn. Jesu Botschaft breitete sich aus und trägt bis in unsere Zeit reiche Frucht. Gott ist gegenwärtig unter uns, er trägt und hält uns – besonders spüren wir seine Nähe vielleicht in Stunden wie dieser, in denen wir uns in Trauer vereint zum Gebet versammeln. Und weil Gott mitten unter uns ist, können wir mit ihm in eine personale Beziehung eintreten, uns ihm anvertrauen, mit ihm sprechen. In einer lebendigen Beziehung wissen wir auch um unsere Verantwortung vor ihm und unseren Mitmenschen ...

Das Gleichnis beschreibt auch, wie wir selbst am Aufbau des Reiches Gottes mitwirken können; eigentlich so, wie es der Landwirt tut: Er findet den Acker vor, den schon seine Vorfahren bestellt hatten, er sät – und dann muss er wachsen lassen. Er kann zwar noch etwas düngen und bewässern. Ob aus dem Senfkorn letztlich etwas wird, muss er aber einem anderen überlassen.

Man kann diese Haltung Demut nennen. Man kann in ihr aber auch den Geist des Vertrauens und der Hoffnung erkennen. Dieses Vertrauen und diese Hoffnung haben Helmut Kohl sein Leben lang begleitet – und sie haben ihm in schwierigen Entscheidungssituationen den Mut zum Handeln gegeben. Das hat ihn stets mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit erfüllt – und es ist auch für uns ein Grund, in diesen Tagen des Abschieds von Helmut Kohl „Danke“ zu sagen.
Amen.

Euronews (Kurzvideo) - Berlin: Totenmesse für Altbundeskanzler Helmut Kohl in der Hedwigskathedrale



© 2017 www.kath.net