Religionspolitik taugt nicht zur Integration

23. Juli 2018 in Kommentar


Die Forderung, Muslime in das bestehende staatskirchenrechtliche System zu integrieren, ist abzulehnen. Der religiös neutrale Staat muss sich vom Staatskirchentum verabschieden. Gastbeitrag von Generalvikar Martin Grichting Neue Zürcher Zeitung


Zürich-Chur (kath.net/Neue Zürcher Zeitung) Das staatskirchenrechtliche System der Kantone steht mit der Frage, ob orthodoxe Christen, Muslime, Hindus und Buddhisten an dieses herangeführt werden sollen, am Scheideweg. Es geht um Gerechtigkeit: Soll man das System für alle öffnen, oder soll man es abschaffen? Formell betrachtet, führt beides zu Gleichbehandlung und damit zu Gerechtigkeit.

Handlungsbedarf ist gegeben: Waren vor vierzig Jahren noch 95 Prozent der Zürcher Kantonsbevölkerung reformiert oder katholisch, sind es derzeit noch 55 Prozent, auch weiterhin minus 1 Prozentpunkt jährlich. Und der Anteil der Konfessionslosen liegt bei fast 30 Prozent, Tendenz weiter steigend.

Nunmehr wird die Forderung erhoben, Muslime in das bestehende staatskirchenrechtliche System zu integrieren. Müsste man jedoch nicht zuerst fragen, ob dieses System noch taugt? Immerhin stammt es aus dem Mittelalter, in welchem bekanntlich eine grosse Nähe zwischen Staat und Kirche, politischer und kirchlicher Obrigkeit herrschte.

Was heute gilt, verdankt sich einem vormodernen protestantischen Staatskirchentum, der Symbiose eines sich als christlich verstehenden Staates mit einer Staatskirche. Den entscheidenden Fehler beging der Staat dann im 19. Jahrhundert. Obwohl er nun begann, sich als religiös neutral zu betrachten, trennte er sich nicht von seiner bisherigen Staatskirche. Sie wurde, wie man damals sagte, nicht «freigegeben», sondern «freigemacht»: Der selbst demokratisch gewordene Staat demokratisierte seine Staatskirche, statt ihr zu erlauben, sich nach eigenen, dem Glauben entspringenden Strukturprinzipien zu organisieren.

Sektor der staatlichen Rundumsorge

Zudem führte der Kanton die Religionsfreiheit nicht nur im Staat, sondern auch in seiner Staatskirche ein. Sie verlor dadurch ihr verbindliches Glaubensbekenntnis. Aus den mittelalterlichen Staatskirchen wurden auf diese Weise, wie Richard Bäumlin bemerkt hat, «Staatskirchen der freisinnigen Demokratie». So blieb die Zürcher Kirche als «Kirchenwesen» ein Sektor der staatlichen Rundumsorge, neben dem Schulwesen, dem Gesundheitswesen und dem Abfuhrwesen.

Erstes Opfer dieser verpassten Abnabelung vom nicht mehr christlichen Staat wurde die reformierte Zürcher Staatskirche selbst. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts stand sie vor der Spaltung in eine Bewegung, die an einem verbindlichen Bekenntnis festhalten wollte, und einen Flügel, der für «Bekenntnisfreiheit» eintrat. Man einigte sich schliesslich, sich gegenseitig leben zu lassen unter der Oberhoheit des finanziell fürsorglichen Staats. Der Preis war freilich hoch: Das einende Element dieser Religionsgemeinschaft liegt seither nicht mehr in ihrem religiösen Bekenntnis, sondern ausserhalb – im säkularen Staat, der die Kirchenstrukturen vorgibt und die Finanzierung regelt.

Staatlich betriebene Stärkung religiöser Autoritäten fördert Parallelgesellschaften und ist deshalb kontraproduktiv.

Das Überstülpen des Staatskirchentums der Demokratie auf die katholische Kirche hat bekanntlich zu einem Dauerkonflikt geführt, nicht nur im Bistum Chur. Röschenz liegt im Bistum Basel. Dieses System ist heute die Quelle zahlreicher Querelen zwischen Bischöfen, Priestern und Gläubigen, weil der Staat Letztere neben der eigentlichen Kirche in seinen staatskirchlichen Strukturen ‒ Kirchgemeinden und Landeskirchen ‒ nochmals organisiert und finanziell ausstattet. Der legitimen kirchlichen Leitung steht eine vom Staat geschaffene Struktur gegenüber, die einer eigenen Agenda folgt.

Orthodoxe Christen, die noch stärker bischöflich-hierarchisch organisiert sind, an das gleiche System heranzuführen, stellt die nächste Entwicklungsstufe der Zürcher Staatskirchentum-Kultur dar. Muslimen im gleichen Sinn einen «demokratischen Schweizer Islam» angedeihen lassen zu wollen, erscheint dann definitiv als Ausdruck von Realitätsverlust. Wer die Geschichte des Islam und die gesellschaftliche Realität in islamischen Ländern in Rechnung stellt, muss zur Einsicht gelangen, dass es vermessen ist, Muslimen entgegen den Grundsätzen ihrer Religion demokratische Strukturen aufzunötigen.

Zivilgesellschaftliches Projekt

Die Muslime selbst könnten die Integration ins Schweizer Staatskirchentum auch selbst kaum wollen. Es würde sie ebenfalls spalten und zersetzen. Man stelle sich vor, muslimische Gläubige ‒ Männer und Frauen ‒ würden gemäss Zürcher Kirchengesetz einen Imam abwählen oder über Bekenntnisfragen demokratisch entscheiden. Machiavellisten mögen solche Szenarien begrüssen, aber die Kollateralschäden staatlich induzierter Konflikte in Religionsgemeinschaften sind auch für sie nicht kalkulierbar.

Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob Religionspolitik in der angedachten Weise in den Dienst von Integration gestellt werden kann. Zweifellos bot die katholische Kirche aus dem Ausland stammenden Gläubigen eine Heimat und hat im 20. Jahrhundert deren gesellschaftliche Integration erleichtert. Das war aber nur möglich, weil die katholische Kirche schon zu Beginn der Massenimmigration eine überwiegend von Schweizern bevölkerte Kirche war. Dies unterscheidet sie von den islamischen und orthodoxen Gemeinschaften, deren Mitgliedern in der Mehrzahl eine ähnlich tiefe soziale und kulturelle Verwurzelung in der Schweiz fehlt und auf absehbare Zeit auch fehlen wird.

Wie dem auch sei: Die politische und gesellschaftliche Integration der Katholiken in den zuerst wenig geliebten Bundesstaat war nicht ein religionspolitisches, sondern ein zivilgesellschaftliches und politisches Projekt, das über hundert Jahre gedauert hat. Dabei hat sich in erster Linie eine politische Partei, die CVP, Verdienste erworben. Auch das Bildungswesen und das Militär wird man als wesentliche Katalysatoren erwähnen müssen.

Das Individuum im Vordergrund

Dieser praktischen Betrachtungsweise ist eine grundsätzliche zur Seite zu stellen: Wir leben in der Neuzeit, in welcher wesentlich das Individuum zählt. Der Staat muss deshalb primär die Voraussetzung für dessen soziale und gesellschaftliche Integration schaffen. Er tut dies, indem er den Einzelnen diskriminierungsfrei in den Blick nimmt, ihn bildet und an die Gesellschaft heranführt, primär im Bereich der Schule, des Arbeitsmarktes und des Sozialsystems, darüber hinaus durch die Ermutigung zu zivilgesellschaftlicher und politischer Mitwirkung und nicht zuletzt dadurch, dass er die Gleichheit im bürgerlichen Bereich für alle garantiert und durchsetzt. Wenn Integration gelingen kann, dann auf diesem Weg. Staatlich betriebene Stärkung religiöser Autoritäten fördert demgegenüber Parallelgesellschaften und ist kontraproduktiv.

Religionsgemeinschaften sollen nicht mehr eine Kopie staatlicher Strukturen sein, sondern sich ihrem je eigenen Selbstverständnis gemäss organisieren können.

Die eingangs gestellte Frage nach der Zukunft des staatskirchenrechtlichen Systems muss deshalb dahingehend beantwortet werden, dass der religiös neutrale Staat sich von seinem Staatskirchentum verabschieden muss. Das ist nicht nur gegenüber der wachsenden Zahl Konfessions- bzw. Religionsloser geboten.

Auch die Religionsgemeinschaften werden profitieren. Nicht mehr eine Kopie staatlicher Strukturen sollen sie sein, sondern sich ihrem je eigenen Selbstverständnis gemäss organisieren können. Nicht staatliche Kirchenorganisation und öffentliches Recht sind dafür erforderlich, es reichen Verträge. Italien hat inzwischen Vereinbarungen mit elf Religionsgemeinschaften abgeschlossen und dadurch mit wenig Aufwand eine Antwort auf den religiösen Pluralismus gefunden. Diesem Pluralismus gerecht zu werden, muss das Ziel von Religionspolitik sein. Trägt der Staat hingegen durch seinen Interventionismus Konflikte in die Religionsgemeinschaften hinein, verletzt er die Religionsfreiheit und entfremdet sich gläubige Menschen. Damit arbeitet er seinen Integrationsbemühungen gerade entgegen.

Der Autor Martin Grichting (Foto) ist Generalvikar des Bistums Chur - Wiedergabe des Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung der „Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)“

Archivfoto Generalvikar Markus Grichting




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