Er ließ Gott das letzte Wort

6. Juli 2017 in Kommentar


Mutig, streitbar, glaubensfest, unerschrocken, sensibel und nachdenklich: Gedanken zum verstorbenen Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner. Gastbeitrag von Martin Lohmann


Köln (kath.net/Junge Freiheit) Unsere Hoffnung für euch steht fest. Diesen seinen bischöflichen Wahlspruch, den er sich aus dem Zweiten Korintherbrief entlieh, hat Joachim Kardinal Meisner nicht nur verkündet. Er hat ihn gelebt. Immer. Bis zum letzten Atemzug. Ohne Wenn und Aber. Der ehemalige Erfurter Weihbischof, Bischof von Berlin und Erzbischof von Köln war, so würde man das heute ausdrücken, authentisch. Er war ehrlich. Er lebte, was er sagte, und er sagte, woran er glaubte. Er glaubte nicht an eine Idee, nicht an eine Sache, nicht an ein Konzept. Er glaubte an eine Person. Er glaubte Gott. Er lebte aus einer geradezu kindlichen und ehrfurchtsvollen Freundschaft mit dem Gottessohn Jesus Christus. Und er war verliebt von Jugend an bis ins hohe Alter. Verliebt in die Gottesmutter Maria. Sie machte er zu seiner Fürsprecherin. Ihr vertraute er sich an. Mit ihr war er im Gespräch. Ganz selbstverständlich, ganz natürlich, ganz einfach. Genau darin gründete auch seine tiefe Freundschaft mit dem Heiligen Johannes Paul II. Zwei, die als gestandene Männer Vertrauen hatten in jene junge Frau, die sich der Schöpfer ausgesucht hatte, um sie als Mutter seines menschgewordenen Sohnes zur Miterlöserin zu machen. Wer ihm, dem in Bad Füssing friedlich eingeschlafenen emeritierten Kölner gerecht werden will, muss das wissen und sehen können. Was für ein „Zufall“, dass die alte Liturgie der Kirche heute im Evangelium nach Markus das Jesuswort bereithält: „Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineingelangen.“ Es trifft auf Joachim Meisner zu. Und im Tagesgebet der Kirche, die am 5. Juli des heiligen Priesters Antonius Maria Zaccaria gedenkt, gibt es eine Bitte, die ebenfalls „passt“: „Lass auch uns die alles überragende Erkenntnis Christi suchen und in der Torheit des Kreuzes die wahre Weisheit finden.“

Torheit. Weisheit. An Joachim Kardinal Meisner scheiden sich die Geister. An ihm scheiden sie sich offenbar auch posthum. Darauf lassen erste Nachrufe schließen, in denen nicht selten ein aus eigenen Denkstrukturen und Wünschen gespeistes Zerrbild eines Kirchenmannes und Glaubenszeugen gezeichnet wird, das viel Unverständnis angesichts einer komplexen und geradlinigen Persönlichkeit verrät, der die Fähigkeit zum billigen Opportunismus und zum Reden nach dem Munde abging. Wer nur den konservativen Knochen sehen will, den Mann des Aneckens und gar Unbarmherzigkeit ausmachen will, wird dem Verstorbenen nicht gerecht. Eher dem Bild, das manche von ihm hatten – und das er gelegentlich durch harsches Auftreten und eine jedem weichgespülten Wahrheitsbegriff zuwiderlaufende Klarheit der Sprache zu bedienen schien.

Ja, er konnte eckig reden. Ja, er konnte auch verletzen. Ja, er hielt sich nicht an die so genannte politische Korrektheit, die eine Verpflichtung an Wahrheit und Wahrhaftigkeit nicht zuzulassen stets in der Lage ist. Joachim Meisner konnte aufbauen ebenso wie enttäuschen. Und Selbstkorrekturen fielen ihm erkennbar nicht leicht. Dabei war er äußerst sensibel, bekam Stimmungen und Kritik sehr wohl mit und nahm sich alles zu Herzen. Wer ihn im persönlichen und geschützten familiären Rahmen erleben konnte, erlebte einen nachdenklichen, vorsichtigen und zugleich mutigen Seelsorger, der offenkundig einfühlsam alles und jedes an der – man möchte sagen – Koordinate Gott abzugleichen versuchte. Seine Augen verrieten immer wieder eine gewisse aus selbst erfahrener Verletzung und Enttäuschung gewachsene Unsicherheit, die aus seinem im Leben allzu oft erfahrenen Misstrauen gewachsen schien. Richtig vertraut hat er nur Gott selbst. Dies aber mit ganzer Kraft.

An seinem letzten irdischen Lebenstag telefonierte er wohl noch mit seinem Freund Benedikt XVI., der zu jenen Weggefährten zählte, denen er wie zuvor Johannes Paul II. bedingungslos Vertrauen schenkte. Aber, auch dies zeichnete den gottesfürchtigen Priester und Bischof aus, nie in der Form eines Kadavergehorsams. Er, der so papsttreue Kardinal, widersprach – meist in der Form von Fragen – auch Päpsten. Er gab furchtlos Anregungen. Von Franziskus, dessen Lehrschreiben Amoris Laetitia ihn in wichtigen und wesentlichen Lehrfragen beunruhigte, bekam er zu Lebzeiten keine Antwort. Die ihm dargereichten Dubia, also Zweifel, konnte er bis zuletzt nicht ablegen. Sie wurden ihm nicht genommen.

Was ihn kennzeichnet, verriet Meisner in einem nicht veröffentlichten Gespräch erst wenige Wochen vor seinem plötzlichen Tod zwei engagierten Katholikinnen. Diese hatte ihn gefragt, wie er denn sterben wolle, worauf er seinen Wunsch äußerte, im Bett friedlich einschlafen zu dürfen. Er ist friedlich eingeschlafen, beim Beten des Stundengebetes der Kirche. Doch über den Charakter des streitbaren Mannes Gottes verrät folgendes sehr viel: Auf die Frage, wie er sich die Begegnung mit Gott denn nach dem Tod vorstelle, meinte er, dass dieser ihm sagen könnte: Gut, dass du jetzt da bist. Aber auf die Frage, was er denn seinem Schöpfer dann sagen wolle, meinte Meisner nur nachdenklich: Gar nichts; ich habe in meinem Leben genug geredet.

So ausdrucksstark dieses Bekenntnis ist, indem der unängstliche Redner Gottes diesem buchstäblich das letzte Wort lässt, so wahr ist es auch, dass Meisner das Wort nie scheute und niemanden – außer Gott selbst – fürchtete, wenn etwas gesagt werden musste. Er tat es voller Mut und ohne Liebedienerei. Es ging ihm immer um Gott und Seine Wahrheit. Es ging ihm darum, den Menschen furchtlos die Liebe Gottes und die durch Seinen Sohn geschenkte Erlösung zu verkünden. In einem Fernsehinterview sagte er dem Autor einmal, er glaube, weil er lebe. Jeder Mensch sei ein Abbild des Schöpfers, trage also die Liebe Gottes gleichsam in der DNA. Es gebe nichts Schöneres und Teureres, als jemandem den Glauben an den lebendigen Gott zu schenken. Und wer glaubt, komme auch schließlich zu sich selbst und lebe nicht dauernd in der Verfremdung. Kein Abbild der Liebe, also kein Mensch, könne wirklich auf Dauer ungeliebt sein wollen.

Leben und Glauben – das war für Joachim Meisner eins. Daher war ihm die Echtheit des Glaubens, die ehrliche Verkündigung der Wahrheit so wichtig. Und dazu gehörten für ihn die Sakramente der Kirche. Die Beichte war ihm besonders wertvoll. Sie „macht den Menschen innerlich heil“, sagte er. Und im Blick auf die allerheiligste Eucharistie war er davon überzeugt, dass die Kirche durch Wiederentdeckung der Ehrfurcht eine Entsäkularisierung brauche. Er nannte das ein „großes Reformprogramm“. Seiner Kirche wünschte er, der nie ein Zweifel daran ließ, dass Jesus Christus wirklich im Sakrament des Altares gegenwärtig ist, eine neue eucharistische Kultur. Wie ein besonderes Testament wirkt jetzt in der Rückschau der Nationale Eucharistische Kongress, den er noch als amtierender Erzbischof nach Köln holte. Einige Zitate, die der Kölner Verleger Bernhard Luthe zusammenstellte, machen deutlich, was und wer Joachim Meisner war:

„Ohne Gott gibt es keine Kultur.“ „Wer Gott auf Augenhöhe begegnen will, der kniet vor ihm.“ „Mit der Liberalisierung des Paragrafen 218, sprich der De-facto-Freigabe der Abtreibung, haben wir die Gesellschaft auf einen Weg in das Unmenschliche, in die Barbarei geführt.“ „Gottlosigkeit ist wie ein Haus ohne Dach.“ „Wen Gott belastet, den trägt er auch.“ „Die heilige Messe überstrahlt alles und ist das stärkste Licht.“ „Ich gehe immer glücklicher aus den Beichtstühlen raus, als ich reingegangen bin.“ Oder auch diese Weisheiten eins tief im Glauben verwurzelten Christen:

„... die Kirche hat sich dem Worte Gottes anzupassen und nicht der Meinung der Menschen. Wir müssen als Kirche die Meinung der Menschen kennen, um dann das Wort Gottes entsprechend zu verkünden. Aber anpassen ... ist keine Kategorie des Evangeliums.“ „... Ich habe echt Sorge um die Menschen, die sich ihren Glauben selbst zurechtbiegen und die ihren Glauben sich selbst zurechtbauen und die nicht ehrfürchtig entgegennehmen, wie Christus ihn selbst uns anvertraut hat.“

„Die Familie hat auch immer eine religiöse Dimension, und an der Familie darf sich niemand vergreifen, sie ist heilig, weil sie ganz dem trinitarischen Bild Gottes entspricht. Der Mensch ist Gottes Ebenbild und die Familie ist das Ebenbild der Dreifaltigkeit. Diese theologische Dimension ist die Grundlage für unser christliches Menschen- und Familienbild." „Die große Kraftreserve unserer Kirche ist die kleine Hostie in der goldenen Monstranz, die aber der lebendige und ewige Christus in Person ist. ... Der Christ ist das, was er isst, nämlich der Leibe Christi.“

„Es ist die Freude an Gott, die uns die Welt wirksam umgestalten hilft. Und das ist die einzige Kraft, die ausreichen wird, auch wenn wir weniger Kirchensteuer oder was auch immer haben, dass die Kirche ihre Mission erfüllt. Und zwar nicht nur mit Ach und Krach, sondern auch ein bisschen mit Glanz und Gloria.“

Joachim Kardinal Meisner hatte Rückgrat, lebte aus dem – wie er es nannte – „Ernstfall des Glaubens“, dem Gebet, konnte unbequem und widerspenstig sein, aber in Erinnerung wird er denen, die ihn wirklich kannten und sehen konnten, als ein gottesfürchtiger frommer Mensch, der keine Angst vor dem Tod hatte und zu betonen wusste, dass man nicht tiefer – und gemeint war hier eher: nicht höher – fallen könne als in Gottes Hand.

Der in Breslau am Weihnachtstag 1933 geborene Joachim Meisner ließ sich vom Erfurter Bischof Hugo Aufderbeck prägen, dessen Weihbischof er 1975 wurde. Damals lernte er bald den Krakauer Bischof Karol Woityla kennen, mit dem ihn eine in vielen Glaubensfragen und Überzeugungen nahe Seelenverwandtschaft verband. Als Johannes Paul II. berief ihn dieser 1980 zum Bischof von Berlin, wo Meisner seine Distanz und sein Misstrauen zu den Kommunisten nie verschwieg oder aufgab. Als ihn der Papst 1988 mehr als ein Jahr vor dem Fall der Mauer von Ost-Berlin nach Köln schickte, entstand zunächst ein gespanntes Verhältnis des Breslauers zu den katholischen Rheinländern, das sich im Laufe von 25 Jahren arg abbaute. Schlesier, der mit seiner Familie auf der Flucht schließlich in Körner bei Mühlhausen und Thüringen landete, blieb er dennoch. Er habe nie nach Köln gewollt und meinte nach einem Vierteljahrhundert bei seiner Emeritierung im Jahr 2014: „Da wo man nicht hin will, ist man richtig.“ Heimgegangen ist der Breslauer Alt-Erzbischof von Köln am 5. Juli 2017 weitab von Köln in seinem Urlaubsort Bad Füssing.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz würdigte Kardinal Meisner als jemand, der „sein Amt als Dienst für Gott und die Kirche“ verstand. Er habe „stets engagiert seine Botschaft verkündet“. Unvergessen bleibe „sein Talent mitreißender Predigten und pointierter Vorträge“. Und: „Weltkirchlich wirkte er in verschiedenen Funktionen in Rom bis in sein hohes Alter mit. Von uns geht ein Seelsorger und Hirte, ein Bischof und Prediger, der für uns in lebhafter Erinnerung bleibt. Seine Frömmigkeit und sein Wunsch, in der Eucharistie und im Gebet Gott zu begegnen, haben sein Leben geprägt.“ Wohl wahr. Zu Meisners „Hinterlassenschaften“ gehört unter anderem und vor allem, dass es seit einigen Jahren im Kölner Maternushaus rund um die Uhr die Möglichkeit der Ewigen Anbetung gibt. Vielleicht als Substanz und Zeichen ein besonders wichtiges Erbe.

Manche seiner Äußerungen, mit denen der gelernte Bankkaufmann als Kardinal Diskussionen auslöste, erscheinen heute nicht ohne prophetische Grundlage. Schon früh stellte er in Frage, ob das „C“ bei der Union unter Merkel noch eine Berechtigung habe. Den Lebensschutz des Menschen von Anfang bis Ende sah er sträflich vernachlässigt, wobei er auch mit mancherlei Formulierungen zu provieren verstand. Seine Rückversicherung holte er sich stets bei dem, bei dem er auch seinen alles andere als kindischen, wohl aber kindlichen Glauben eines aufgeklärten Erwachsenen verankert wusste. Im tiefsten seines Herzens und seiner Seele war er trotz mancher Irritation, die er auslöste und die ihn auch bezüglich mancher unsanfter Reaktionen traf, in eine aus dem Glauben gebetteten Sicherheit verwurzelt, eines Tages im Haus des Vaters ankommen zu können. Die Kirche in Deutschland – und nicht nur die – hat eine mahnende und starke Persönlichkeit verloren, die allen Versuchen zum Trotz in keine billige Schublade passt.

kath.net dankt der "Jungen Freiheit" für die freundliche Erlaubnis zur Übernahme des Beitrags - Der hier vorliegende Text ist die ungekürzte Version.

Joachim Kardinal Meisner - Seine Abschiedspredigt als Erzbischof von Köln


Archivfoto Kardinal Meisner (c) Erzbistum Köln



© 2017 www.kath.net