Der traurigste Rosenmontag der Geschichte

11. Februar 2018 in Chronik


Michael Hesemann erinnert an den Rücktritt von Papst Benedikt XVI. vor fünf Jahren


Vatikan (kath.net) Ich fühlte mich hundeelend an diesem Montagmorgen und ich weiß, dass es vielen ähnlich ging. Vielleicht hatte mich ein Grippevirus überwältigt. Übelkeit, Schüttelfrost und Schwäche hielten mich im Bett, während im Wohnzimmer unentwegt das Telefon klingelte. Ich beschloss, es zu ignorieren. Wahrscheinlich wollten mich Freunde überreden, mit ihnen den Düsseldorfer Rosenmontagszug anzuschauen, dachte ich mir. Kein Interesse, dieses Mal. Doch das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Irgendwann hievte ich mich aus dem Bett, schlich ins Wohnzimmer und griff zum Handy. Ich traute meinen Augen nicht, als ich auf das Display starrte: 18 SMS und 23 Anrufe waren gerade in meiner Abwesenheit eingegangen. Ich begann, die Textnachrichten zu lesen. Sie stammten von Journalisten wie von guten Freunden, die alle nach einer Antwort suchten, weil sie gerade das Unglaubliche erfahren hatten: »Der Papst ist zurückgetreten. Was wird nun aus der Kirche?«, lauteten sinngemäß die meisten, »Bitte rufen sie uns an!«

Ich war mir nicht sicher, ob ich mich inmitten eines Albtraums befand oder ob das alles wirklich geschehen war. An einen Karnevalsscherz, wie meine Kollegen in Köln, habe ich zu keinem Augenblick gedacht; dazu kamen die Nachrichten und Anrufe aus zu vielen Teilen des Landes, ja sogar aus den USA und Rom. Ich fuhr den Computer hoch und schaltete den Fernseher an, um Näheres über die Umstände zu erfahren. Während ich noch immer mit den Grippe-Symptomen kämpfte, verhalfen mir N24 und NTV dazu, in die bedrückende Wirklichkeit dieses 11. Februars 2013 einzutauchen. Auch wenn es mir noch immer schwer fiel zu glauben, was ich dort sah und hörte.

Dabei hätte ich es wissen müssen. Schon im Sommer 2010, als ihn der Münchener Journalist Peter Seewald für sein Buch Licht der Welt interviewte, hatte Benedikt XVI. erklärt: »Wenn ein Papst zur klaren Erkenntnis kommt, dass er physisch, psychisch und geistig den Auftrag seines Amtes nicht mehr bewältigen kann, dann hat er ein Recht und unter Umständen auch eine Pflicht, zurückzutreten.« Ein Jahr später erschien Mein Bruder, der Papst, für das ich mit Prälat Dr. Georg Ratzinger, den Bruder Benedikts XVI., ausführliche Gespräche geführt hatte. Am 13. September 2011 stellten wir das Buch gemeinsam im „Institut Papst Benedikt XVI.“ in Regensburg der Presse vor. Im Anschluss wurden wir von einem Redakteur der Bunte interviewt, als Georg Ratzinger auf die Frage nach einem möglichen Rücktritt seines Bruders antwortete: »Wenn es gesundheitlich nicht mehr geht, sollte mein Bruder den Mut und die Überwindung haben, vom Amt zurückzutreten. Aber noch ist es nicht so weit, er ist sehr aktionsfähig.«

Der Focus übernahm diese Meldung, und so kam es, dass sie von den mitreisenden Journalisten entdeckt wurde, als Benedikt XVI. anderthalb Wochen später Deutschland besuchte. Sofort sorgte sie für Spekulationen: Würde der Papst zu seinem 85. Geburtstag zurücktreten, den er im April 2012 feiern sollte? Georg Ratzinger dementierte ausdrücklich, dass solche Pläne existierten, und so gab ich es der Presse weiter. Noch zwei Wochen vor dem Papstgeburtstag rief mich John Follain, Vatikan-Korrespondent der Sunday Times, an und versuchte, mir Insiderwissen zu entlocken. Ich wimmelte ab. Natürlich litt er an Bluthochdruck und Arthrose, hatte er Schmerzen beim Gehen, weshalb er seit Oktober 2011 auf einer Plattform in den Petersdom geschoben wurde und ansonsten einen Stock benutzt. Er trägt einen Herzschrittmacher, hatte bereits 1991 einen leichten Schlaganfall erlitten und muss seitdem blutverdünnende Medikamente einnehmen, ist zudem auf dem linken Auge fast blind, während er auf dem rechten Ohr schlecht hört. Zudem hatte ihn der Besuch in Mexiko und Kuba nur zwei Wochen vor den Osterfeierlichkeiten gesundheitlich schwer mitgenommen. Doch mit einem Rücktritt zum 85. Geburtstag sei definitiv nicht zu rechnen, sagte ich Follain. Auch dem jüngsten Gerücht aus den Vatileaks-Enthüllungen, Kardinal Paolo Romeo habe bei einem China-Besuch den Tod des Papstes für November 2012 vorausgesagt, maß ich zunächst keinerlei Bedeutung zu; seiner Eminenz traute ich, bei allem Respekt, keine prophetischen Gaben zu.

Doch dann, in eben diesem Monat, fiel es mir sofort wieder ein, als ich Papst Benedikt XVI. zum ersten Mal seit der Sommerpause wieder aus der Nähe sah. Ich war von der „Fondazione Pro Musica e Arte Sacra“ eingeladen worden, am 11. November der vatikanischen Uraufführung von Georg Ratzingers großartiger Missa Anno Santo in der Sixtinischen Kapelle beizuwohnen. Doch als Benedikt XVI., auf seinen Stock gestützt, mit gebeugtem Rücken die Sixtina betrat, erschrak ich. Schmal war er geworden, müde wirkte er, noch breiter und dunkler wirkten die Ringe unter seinen Augen. Doch offenbar erholte er sich schnell. Die Musik muss wie ein Jungbrunnen auf ihn gewirkt haben, jedenfalls atmete ich auf, als er sichtlich erfrischt dem Chor und den Veranstaltern dankte, um danach wieder, sogar ohne den Stock zu gebrauchen, in sein ‚appartamento‘ zurückzukehren.

Als er schließlich am 6. Januar 2013 seinen treuen Sekretär Dr. Georg Gänswein in den Rang eines Erzbischofs erhob, hieß es einhellig unter uns Vatikanjournalisten, die sich allabendlich in der Trattoria La Vittoria gleich auf der anderen Seite der Via di Porta Cavalleggeri treffen: »Der Heilige Vater bestellt sein Haus.«

Am 8. Februar ging es erneut in die Ewige Stadt. Die Malteser hatten mich eingeladen, an ihrer großen Jubiläumswallfahrt teilzunehmen. Genau 900 Jahre war es her, dass Papst Paschalis II. die Bulle Pie postulatio voluntatis unterzeichnet hatte, die den Orden dem Schutz und der Jurisdiktion des Heiligen Stuhles unterstellte. Das sollte mit einem Pontifikalhochamt im Petersdom gefeiert werden, das von Kardinalstaatssekretär Bertone zelebriert wurde. Danach würde, ebenfalls im Petersdom, eine Papstaudienz stattfinden, bevor man in die Audienzhalle Pauls VI. zu einem festlichen Empfang lud.

Papst Benedikt wirkte an diesem Tag noch ein wenig gekrümmter, noch ein wenig filigraner als fünf Wochen zuvor, und als er seine Grußbotschaft verlas klang seine Stimme schwächer, als wir es gewohnt waren. Doch ansonsten gab er uns keinen Anlass zur Sorge. Im Gegenteil: Er sprach ausgiebig mit den Auserwählten, die ihm persönlich vorgestellt wurden, und immer wieder blitzte etwas Schalkhaftes aus seinen fröhlichen Augen.

»Aber was ist los mit Gänswein?«, fragte mich meine Kollegin Joan Lewis, die Rom-Korrespondentin des amerikanischen TV-Senders EWTN, die neben mir auf einem der Presseplätze in der sechsten Reihe saß. Ich richtete meine Kamera auf ihn. Tatsächlich, so hatte ich ihn noch nie erlebt, nicht ein einziges Mal in den fast acht Jahren dieses Pontifikats. Seine Augen wirkten schmal und verquollen, seine Wangen eingefallen, sein Mund merkwürdig verkniffen. Als Mann, den die Äußerlichkeiten eines anderen Mannes wenig interessieren, hatte ich mich immer darüber geschmunzelt, wie Vatikanjournalistinnen von ihm als »George Clooney in Soutane« geschwärmt, Donatella Versace ihm eine ganze Modekollektion gewidmet, die italienische Vanity Fair ihm, ausgerechnet zu seiner Bischofsweihe, eine Titelgeschichte mit der Headline »Schön sein ist keine Sünde« gewidmet hatte. Aber dass er eine gewisse souveräne Nonchalance ausstrahlte, einen Optimismus und eine Positivität, das schätzte auch ich immer an ihm. Es gibt nur wenige Audienzbilder von Georg Gänswein, auf denen er nicht lächelt, und manchmal verlieh er dem oft eher schüchtern wirkenden Papst eine Leichtigkeit, die dieser alleine nie hatte.

»Vielleicht ist er krank?«, versuchte ich, das völlig ungewohnte Erscheinungsbild zu erklären. Oder hatte ihn eine schlechte Nachricht aus dem Kreis seiner vielen Angehörigen erreicht, die ich fünf Wochen zuvor, beim Empfang nach seiner Bischofsweihe, alle kennenlernen durfte? Es dauerte nur 48 Stunden, bis ich die Antwort kannte.

Für den 11. Februar 2013 hatte der Papst ein Konsistorium angesetzt, eine Zusammenkunft der in Rom befindlichen Kardinäle. Eine Routinesitzung, nicht mehr. Kardinal Angelo Amato, Präfekt der Heiligsprechungskongregation, hatte gerade die neuen Heiligen der katholischen Kirche vorgestellt, zwei Ordensgründerinnen und die 800 Märtyrer von Otranto, die im 15. Jahrhundert einem Massaker durch die Türken zum Opfer gefallen waren. Mancher der Kardinäle mag da schon auf die Uhr geschaut haben, vielleicht weil er um 12.30 Uhr bereits zum Essen verabredet war. Doch an diesem Karnevalsmontag fiel die Mittagsmahlzeit nicht nur in Rom reihenweise aus. Mit einem dramatischen Schritt durchkreuzte Benedikt XVI. auch die Pläne aller, die zu wissen glaubten, was die nächsten Monate im Vatikan bringen würden. So ergriff er zum Ende der Sitzung noch einmal das Wort, um auf Latein jene Ansprache zu halten, die, wie keine andere, die Welt erschüttern würde:

»Liebe Mitbrüder!
Ich habe euch zu diesem Konsistorium nicht nur wegen drei Heiligsprechungen zusammengerufen, sondern auch um euch eine Entscheidung von großer Wichtigkeit für das Leben der Kirche mitzuteilen. Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben. Ich bin mir sehr bewusst, dass dieser Dienst wegen seines geistlichen Wesens nicht nur durch Taten und Worte ausgeübt werden darf, sondern nicht weniger durch Leiden und durch Gebet.

Aber die Welt, die sich so schnell verändert, wird heute durch Fragen, die für das Leben des Glaubens von großer Bedeutung sind, hin- und hergeworfen. Um trotzdem das Schifflein Petri zu steuern und das Evangelium zu verkünden, ist sowohl die Kraft des Körpers als auch die Kraft des Geistes notwendig, eine Kraft, die in den vergangenen Monaten in mir derart abgenommen hat, dass ich mein Unvermögen erkennen muss, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen.

Im Bewusstsein des Ernstes dieses Aktes erkläre ich daher mit voller Freiheit, auf das Amt des Bischofs von Rom, des Nachfolgers Petri, das mir durch die Hand der Kardinäle am 19. April 2005 anvertraut wurde, zu verzichten, sodass ab dem 28. Februar 2013, um 20.00 Uhr, der Bischofssitz von Rom, der Stuhl des heiligen Petrus, vakant sein wird und von denen, in deren Zuständigkeit es fällt, das Konklave zur Wahl des neuen Papstes zusammengerufen werden muss.

Liebe Mitbrüder, ich danke euch von ganzem Herzen für alle Liebe und Arbeit, womit ihr mit mir die Last meines Amtes getragen habt, und ich bitte euch um Verzeihung für alle meine Fehler. Nun wollen wir die Heilige Kirche der Sorge des höchsten Hirten, unseres Herrn Jesus Christus, anempfehlen. Und bitten wir seine heilige Mutter Maria, damit sie den Kardinälen bei der Wahl des neuen Papstes mit ihrer mütterlichen Güte beistehe. Was mich selbst betrifft, so möchte ich auch in Zukunft der Heiligen Kirche Gottes mit ganzem Herzen durch ein Leben im Gebet dienen.«

Man kann sagen, dass die 48 Kardinäle, die an diesem Vormittag in die Sala del Concistoro gekommen waren, wie vom Donner gerührt auf diese Worte reagierten. Erst Kardinaldekan Sodano durchbrach die Schockstarre, erhob sich und sprach aus, was in diesem Augenblick alle empfanden:

»Heiliger Vater, geliebter und verehrter Nachfolger Petri, wie ein Blitz aus heiterem Himmel hat diese Versammlung Ihre bewegende Botschaft gehört. Wir haben sie mit Fassungslosigkeit und beinahe ungläubig gehört. In Ihren Worten haben wir die große Liebe bemerkt, die Sie immer für die heilige Kirche Gottes hatten, für diese Kirche, die Sie so geliebt hat. Jetzt erlauben Sie mir, Ihnen im Namen dieser apostolischen Versammlung, des Kardinalskollegiums, im Namen Ihrer werten Mitarbeiter, zu sagen, dass wir Ihnen näher sind denn je, wie wir es in diesen leuchtenden acht Jahren Ihres Pontifikates waren… Natürlich leuchten auch die Sterne am Himmel immer weiter, und so wird unter uns immer der Stern Ihres Pontifikats weiterstrahlen.«

Dass Sodano dabei einen Zettel zur Hand nahm, auf dem er offenbar diese kleine Ansprache vorbereitet hatte, zeigte, dass zumindest er in die Pläne des Papstes eingeweiht worden war; vielleicht sogar bereits am Samstag durch Erzbischof Gänswein. Benedikts Geheimsekretär, Alfred Xuereb, soll sogar bereits eine Woche zuvor mit der Niederschrift des Rücktrittstextes beauftragt worden sein.

In den folgenden Stunden diskutierte die Welt das Unfassbare. Staatschefs, von Bundespräsident Joachim Gauck bis Bundeskanzlerin Angela Merkel, von Italiens Präsident Giorgio Napolitano bis Ministerpräsident Mario Monti, von Großbritanniens Premierminister David Cameron bis UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bekundeten ihre Hochachtung vor der Entscheidung des Papstes. Der Vorsitzende des „Zentralrats der Juden in Deutschland“, Dieter Graumann, dankte ihm für seinen »Kurs der Nähe und Freundschaft«; er habe dem jüdisch-christlichen Verhältnis nicht nur neue Impulse verliehen, sondern es vor allem mit Herzlichkeit erfüllt.

Der Deutschlandtrend des ARD-Morgenmagazins ermittelte, dass unglaubliche 70 Prozent der Katholiken in Deutschland und 52 Prozent aller Befragten mit der Amtsführung des Papstes zufrieden seien. Nur 24 Prozent gaben an, »weniger oder gar nicht einverstanden« mit den Taten und Worten Benedikts XVI. gewesen zu sein. Ein Pontifikat der »Pleiten, Pech und Pannen«, wie seine Kritiker behauptet hatten, konnte es also nicht gewesen sein. Selbst sein einstiger Kollege und langjähriger Gegenspieler Hans Küng zollte ihm Respekt. Nur Kardinal Stanislaus Dziwisz, der Erzbischof von Krakau und einstige Sekretär Johannes Paul II., fand kritische Worte: »Vom Kreuz steigt man nicht herunter.«

Was Dziwisz nicht begriffen hatte, war das unterschiedliche Amtsverständnis der beiden Päpste, so nahe sie sich menschlich und geistig auch standen. Johannes Paul II. war ganz und gar Papst, zu 100 Prozent in seinem Amt aufgegangen. Ich erinnere mich noch gut an seinen letzten Besuch in Polen, als Jugendliche sich abends vor dem Bischofspalais in der Franziskanerstraße versammelten, bis er endlich im Fenster erschien, mit ihnen sang und zu ihnen sprach. »Danke, Papst, wir lieben Dich!«, riefen sie ihm zu, bis er ihnen erklärte: »Der Papst ist jetzt müde. Wenn ihr den Papst liebt, dann geht jetzt nach Hause. Gute Nacht.« Aus dem Munde Benedikts XVI. habe ich nie etwas Vergleichbares gehört. Dass er eine »Grenze zwischen Mensch und Amt ganz deutlich spürt und seine Grenzen kennt«, erklärte mir Georg Ratzinger. Der Applaus, die Ehrungen, die Geschenke sind dem bescheidenen Theologen eigentlich unangenehm, doch er glaubt, so sein Bruder: »Als Papst muss man das alles mit offenem Herzen annehmen, als Person würde es ihm nicht zustehen.«

Diese Worte sind vielleicht der beste Schlüssel zum Verständnis für den Rücktritt: Dieser Joseph Ratzinger hat einen so großen Respekt vor dem Papstamt, dass er fürchtet, ihm nicht mehr gerecht zu werden. Doch gerade diese Demut, diese Bescheidenheit, dieses buchstäbliche Zurück-Treten vor der großen Aufgabe der Nachfolge Petri, für die er, der »einfache Arbeiter im Weinberg des Herrn«, sich zu schwach und zu unwürdig hält, machen seine wahre Größe aus. Er fühlte, dass seine Arme zu schwach wurden, um das Schiff Petri auch weiterhin in dem so heftigen Gegenwind zu lenken; also machte er den Weg frei für einen jüngeren Steuermann mit kräftigeren Schultern. »In seiner Bescheidenheit und Frömmigkeit ist das wohl die beeindruckendste Rücktrittserklärung der jüngeren Geschichte«, stellte der Spiegel-Kulturjournalist Matthias Matussek fest. Sie war, wie alles in seinem Pontifikat, getragen von Glaube und Vernunft.

Tatsächlich hat Benedikt, der Reformer, mit diesem mutigen Schritt auch das Papsttum für immer verändert. In den langen Leidensjahren Johannes Paul II. verbot es sich geradezu, das Wort »Rücktritt« in den Mund zu nehmen; wer immer es tat, musste sogleich wieder zurückrudern. Obwohl das Kirchenrecht ausdrücklich die Möglichkeit eines Amtsverzichtes bot, war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein alter und kranker Papst durchzuhalten habe, bis dass der Herr ihn abberief. Vielleicht hat aber gerade diese Erfahrung des Leidens seines Vorgängers Benedikt XVI. darin bekräftigt, es anders zu machen. Schließlich hatte er hautnah die Stagnation miterlebt, die das lange Sterben des großen Polen für die Arbeit der römischen Kurie bedeutete, das Machtvakuum, das so manchen Missstand wuchern ließ. So sehr der Ratzinger-Papst den Heroismus seines Freundes und Vorgängers auch bewunderte, durch sein öffentliches Sterben gegen die Verdrängung von Leid, Alter und Tod aus unserer Gesellschaft zu demonstrieren, so fremd muss dem Ästheten und Perfektionisten aus Bayern diese Rolle gewesen sein. Papst Johannes Paul II. lehrte durch starke Bilder, doch das Charisma Benedikts XVI. lag in klugen Worten und geschliffenen Predigten, die nicht selten filigrane Meisterwerke waren. Doch was, wenn etwa ein Schlaganfall ihm diese Möglichkeit rauben würde?

All das mag den Mann aus Marktl dazu veranlasst haben, nach reichlicher Überlegung und Meditation dieses ungeschriebene Gesetz zu brechen. So gab er den Päpsten der Zukunft endgültig die Freiheit, sich so oder so zu entscheiden, wenn die Last des Alters drückte: durchzuhalten oder zurückzutreten.

Michael Hesemann, Historiker und Autor, gilt als intimer Kenner der Kirchengeschichte. Gleich nach der Wahl Benedikts XVI. gab er (zusammen mit Yuliya Tkachova) zum Weltjugendtag in Köln die Papstbiografie "Benedetto!" (2005) heraus, mit Georg Ratzinger schrieb er "Mein Bruder, der Papst" (2011), für den Bildband "Der Papst in Deutschland" (2011) kommentierte er die darin erstmalig vollständig veröffentlichten Ansprachen und Predigten der Deutschlandreise, in der Doppelbiografie "Papst Franziskus. Das Erbe Benedikts XVI. und die Zukunft der Kirche" (2013) resümierte er die acht Jahre seines Pontifikats. Auch nach dessen Rücktritt hatte er mehrfach Gelegenheit, den emeritierten Pontifex in seinem Kloster "Mater Ecclesiae" in den Gärten des Vatikans zu besuchen.

Papst Benedikt XVI. tritt zurück - RÜCKTRITTSANSPRACHE als VIDEO



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