23. September 2003 in Spirituelles
Zum Gedenktag des italienischen Heiligen am 23. September dokumentiert KATH.NET einen Reisebericht, den Paul Badde kurz vor der Heiligsprechung von Padre Pio in der "Welt" publizierte.
Rom (www.kath.net / pb) Rund acht Liter Myron entströmen pro Jahr den Gebeinen des heiligen Nikolaus in der Krypta von Bari wie einer tröpfelnden Quelle. Manna di San Nicola nennen die Bewohner der Stadt die Substanz, die sie an jedem 9. Mai dem Sarkophag durch ihren Bischof entnehmen lassen. Mit Wasser verdünnt wird das flüssige Manna für zahllose Pilger bis aus Russland in Fläschchen abgefüllt. Legenden voller Wunder ranken sich um die Essenz: wie das Leuchten eines Bougainvillen-Strauches, der sich einer alten Zypresse bemächtigt. Die Hafenstadt Bari kann man sich deshalb auch vorstellen als eine Hauptstadt jenes Reiches, das im 20. Jahrhundert noch einmal einen Menschen wie Padre Pio hervor gebracht hat, der nur wenig weiter nördlich gelebt hat.
Ich hatte von diesem neuen Heiligen erstmals vor 34 Jahren in einem flammroten Ferrari erfahren, dessen Fahrer mich von Mailand bis Bologna mitgenommen hatte und der in der Po-Ebene völlig entgeistert Gas gab, weil ihm so schleierhaft war, dass es im Sommer 1968 in Europa noch einen einzigen Studenten geben konnte, der noch nie von Padre Pio gehört hatte, dem größten lebenden Wohl- und Wundertäter, zu dem doch schon seit Jahrzehnten Menschen aus aller Welt nach Süditalien gepilgert kämen. Im Herbst des gleichen Jahres starb Pater Pio dann im apulischen San Giovanni Rotondo, exakt 50 Jahre nachdem der Kapuzinerpater die Wundmale Christi erhalten hatte.
Am 5. August 1918 öffnete sich auf seiner Brust eine Herzwunde, die sich nie mehr schließen sollte, am 20. September 1918 Wunden an den Händen und Füßen: Liebeswunden, wie er sie nannte und an denen er dennoch furchtbar litt, bevor er am 23. September 1968 an ihnen starb. Doch erst jetzt weiß ich, wie ignorant ich damals tatsächlich war, dass ich nicht einfach schnurstracks zu Pater Pio weiter gereist war, anstatt mit blöder Arroganz über meinen Chauffeur zu lächeln (weil ich doch gerade auf einer Pilgerfahrt nach Algerien war, in das Arkadien des seligen Albert Camus). Dieser Pater nämlich hat jeden Menschen beglückt, der ihn besuchte, höre ich jetzt von allen Seiten. Vielleicht hätte mir ein Besuch bei ihm ja viele spätere Umwege erspart.
Denn Francesco Forgione, wie der Ordensmann mit seinem Taufnamen hieß, war kein Literat und nicht nur als Ratgeber weltberühmt. Er war ein spirituelles Schwergewicht vom Kaliber eines Franziskus oder eines Johannes vom Kreuz, doch so beunruhigend zeitgenössisch, dass sich ihm die Intellektuellen Berlins oder Hamburgs ebenso wie die meisten Kirchgänger nördlich der Alpen bis heute fast nur durch den Filter der Ironie zu nähern vermögen. Denn er war so erratisch und fremd, dass neben ihm ein Mann vom Mars nicht fremder hätte sein können. Vielleicht geht es ja auch nur den Deutschen so, die sich selbst so fremd sind, ich weiß es nicht, aber weiß doch: dieses Leid haben die Menschen zwischen Mailand und Palermo nicht.
Im Gegenteil: Gott, da scheinen sich die Italiener alle miteinander einig, muss einen besonders glücklichen Tag gehabt haben, als er Padre Pio erschaffen hat, zu dem sie schon zu seinen Lebzeiten in Scharen pilgerten und der einem heute südlich der Alpen längst überall in jedem Taxi entgegen kommt, in jeder Kaffee-Bar, hinter jeder Kasse und wo er in Größen von 2 cm bis zu 2 Metern in Gips, Bronze und Marmor an allen größeren Tankstellen erhältlich ist. Hätte Italiens Seele ein Gesicht, würde es uns in diesem Jahrhundert wohl mit den Augen Pater Pios anschauen. Und doch wäre es ein Trugschluss anzunehmen, dass Pater Pio nicht auch den Italienern fremder war, als es der Fremde von Albert Camus jemals in Frankreich gewesen ist. Italien aber, und das ist offensichtlich, nimmt mit rätselhafter Liebe wie selbstverständlich an, dass hier noch einmal ein Mensch unter ihnen aufgestanden war, der vom Wunderbaren umgeben war wie ein Sommersee mit Mücken.
Pater Pio verkehrte mit Jesus, Maria und Joseph wie unsereins mit dem Bäcker, dem Metzger und dem Barmann dazu mit den Engeln und dem Satan. Ein Fall für den Psychiater? Doch für welchen? Dr. Seltsam? Dr. Merkwürdig? Die Kirche hat ihn schärfer geprüft als jeder Staatsanwalt. Von 1922 bis 1934 durfte er auf päpstliche Anordnung keine einzige öffentliche Messe lesen noch Beichte hören was er vorher und nachher bis zu 16 Stunden am Tag machte, weil der Zug der Menschen, die ihm ihr Herz ausschütten wollten, schier kein Ende nehmen wollte. Er hatte Ekstasen und Erscheinungen seit seinem fünften Lebensjahr und dachte als Kind, dass dies alltägliche Dinge aller Seelen seien. Seine Visionen waren ohne Zahl, aber auch ganz real waren die Nächte seiner Heimsuchungen, wo er am nächsten Morgen wie ein zusammengeschlagener Boxer in seiner Zelle gefunden wurde.
Seine immer offenen Wunden stanken nicht, sondern dufteten nach Rosen. Glaubwürdige Zeugen mehrerer Bilokationen der Fähigkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu erscheinen sind zahlreich. Er sprach und verstand Sprachen, die er nie gelernt hatte, und wirkte Wunder wie der heilige Antonius im Mittelalter, allerdings als Zeitgenosse Stalins, Hitlers, Mussolinis, Adenauers und Kennedys. Prominent ist der Fall der Sizilianierin Gemma di Giorgio geworden, die ohne Pupillen blindgeboren wurde, und seit einer Intervention Padre Pios wie eine Sehende lebt und arbeitet, vollkommen unerklärlich, als biologische Unmöglichkeit. Dem Pilger Karol Woytila aus Polen hat er schon 1947 prophezeit, dass er einmal Papst werden würde. Seine Laufbahn als Heiliger hatte freilich schon sehr viel früher begonnen.
Doch Heiligkeit, was ist das? Ein Heiliger, wer ist das? Das ist ein Mensch, sagt Dr. Navarro-Valls im Vatikan, auf den sich die Hand Gottes legt, und der sie nicht abzuschütteln versucht. Manche fragen mich, ob Padre Pio vielleicht seiner Stigmata wegen heilig wurde. Nein, sage ich ihnen, diese Wunden erhielt er, weil er ein Heiliger war. Seine Aufzeichnungen und Briefe dazu füllen allein aus der Zeit des 1. Weltkrieges schon Bände und viele Regale in dem alten Kloster, wo seine schlichte Zelle jetzt noch so bewohnt wirkt, als hätte er sie erst vor kurzem verlassen, bevor er gleich, gleich wiederkommen würde. Hier hat er seine letzten 50 Jahre verbracht, im Convento S. Maria delle Grazie, das eines der verstecktesten Häuser im Hochland des Gargano in der Ferse des italienischen Stiefels war, als er hierher kam, bevor es dann durch ihn zum größten Pilgerziel Italiens wurde. Mohnteppiche bedecken in diesen Tagen die Wiesen ringsum. Schwalbenkonzerte erfüllen am Abend und Morgen die Luft vor seinem Fenster, und in der Nacht das leise Läuten ferner Rinderherden in den Bergen.
Hier hat er 50 Jahre auf ein Ende seiner Schmerzen gewartet, völlig frei von der Sklaverei der Menschenfurcht: ein Mensch von Fleisch und Blut, der sich fast nur von Suppe ernährte, aber auch von einem gescheiten Bier pro Tag, und der sich kindlich heiter an einer Portion Tabak freuen konnte. Hier ist Beten für ihn wie Atmen geworden. In Büchern kann man Gott suchen, pflegte er zu sagen, aber nur im Gebet lässt er sich finden. Er betete immer. Dabei darf man sich die Art seines Gebets freilich nicht falsch vorstellen. Es war für ihn Handwerk, kein angestrengter Kopfstand der Seele. Die Perlen des Rosenkranzes die jede einzeln an ein komplettes Avemaria erinnern flossen ihm wie Wasser durch die Finger. Ein rumänischer Emigrant unterhält sich leise vor dem Schrein, das sein blutbeflecktes letztes Hemd verwahrt, mit einem Kapuziner. Aber Pater Pio war doch katholisch, gibt der dem Orthodoxen zu bedenken. Da lacht der Mann nur, der aus Los Angeles hierhin gepilgert ist: A saint is a saint.
Er war ein ewiges Kind, sagt ein anderer seiner Mitbrüder, der hier mit ihm gelebt hat, buon umore e dolore hätten ihn wie keinen zweiten gezeichnet. Doch gelitten hat er bis zum letzten Tag. Die letzten Jahre seines Lebens musste er im Rollstuhl zum Beichtstuhl gefahren werden. Das letzte Paternoster seiner letzten Messe war fast nicht mehr vernehmbar in der Anstrengung, die ihn die einzelnen Worte kosteten. In der Nacht darauf hatte er ausgelitten. Und morgen endlich wird er sicher nur noch lächeln, vielleicht hoch oben im Blau über dem Petersplatz, wo ihn dann tief unten ausgerechnet jener Papst in den Reigen der Heiligen einfügen wird, der ihm nun von Tag zu Tag selbst immer ähnlicher wird. Rom wird Kopf stehen. Denn das wollen die Menschen hier sehen: zwei Männer, die sich überbieten in ihrem Widerspruch zur Welt, als inkompatibler Gegensatz zu allem, was wir lieben, aufstörend und befremdend wie die Entdeckung Pater Pios aus dem Jahr 1952: Nur um eines beneiden uns Menschen die Engel: nicht für Gott leiden zu können.
(c) Paul Badde / Die Welt
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