'Domspatzen-Bericht entlastet Georg Ratzinger'

20. Juli 2017 in Interview


„Ich muss Georg Ratzinger in Schutz nehmen, denn all das hatte nichts mit ihm zu tun. Es hat auch nichts mit der katholischen Kirche per se zu tun.“ Yuliya Tkachova interviewt Michael Hesemann zur Berichterstattung über den Domspatzen-Skandal


Regensburg-Rom (kath.net) „Ich will nicht Schönreden, was an Widerwärtigkeiten und Gewalt an unschuldigen Kinderseelen verbrochen wurde. Das ist alles ganz schrecklich und ich bin froh, dass es endlich aufgearbeitet wird. Aber gleichzeitig muss ich Georg Ratzinger in Schutz nehmen, denn all das hatte nichts mit ihm zu tun. Es hat auch nichts mit der katholischen Kirche per se zu tun. Es waren Erziehungsmethoden, die damals an der Tagesordnung waren. Wir können froh sein, dass wir diese Zeit längst überwunden haben.“ Das erläutert der Historiker Michael Hesemann hinsichtlich einseitigen Pressevorwürfen Berichterstattung über die Missbrauchs- und Gewaltvorfälle bei den Regensburger Domspatzen, wie sie im Bericht des Bistums Regensburg am Dienstag öffentlich gemacht wurden.

Tkachova: Herr Dr. Hesemann, Sie haben als Historiker und Georg Ratzinger-Biograf den 440-Seiten-Bericht über die „Vorfälle von Gewaltausübung an Schutzbefohlenen bei den Regensburger Domspatzen“ gelesen, der am Dienstag in Regensburg der Presse präsentiert wurde. Samstag werden Sie in der Würzburger „Tagespost“ eine ausführliche Analyse dazu veröffentlichen. Schon jetzt werfen Sie großen Teilen der deutschen Presse eine „bewusst irreführende Berichterstattung“ vor. Woran machen Sie das fest?

Hesemann: An ihrem geradezu geifernden Sensationalismus und daran, dass sie ihren Lesern und Zuschauern eine undurchdringliche Melange aus Unappetitlichkeiten und Gewalt servieren, von der beim Konsumenten meist nur eines hängen bleibt: Dass Georg Ratzinger, der Bruder von Papst emeritus Benedikt XVI., irgendetwas damit zu tun hat, denn sein Name wird in jedem Bericht genannt. Auf geradezu perfide Weise frisst sich diese Salzsäure der Verdächtigung dann bis zu seinem berühmten Bruder durch. Dabei wird regelmäßig versäumt, auf das Wichtigste hinzuweisen: Nämlich darauf, dass der Bericht den Domkapellmeister Georg Ratzinger ausdrücklich entlastet.

Tkachova: Machen Sie es sich damit nicht zu einfach? Die BILD-Zeitung zitierte doch sogar einen Betroffenen mit den Worten „Ratzinger war ein notorischer Schläger“ und zieht das Fazit: „Papst-Bruder misshandelte Domspatzen.“

Hesemann: Sehen Sie, das ist sogar das beste Beispiel. Denn das Zitat ist nirgendwo in dem 440 Seiten starken Bericht zu finden. Es stammt vielmehr von einem Mann, der heute davon lebt, dass er damals bei den Domspatzen versagt hat: Alexander Propst (57), der mittlerweile durch jede deutsche Talkshow getingelt sein muss, er will ja sein Buch verkaufen. „Von der Kirche missbraucht“ heißt es, darunter geht’s nicht. Es muss schon „die Kirche“ sein, das wird am besten verkauft. Auch in Hamburg, Köln und Berlin, wo sich niemand sonst für die Zustände an bayerischen Internaten interessieren würde. Propst ist schlau, er weiß, wie er Schlagzeilen bekommt. Etwa, indem er Georg Ratzinger beschuldigt, der ein leichtes Opfer ist, weil er als 93-Jähriger keine Verleumdungsprozesse mehr führt. Dass der Bericht den Domkapellmeister ganz anders darstellt, das interessiert ihn nicht und die BILD-Zeitung offenbar auch nicht.

Tkachova: Was steht denn nun in dem Bericht?

Hesemann: Die Studie müsste eigentlich aus zwei Teilen bestehen, denn es geht um zwei völlig unterschiedliche Arten von Vergehen, die im verallgemeinernden Sprachgebrauch der Medien gerne unter dem Oberbegriff „Missbrauch“ zusammengefasst werden. Das ist perfide, denn der Leser versteht unter „Missbrauch“ zunächst einmal sexuelle Vergehen, und es inflationiert natürlich die Zahlen. Gemeint ist aber beides, der sexuelle Missbrauch Schutzbefohlener einerseits, der ein widerwärtiges Verbrechen ist, und brutale Erziehungsmethoden andererseits, die freilich ein breites Spektrum abdecken, von Rohrstock-Prügelorgien bis hin zur Ohrfeige. Zu dieser zweiten Kategorie gehören im vorliegenden Bericht 91 % der Fälle.

Die dokumentierten 67 Fälle sexuellen Missbrauchs wurden von neun Lehrpersonen in dem Zeitraum zwischen 1945 und 2015 begangen, die meisten davon an der Vorschule der Regensburger Domspatzen in Etterzhausen und Pielenhofen, die nie zum Wirkungsbereich von Georg Ratzinger gehörte. Zwei Täter waren in der Frühphase seines Wirkens am Domspatzen-Gymnasium in Regensburg beschäftigt, von denen einem nach nur zwei Jahren gekündigt wurde. Lediglich ein einziger Täter, Direktor des Gymnasiums, war länger im Dienst, als Georg Ratzinger seine Tätigkeit begann; er wurde 1971 entlassen. Doch der Bericht schließt kategorisch aus, dass Ratzinger etwas von den Übergriffen erfahren haben könnte, die den Opfern so peinlich waren, dass sie nicht einmal ihren Eltern davon erzählten. Das wahre Problem bei der Aufklärung von sexuellem Missbrauch ist doch immer, dass die meisten Opfer aus Scham schweigen. Wie hätte er also eingreifen oder meinetwegen auch bewusst wegschauen können, wenn er definitiv nichts wusste? Nach 1972, als sich Ratzinger langsam in Regensburg etablierte – in den ersten Jahren war der Domkapellmeister aus der oberbayerischen Provinz vom Regensburger Establishment eher argwöhnisch beäugt worden und fühlte sich „künstlerisch wie menschlich unterdrückt“, wie er selbst in „Mein Bruder, der Papst“ sagte – hat es nicht einen einzigen Fall sexueller Übergriffe am Regensburger Domspatzen-Gymnasium gegeben – bis auf den heutigen Tag. Das geht eindeutig aus dem Bericht hervor. Deshalb ist er ohne wenn und aber von jeder Mitwisserschaft und jedem Fehlverhalten in dieser skandalösen Frage freizusprechen. Daher besteht auch kein Grund, seinen guten Namen mit solch widerwärtigen Verbrechen in Verbindung zu bringen, wie es leider durch die Presse geschah.

Tkachova: Und was ist mit den Gewaltexzessen?

Hesemann: Auch hier ist wiederum zwischen der Vorschule und dem Gymnasium zu unterscheiden. Vor allem aber darf man nicht über den „Fallstrick des Anachronismus“ stolpern, also Vorgänge der Vergangenheit nach heutigen moralischen Maßstäben bewerten. Gewiss war die Zeit auf dem Vorschul-Internat der Domspatzen in Etterzhausen und Pielenhofen für viele Jungen geradezu traumatisch. Allerdings muss man gerechterweise ergänzen, dass es dort nicht anders zuging als an unzähligen anderen deutschen Internaten der 1940er bis 1970ger Jahre, an denen ebenfalls geprügelt und schikaniert wurde. Das ist schrecklich, das ist verwerflich, aber dem war nun einmal so. Ungerecht wird es, wenn man ein Internat herausgreift und so tut, als sei es ein Zuchthaus, die anderen aber alle Ferienlager gewesen. Sicher aber ist auch: Georg Ratzinger hat hier nie unterrichtet. Er lernte die Jungen erst kennen, als sie von der Vorschule auf das Domspatzen-Gymnasium kamen. Und da ging es, da sind sich so gut wie alle Befragten einig, ganz anders zu – sehr viel humaner. So bestätigt auch der Bericht, dass praktisch alle zitierten Zeugen den Wechsel von der Vorschule auf das Domspatzen-Gymnasium in Regensburg geradezu als Erlösung empfanden. Da sind Begriffe wie „Paradies“, „Zuckerschlecken“, „bessere Welt“ und „Himmel“ in Verbindung mit Regensburg zu lesen. Nur ein einziger von Hunderten Zeugen war gegenteiliger Meinung. In diesem Milieu wirkte Domkapellmeister Georg Ratzinger.

Tkachova: Haben ihm die Jungen denn nicht ihr Leid geklagt?

Hesemann: Er wurde doch als Teil des Systems empfunden! Zudem wurde er 1924 geboren und stammt damit natürlich aus einer Zeit, in der Prügelstrafen allgemein üblich waren. Da abzuschätzen, wo die nach damaligen Empfinden zulässigen Grenzen überschritten wurden, war wirklich schwierig. Tatsächlich zählt der Bericht aber nur zwei Momente auf, als ihn Schüler über die Gewaltexzesse in Etterzhausen unterrichteten. Das erste Mal 1970/71, als er sich gerade zu etablieren begann und von den Vorgängen an einer Schule, an der er eben nicht wirkte und verantwortlich war, (so der Zeuge) nichts hören wollte, und dann erst wieder um 1993. Doch schon 1989 schrieb er einen Brief an den Direktor des Domspatzengymnasiums, den der Bericht sogar reproduziert. Darin weist er diesen darauf hin, „dass in der Vorschule weiterhin die Prügelstrafe praktiziert werde“. Schon angesichts der Gefahr negativer Presseveröffentlichungen empfahl er dringendes Einschreiten. Das war natürlich zu einem Zeitpunkt, als rechtliche Klarheit bestand, als Prügelstrafen auch in Bayern längst verboten waren. Vor den 1980er Jahren ereigneten sie sich in einer rechtlichen Grauzone, wie jeder von uns – ich bin Jahrgang 1964 – noch weiß. Man kann jedenfalls nicht sagen, er hätte immer weggeschaut. Das stimmt einfach nicht.

Tkachova: Ein ganzes Kapitel des Berichtes soll sich mit seinen eigenen Übergriffen auf Domspatzen befassen…

Hesemann: Auch das ist so eine Erfindung der Presse. Denn es stimmt einfach nicht. Es sind gerade einmal acht Seiten, die sich mit ihm befassen, nämlich ein Exkurs am Ende des dritten Absatzes des 5. Kapitels von Abschnitt 2, laut der offiziellen Inhaltsstruktur: „2.5.3.3. Exkurs; Domkapellmeister R.“ Obwohl der Darstellung die Krampfhaftigkeit anzumerken ist, mit der nach Verwerflichem gesucht wird, stellten die allermeisten seiner Schüler Ratzinger ein überaus gutes Zeugnis aus. Er wird als „aufrichtig, kompetent und verständnisvoll“, „freundlich, ja liebevoll“, „sehr warmherzig“, „sehr beliebt“, „streng, gerecht aber trotzdem gutmütig“ und „von allen Kindern geschätzt“ beschrieben, als jemand, der etwa jeden Nachmittag „die bei ihm übriggebliebenen Kuchenstücke, Kekse und Bonbons“ mit den Domspatzen teilte. „Die Kinder sind ihm ohne Angst begegnet, er ist immer von Trauben von Kindern umlagert worden.“ Dabei sei er aber auch ein „absoluter Perfektionist“ gewesen, der „voll mit der Musik auf(ging), das war sein Leben“ und „unter dem Leistungsdruck, das Niveau des Chors zu halten“ stand. Immerhin: „Durch seine Leistungen wurden die Regensburger Domspatzen nie aus der Rangliste der Weltchöre verdrängt“. Negativ fielen eine hohe Emotionalität und ein gewisser Jähzorn auf, ein aufbrausendes, manchmal auch cholerisches Wesen, das sich aber ebenso schnell wieder beruhigen konnte. Es wurde wohl zurecht als Ausdruck seines „leidenschaftlichen Wirkens“ und Perfektionismus verstanden, ja als „spontane Ausbrüche eines Künstlers, denen unmittelbar nach der Probe eine freundliche, ja liebevolle Art folgte, die nie nachtragend war.“ Denn auch das muss gesagt werden: Ohne diesen Perfektionismus, ohne das Einfordern unbedingter Disziplin, wäre es ihm wohl kaum möglich gewesen, aus den bis dahin eher lokal bekannten Regensburger Domspatzen eine Institution von Weltrang zu formen, wahre Kulturbotschafter Europas und seiner musikalischen Tradition, die gleich zweimal in den USA (1983 und 1987) und Japan (1988 und 1991) auf Tournee gingen. Mit Keksen und Bonbons allein macht man aus widerspenstigen Knaben nun einmal keine großen Sänger und vor jedem Erfolg stehen, gleich auf welchem Gebiet, doch immer Disziplin, Leidenschaft und Selbstüberwindung.

Tkachova: Welcher Disziplinierungsmethoden soll er sich denn bedient haben?

Hesemann: Wenn wir uns auf den offiziellen Untersuchungsbericht beschränken und die maßlosen Übertreibungen der Boulevardpresse einmal außer Acht lassen, dann hat er nichts getan, was nicht jeder von uns, solange er vor 1968 geboren wurde, aus seiner eigenen Schulzeit noch kennt. Selbst seine lautesten Ankläger – übrigens eine Minderheit: Von 124 der befragten „Opfer“ wussten nur 55 Negatives über ihn zu berichten - beschrieben lediglich die damals leider landläufig gängigen Disziplinarmaßnahmen, von heftigeren Ohrfeigen, Ziehen an den Haaren, Werfen mit Stimmgabeln, Taktstöcken und dem Schlüsselbund bis hin zum Umwerfen eines Stuhls; auf den Rohrstock, der von den Lehrkräften der Vorschule eingesetzt wurde, hat er dagegen konsequent verzichtet. Als Körperstrafen 1980 an bayerischen Schulen verboten wurden, hielt er sich strikt daran. So räumt auch der Bericht ein: „Trotzdem fällt im Gegensatz zu zahlreichen anderen Beschuldigten auf, dass viele Opfer die allgemeine Menschlichkeit von R.(atzinger) schätzten und deshalb in vielen Fällen trotz Gewalt sogar (sic!) positive Erinnerungen mit ihm verbinden.“
Schon deshalb kommen auch die Untersucher Weber und Baumeister zu dem Fazit, dass man Ratzinger lediglich „mangelnde Reaktionen bei Kenntnis von körperlichen Gewaltvorfällen“ vorwerfen könne.

Tkachova: Was ist denn Ihr Fazit aus der Analyse des Berichtes?

Hesemann: Frei nach Horaz: Gewaltig kreißen die Berge, mächtig rauscht der Blätterwald, und geboren wird … zwar keine Ente, aber eine Maus. Noch einmal: Ich will nicht Schönreden, was an Widerwärtigkeiten und Gewalt an unschuldigen Kinderseelen verbrochen wurde. Das ist alles ganz schrecklich und ich bin froh, dass es endlich aufgearbeitet wird. Aber gleichzeitig muss ich Georg Ratzinger in Schutz nehmen, denn all das hatte nichts mit ihm zu tun. Es hat auch nichts mit der katholischen Kirche per se zu tun. Es waren Erziehungsmethoden, die damals an der Tagesordnung waren. Wir können froh sein, dass wir diese Zeit längst überwunden haben. Aber es ist höchst ungerecht, einen Mann, nur weil er selbst prominent ist und einen noch prominenteren Bruder hat, zum medialen Sündenbock zu machen. Da ist die böse Absicht, die dahinter steht, nur allzu offensichtlich. Denn der Bericht, der gerade veröffentlicht wurde, entlastet ihn. Jetzt würde der Anstand gebieten, einen 93jährigen Mann, der sich große Verdienste erworben hat und ohne den außerhalb Bayerns wohl niemand die Regensburger Domspatzen kennen würde, endlich in Frieden zu lassen.

Tkachova: Danke, Herr Dr. Hesemann

Domkapellmeister i.R. Georg Ratzinger


Foto oben: Georg Ratzinger (c) Michael Hesemann/kath.net


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