Jesus ist alles - Benjamin Brittens Raub der Lucretia

26. April 2018 in Kommentar


"In seiner Passion ist er unsere Hoffnung, Jesus Christus, unser Retter. Er ist Alles. Er ist Alles" Die neue monatliche kath.net-Kulturkolumne DIO von Anna Diouf


Linz (kath.net)
Modernere Musiksprache erscheint vielen Menschen eher sperrig, was vor allem daran liegt, dass der allgemeine musikalische Stand erschreckend niedrig ist: Bezüge und Traditionslinien können nicht erkannt und erspürt werden. Dies gilt etwa für Benjamin Britten (1913-1976), dessen Musik in einzigartiger und unverkennbarer Weise Tradition und Moderne verknüpft, und dessen Klangwelten schlicht himmlisch sind – kein Wunder, möchte man fast sagen, ist sein Geburtstag doch der Gedenktag der heiligen Cecilia. Seine Kammeroper „The rape of Lucretia“ ist ein Meisterwerk der Oper des 20. Jahrhunderts.

Es ist eine besondere Oper, zuerst, weil sie einen Bogen schlägt von der Moderne (die Oper wurde 1946 uraufgeführt) zu den Ursprüngen der Oper: Um 1600 „erfanden“ neapolitanische Komponisten die Oper, während sie eigentlich das antike Drama wiederbeleben wollten. Und ein antikes Sujet wählt Britten, indem er die römische Legende vom Raub der Lucretia vertont. Ebenso lässt er, entsprechend der griechischen Dramentradition, zwei Chöre, einen Mann und eine Frau, auftreten, die die Handlung kommentierend bzw. erklärend umrahmen.

Was aber ist das spezifisch Christliche an einer Oper, die eine Vergewaltigung und einen anschließenden Selbstmord thematisiert? Da die Gestalt der Lucretia eine vorchristliche ist, kann man in ihr eine Art „Protomärtyrerin“ für die Keuschheit erblicken – in einer Zeit, in der Tugend keinesfalls selbstverständlich ist, steht sie für eine Wahrheit, die dem Menschen unabhängig von seinem Bekenntnis ins Herz gelegt ist. Als Angehörige der „Heiden“ fehlt ihr aber nicht nur die Erfüllung der Verheißung, sondern auch die Verheißung des Heils, weshalb sich ihr der Selbstmord als einzig adäquate Antwort auf das Unrecht, das ihr zugefügt wird, darstellt. „Weit hergeholt“, könnte man sagen – wenn der „antike“ Chor nicht wäre, der uns diese christliche Perspektive des Stückes unmissverständlich deutlich macht. Der weibliche Chor verkündet schon zu Beginn Christus als den Ewigen, in dem auch das Leiden Lucretias seinen Sinn erhält:

How slowly time here moves towards the date...
This Rome still has five hundred years to wait
before Christ's birth and death,
from which time fled to you
with hands across its eyes.
But here, other wounds are made,
yet still His blood is shed.

Wie langsam doch strebt die Zeit dem Tage zu...
500 Jahre muss Rom noch warten,
bis zu Christi Geburt und Tod,
von dem aus die Zeit zu euch flieht, die Hände vor die Augen geschlagen. Doch obgleich hier andere Wunden geschlagen werden,
ist es doch Sein Blut, das vergossen wird.

Ist es nicht beeindruckend, hier am Beginn einer Oper eine Aussage zu finden, die für Christen eigentlich von höchster Bedeutung ist, oft aber nicht recht erfasst wird? Dass Christus in der Mitte, der Fülle der Zeit gekommen ist, und dass das, was sein Kommen vorwegnimmt, auch auf sein Kommen hin gedeutet werden muss – für so manchen Christen keine Selbstverständlichkeit, da, wo Gott nicht mehr als Herr der Geschichte erkannt wird, wo seine Offenbarung nicht mehr als historisches Geschehen, sondern eher als mythische Erzählung wahrgenommen wird.

Und schließlich, nach Lucretias Selbstmord, tritt wiederum der Chor auf. Der weibliche Chor fragt: „Is it all?“, „Ist das alles?“, klagt über das Leid und den Schmerz, den das Leben bringt und fragt immer wieder insistierend: Ist das alles? Der männliche Chor antwortet tröstend: Es ist nicht alles. Er skizziert kurz die Schwäche und den Fall des Menschen und schließt die Oper mit einem berührenden und wunderschönen Bekenntnis – das umso beeindruckender ist, wenn man Brittens Persönlichkeit bedenkt. Hier spricht kein Heiliger: Britten war nicht nur in seiner Beziehung zum christlichen Glauben und zur Kirche ambivalent – seine schwache körperliche Konstitution, seine Homosexualität, die Rücksichtslosigkeit, die er gegenüber Freunden und Mitarbeitern walten lassen konnte, nicht zuletzt die eher zaghaft und nur unwillig von der Rezeption zur Kenntnis genommenen, in ihrer Natur nicht gänzlich geklärten Beziehungen zu heranwachsenden Jungen (Wenn man auch annimmt, dass sie „platonisch“ waren). Hat man dies vor Augen, wird erst ersichtlich, welche Bedeutung es hat, dass ausgerechnet er eine Oper verfasst, deren Thema ein Loblied auf die keusche Tugend ist. Der Schöpfer dieses Werkes ist geradezu der Inbegriff des gebeutelten, ringenden, angefochtenen Menschen, den er beschreibt, und kann doch am Ende vertrauensvoll singen lassen:

For us did He live with such humility.
For us did He die that we might live,
and He forgives the wounds that we make
and the scars that we are.
In His Passion, He is our hope,
Jesus Christ, our Saviour.
He is all. He is all.

Für uns hat er gelebt in solcher Demut, für uns ist er gestorben, auf dass wir leben, und er vergibt die Wunden, die wir schlagen,
und die Narben, die wir sind.
In seiner Passion ist er unsere Hoffnung, Jesus Christus, unser Retter. Er ist Alles. Er ist Alles.



© 2018 www.kath.net