Als Hitler befahl, den Papst zu entführen

3. Oktober 2018 in Weltkirche


Pius XII. dachte vor 75 Jahren an Rücktritt - Von Michael Hesemann


Düsseldorf (kath.net)
Durch den Brief Benedikts XVI. an Kardinal Walter Brandmüller, der am Freitag durch eine gezielte Indiskredition von der BILD-Zeitung veröffentlicht wurde, fiel ein Schlaglicht auf eine fast schon vergessene Episode der jüngeren Kirchengeschichte. In seinem neuen Buch „Der Papst und der Holocaust“, das am 9. Oktober im Herbig-Verlag erscheint, widmet sich der Historiker Michael Hesemann den dramatischen Ereignissen vor 75 Jahren, die Pius XII. veranlassten, seinen Rücktritt in Erwägung zu ziehen.

In der Nacht vom 11. auf den 12. September 1943 überquerte eine Maschine der Reichsluftwaffe zunächst, von Italien kommend, die Alpen und dann das gesamte Deutsche Reich. Erst in den frühen Morgenstunden landete sie bei Rastenburg in Ostpreussen, wo Adolf Hitler sein Hauptquartier, die „Wolfsschanze“ eingerichtet hatte. Ihr einziger Passagier war der neu ernannte „Höchste SS- und Polizeiführer in Italien“, SS-Obergruppenführer Karl Wolff. Er sollte seinem „Reichsführer“ Heinrich Himmler, aber auch Hitler persönlich über die turbulenten Ereignisse der letzten Tage Bericht erstatten und neue Befehle empfangen.

Der einstmals treueste Verbündete des „Reiches“, Italien, war seit Mussolinis Sturz zu Hitlers größtem „Sorgenkind“ geworden. Am 25. Juli 1943, nachdem die Alliierten auf Sizilien gelandet waren und unaufhaltsam Richtung Norden vorrückten, wurde der bereits auffällig gealterte und nahezu senile „Duce“ vor den „Großen Faschistischen Rat“ geladen und mit 19 zu 8 Stimmen aus dem Amt gewählt. Der Rat beschloss seine Selbstauflösung, die Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie, die Unterstellung der Streitkräfte unter das Kommando des Königs und Neuwahlen für ein demokratisches Parlament. Marschall Pietro Badoglio, der ehemalige Gouverneur von Libyen, sollte eine Übergangsregierung bilden.

Mussolini aber wurde im Krankenwagen ins Gefängnis gebracht. Während man den „Duce“ im Gran Sasso, einem Skigebiet hoch in den Bergen des Appenin, versteckte, nahm Badoglio die Verhandlungen mit den Alliierten auf, die am 8. September zu einem Waffenstillstand führten.

Noch am selben Tag gab Hitler seinen Truppen den Befehl, Italien zu besetzen und in Rom einzumarschieren. Damit waren auch Pius XII. und der Vatikan in höchster Gefahr, die Hitler nicht ganz zu Unrecht verdächtigte, an der Verschwörung gegen Mussolini beteiligt gewesen zu sein. Dokumente im Vatikanarchiv zeugen davon, dass der Papst die Pläne der italienischen Putschisten kannte und für sie bereits im Vorfeld Friedensfühler nach Washington und London ausgestreckt hatte. „Der Heilige Vater ist der Meinung, dass man etwas unternehmen muss“, notierte Msgr. Tardini vom Staatssekretariat nach Erhalt einer verschlüsselten amerikanischen Nachricht zum bevorstehenden Regimewechsel: „Er kann eine Intervention nicht zurückweisen, aber sie muss unter strengster Geheimhaltung (segretissimamente) stattfinden.“

Schon bei der Nachricht vom Putsch gegen den „Duce“ hatte Hitler befohlen, „Mussolini zu befreien, den Papst und den König zu liquidieren“. Das jedenfalls sagte Oberst Erwin von Lahousen, Offizier der Abwehr, vor dem Nürnberger Gerichtshof aus. Er gehörte dem Verschwörerkreis um Admiral Canaris an, der zu diesem Zeitpunkt noch auf den geeigneten Moment für einen Staatsstreich wartete. Sein Vorgesetzter, Generalmajor Hans Oster, hatte ihn im Beisein von Canaris über den Befehl unterrichtet. „War es die Absicht, den Papst zu entführen oder welche Aktion sollte gegen ihn unternommen werden?“, fragte ungläubig der Untersuchungsrichter in Nürnberg, „Nein, sie wollten ihn töten“, war sich Oberst Lahousen sicher. Bei der Lagebesprechung Hitlers mit seinen Generälen an jenem 25. Juli 1943 enthüllte der Diktator weitere Einzelheiten seines Plans:

„Ich gehe in den Vatikan sofort hinein. Glauben Sie, dass mich der Vatikan geniert? Der wird sofort gepackt. Da ist vor allem das gesamte Diplomatische Korps drin. Das ist mir wurscht. Das Pack ist da, das ganze Schweinepack holen wir heraus ... Was ist schon ... Dann entschuldigen wir uns hinterher, das kann uns egal sein. Wir führen dort einen Krieg ... Ja, da werden wir Dokumente kriegen, da holen wir was heraus an Verrat.“

Am nächsten Tag sprachen sich Dr. Goebbels und Außenminister Ribbentrop ausdrücklich gegen „solche Maßnahmen“ aus, die sie für „außerordentlich verhängnisvoll in Bezug auf die Weltwirkung“ (so Goebbels in seinen Tagebüchern) hielten. „Unser Volk blickt über vieles hinweg“, will Ribbentrop geantwortet haben, „doch wenn wir den Vatikan angreifen, werden wir mit Sicherheit einen Bürgerkrieg in Deutschland haben, und das nur eine Stunde nach dem Abwurf der ersten Bombe.“ Es schien, als habe sich der Choleriker Hitler daraufhin wieder beruhigt.

Dass dem nicht so war, musste Wolff erfahren, als er sechs Wochen später auf Befehl Hitlers nach Ostpreußen geflogen wurde, um erst Himmler und dann auch dem „Führer“ über die aktuelle Lage in Italien Bericht zu erstatten. Denn kaum hatte er seinen Vortrag beendet, kam Hitler auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Obwohl es über die Geheimbesprechung keine zeitgenössischen Aufzeichnungen gibt, wurde ihr Wortlaut später von Wolff fast vollständig rekonstruiert und niedergeschrieben. Als der SS-Mann am 28. März 1972 von einem kirchlichen Untersuchungsrichter des Erzbistums München dazu befragt wurde, beeidete er, „die reine Wahrheit gesagt zu haben“. Heute befindet sich das Protokoll in den Akten des Seligsprechungsprozesses in Rom. Da mir eine Kopie vorliegt, bin ich in der Lage, dieses brisante Dokument im Originalwortlaut zu zitieren.


(Hitler): Ich wünsche, dass Sie mit Ihren Truppen im Rahmen der deutschen Gegenmaßnahmen gegen diesen unerhörten Badoglio-Verrat baldmöglichst den Vatikan und die Vatikanstadt besetzen, die einmaligen Archive und Kunstschätze des Vatikans sicherstellen und den Papst nebst der Kurie ‚zu seinem Schutz’ nach Norden verbringen, damit er nicht in alliierte Hände fallen oder unter deren politischen Druck und Einfluss geraten kann. Je nach der politischen und militärischen Entwicklung werde ich den Papst möglichst in Deutschland oder im neutralen Liechtenstein unterbringen lassen. Bis wann können Sie diese Aktion frühestens durchführen?“

Wolff stockte der Atem, doch er ließ sich nichts anmerken. So versuchte er, zunächst Zeit zu gewinnen. Momentan sei er damit beschäftigt, in Südtirol neue SS-Verbände auszuheben, zudem müssten bei der Bergung der Kunstschätze und des Vatikanarchivs „erfahrene Spezialisten“ gefunden werden, die mindestens Latein und Griechisch „in Wort und Schrift“ beherrschten. Daher könne die Aktion frühestens in 4-6 Wochen anlaufen, unter Umständen noch später.

„Hitler (ungeduldig): „Das erscheint mir zu lange! Beschleunigen Sie die unbedingt notwendigen Vorbereitungen nach Möglichkeit und berichten Sie mir persönlich unter 4 Augen etwa alle 2 Wochen über den Fortschritt und Stand der Angelegenheit. Am liebsten hätte ich den Vatikan sofort (Hervorhebung im Original) angepackt und ausgeräumt.“

Wolff enthielt sich weiterer Einwände, um, wie er schreibt, seiner Dienstenthebung zu entgehen: „Denn im Hintergrund warteten bereits genügend andere hohe, ehrgeizige SS-Führer sehnsüchtig darauf, sich durch möglichst schneidige und skrupellose Durchführung eines derartigen Sonderauftrages die Anerkennung Hitlers nebst Auszeichnung und Beförderung verdienen zu können.“
Also meldete er sich alle zwei Wochen ... und ließ Zeit vergehen. Denn Wolff wusste, wie viele ranghohe Offiziere, dass Hitlers Krieg nicht mehr zu gewinnen war.

Weder wollte er seinen Namen „mit dem politischen und historischen Makel einer mir befohlenen Verschleppung des Vatikans in Unehre bringen“, noch sich den letzten Ausweg verbauen. Denn wenn es eine Möglichkeit gab, mit den Alliierten in Kontakt zu kommen und einmal einen Waffenstillstand zu vereinbaren, dann, so ahnte Wolff, ging das nur über den Vatikan.
Doch er wusste auch, dass er Hitler nicht ewig hinhalten konnte. Also begab er sich Anfang Dezember 1943 erneut ins Führerhauptquartier Wolfschanze, um dem Diktator seinen Plan gründlich auszureden.
Der Faschismus sei tot. Kein einziger Faschist hätte Mussolini geholfen, der am 12. September von der SS befreit, zuerst zu Hitler und dann nach Saló am Gardasee, sprich: in den von Wolff kontrollierten Norden Italiens gebracht wurde. Die Italiener seien kriegsmüde. Die einzige Autorität, die es im Lande noch gäbe und die von allen respektiert würde, sei die katholische Kirche. Daher hätte sich in den letzten Monaten eine „Politik der leichten Hand“ bewährt: Wolff erwies der Geistlichkeit den einen oder anderen Gefallen, der Klerus riefe zum Gehorsam gegenüber der deutschen Obrigkeit auf. Angesichts der geringen Truppenstärke, die ihm zur Verfügung stünde, sei dies der einzige Weg, die besetzten Gebiete ruhig zu halten. Zwar sei er jetzt in der Lage und jederzeit bereit, Hitlers Befehl ausführen, doch der „Führer“ möge die Folgen bedenken:

„Wolff: „Meiner Beurteilung nach würde eine Besetzung des Vatikans und Verschleppung des Papstes sowohl bei den deutschen Katholiken in der Heimat und an der Front als auch bei allen Katholiken in der übrigen Welt und bei den neutralen Staaten zu äußerst negativen Rückwirkungen für uns führen, die in keinem Verhältnis zu dem vorübergehenden Vorteil der Ausschaltung des Vatikans aus der Politik und der Erbeutung der vatikanischen Archive und Kunstschätze stehen.“

Das musste auch Hitler einsehen und damit war der Plan zunächst vom Tisch, glaubte zumindest Wolff. Doch er irrte. 1998 entdeckte die italienische Historikerin Anna Lisa Carlotti in einem Mailänder Archiv einen Brief des Faschistenführers Paolo Porta aus Como an seinen Kollegen Vincenzo Costa in Mailand, datiert auf den 26.9.1944. Porta, so heißt es darin, hatte von einem hohen SS-Offizier Details über einen Attentatsplan mit dem Codenamen „Operation Rabat-Föhn“ erfahren, den Himmler und Gestapo-Chef Heinrich Müller im Dezember 1943 auf Befehl Hitlers ausgearbeitet hätten. Männer der 8. SS Kavallerie-Division „Florian Geyer“ sollten, als italienische Partisanen verkleidet, in den Apostolischen Palast eindringen, alle Mitglieder der Kurie töten und den Papst als Geisel nehmen. Deutsche Truppen der Panzerdivision „Hermann Goering“ würden daraufhin den Vatikan stürmen, „um den Papst zu befreien“. Würde Pius XII. nicht bei den Kämpfen ums Leben kommen oder von den Partisanen „auf der Flucht erschossen“ werden, würde man ihn „zu seinem Schutz“ nach Deutschland bringen. Die ganze Welt gäbe dann den Italienern die Schuld, die Deutschen aber würden als Helden gefeiert. Wenn man schließlich im Vatikan genügend belastende Dokumente „gefunden“ hätte, könnte die Kirche der Verschwörung angeklagt und mit Massendeportationen katholischer Geistlicher begonnen werden. Die Aktion würde anlaufen, wenn der Papst es wage, öffentlich “zugunsten der Juden zu protestieren“.

Das alles ahnte Pius XII. bereits, als am Morgen des 10. Septembers 1943 eine Division deutscher Fallschirmjäger über die Via Aurelia auf Rom und den Vatikan vorrückte, wie ein Abgesandter des italienischen Generalstabes den Substituten des Staatssekretariats, Msgr. Giovanni Battista Montini warnte. Sofort bestellte Kardinalstaatssekretär Maglione den neuen deutschen Botschafter beim Heiligen Stuhl, Ernst von Weizsäcker, ein und bat ihn, von dem Oberkommandierenden der deutschen Truppen, Generalfeldmarschall Albert Kesselring, die Versicherung einzuholen, dass der Vatikanstaat nicht besetzt würde.

Bis zum Nachmittag war Weizsäcker nicht in der Lage, Kesselring zu erreichen, während Einheiten der Wehrmacht bereits das Kolosseum und die Pontifikalbasilika S. Maria Maggiore erreicht hatten. Am Abend hatten sie ganz Rom unter ihre Gewalt gebracht. Damit war der Vatikan von den Deutschen umzingelt und der Gnade von Wehrmacht, Waffen-SS und Gestapo ausgeliefert, scheinbar „Himmler näher als dem Himmel“, wie ein deutscher Offizier in seinem Bericht nicht ohne Sarkasmus feststellte.

Pius XII. hatte sich gründlich auf diesen Tag vorbereiten können, denn er war vorab über die Pläne der Nazis informiert worden. Als Generalmajor Oster von Hitlers Befehl auf der Lagebesprechung vom 25. Juli erfuhr, war ihm klar, dass er den Papst unverzüglich warnen musste, schon damit keine ihn und die Verschwörer in der Abwehr inkriminierenden Dokumente in die Hände der Gestapo fielen. Da Müller bereits in Haft saß, mussten andere die Rolle des Kuriers übernehmen.

Schließlich empfahl Oberst Freytag von Loringhoven, den Chef der italienischen Abwehr, General Cesare Amé, zu informieren, der wiederum über gute Kontakte in den Vatikan verfügte. Zusammen mit Admiral Canaris und Oberst Lahousen flog Freytag von Loringhoven am 29. Juli nach Venedig, wo sie im Hotel Danieli mit General Amé verabredet waren. OKW-Chef Keitel hatte den Flug als „Überprüfung der italienischen Bündnistreue“ ausdrücklich genehmigt. Während die drei Deutschen am 31. Juli ihre He 111 zum Rückflug nach Berlin bestiegen, kehrte Amé im Auto nach Rom zurück. Dort informierte er nicht nur den Papst, er streute auch so gezielt Gerüchte über die geplante Ermordung oder Entführung Pius XII., dass Vatikan-Botschafter Ernst von Weizsäcker von allen Seiten darauf angesprochen wurde. In den folgenden Monaten versuchte er immer wieder, eine Bestätigung für einen solchen Befehl zu bekommen – vergeblich.

Dabei, so Nicolai Freytag von Loringhoven, der Sohn des infolge des 20. Juli 1944 von den Nazis ermordeten Abwehroffiziers, spielte Weizsäcker, ohne es zu ahnen, „damit genau die Kugel der Abwehr … die SS-Pläne betr. Papst und König kamen so vorerst einmal ad acta.“
Spätestens am 3. August 1943 war Amés Warnung im Vatikan angekommen. Gleich am nächsten Tag lud Kardinalstaatssekretär Maglione die 14 im Vatikan residierenden Kardinäle in seine Wohnung, um sie über die Lage zu informieren, die er als „schmerzhaft und bedrohlich“ bezeichnete. Die Deutschen drohten, mit 60.000 Mann gegen Rom zu ziehen, es bestünde auch die akute Gefahr einer Invasion des Vatikans. Sich offensichtlich auf Amé berufend, erklärte er: „Unter anderem wurde von der italienischen Regierung in Erfahrung gebracht, dass der Heilige Vater nach München verschleppt werden soll.“ Die Leiter der Kongregationen (Kurien-Ministerien) sollten für den Fall einer raschen Evakuierung einen gepackten Koffer bereithalten.

Die Bewaffnung der Schweizergarde wurde verstärkt, gleichzeitig aber der Befehl ausgegeben, im Fall eines deutschen Angriffs keinen Widerstand zu leisten. Wahrscheinlich wollte man jeden Vorwand für ein Blutvergießen vermeiden, bei dem, wie es Hitlers Plan war, auch der Papst bedroht wäre. Im ganzen Vatikan wurden wichtige Dokumente versteckt, speziell die Korrespondenz mit den Alliierten und die Belege für Hilfsaktionen zugunsten der verfolgten Juden.

Pius XII. schließlich deponierte in der Schublade seines Schreibtisches seine Rücktrittserklärung: den Deutschen würde nicht der Papst, sondern nur Kardinal Pacelli in die Hände fallen. Die Kardinäle sollten sich in diesem Fall in das neutrale Portugal begeben und dort auf einem Konklave den neuen Papst wählen.

Die Gefahr verdichtete sich, als am 9. September, einen Tag vor dem Einmarsch, das faschistische Blatt „Il Popolo di Roma“ erklärte, der Heilige Stuhl habe eine entscheidende Rolle beim Abschluß des Waffenstillstandes der Badoglio-Regierung mit den Alliierten gespielt. Umgehend dementierte Msgr. Montini gegenüber Botschafter von Weizsäcker, während der „Osservatore Romano“ in seiner Ausgabe vom 10. September, die am Vorabend erschien, kategorisch erklärte, „dass diese Informationen völlig frei erfunden sind.“ Damit entfiel der gesuchte Vorwand für eine Besetzung des Vatikans.
Trotzdem lagen in den ersten Tagen der deutschen Besatzung bleierne Angst und Unsicherheit in der Luft. Drei Tage lang blieben die Pforten des Petersdomes geschlossen. Die Menschen verriegelten ihre Häuser und Geschäfte. Die Straßen waren fast menschenleer. Nur wer etwas Dringendes zu erledigen hatte, huschte aus dem Haus, um so schnell wie möglich wieder dorthin zurückzukehren. Andere nahmen Flüchtlinge auf. „Halb Rom versteckt jetzt die andere Hälfte“, lautete ein geflügeltes Wort dieser Zeit. Alles blickte voller Sorge und Hoffnung auf den Vatikan, der jetzt nicht nur an Hitlerdeutschland grenzte, sondern sogar völlig umzingelt war. Eine breite weiße Linie, von den Deutschen auf das Pflaster des Petersplatzes gepinselt, markierte die Grenze. Sie wurde bei Tag und bei Nacht von deutschen Fallschirmjägern bewacht. Als die Presse schrieb, der Papst sei jetzt ein Gefangener der Deutschen, kündigte US-Präsident Roosevelt an, er werde Rom, den Vatikan und den Papst befreien. Pius XII. aber wollte jede Eskalation vermeiden, die Gegenmaßnahmen der deutschen Besatzer provoziert hätte. Immerhin hatte ihm Kesselring ausdrücklich versichern lassen, „dem Gebiet des Vatikans und seiner (extraterritorialen) Liegenschaften den absolutesten Respekt entgegenzubringen“ Auch der von Kesselring eingesetzte „Stadtkommandant von Rom“, Generalmajor Rainer Stahel, zeigte sich konziliant. So ließ der Papst, freilich nach langem Zögern, im „Osservatore Romano“ eine Erklärung der deutschen Regierung veröffentlichen, in der es hieß, das Reich würde wie bisher die Souveränität und Integrität des Vatikans respektieren. Vatikan-Botschafter Ernst Freiherr von Weizsäcker zeichnete verantwortlich für diese Garantie.

Doch noch stand das neue Verhältnis des Vatikans zu den deutschen Besatzern vor seiner größten Bewährungsprobe. Wie würde es den rund 8000 römischen Juden, wie den fast 2000 jüdischen Flüchtlingen, die Hilfsorganisationen in das bislang sichere Rom geschleust hatte, unter ihrer Herrschaft ergehen? So wurde der „längste Winter“ der römischen Geschichte, die neun Monate bis zum Abzug der Deutschen im Juni 1944, auch zur Bewährungsprobe für den Papst, während das Damokles-Schwert Hitlers über ihm hing.



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