9. Oktober 2018 in Spirituelles
In einem Test waren jene, die den Weg der Vergeltung für richtig hielten, am Ende unzufriedener als die Vergleichsgruppe ohne Revanchsgedanken. Gastkommentar der Religionspsychologin Martha von Jesensky
Zürich (kath.net) Wer betrogen, verletzt, verleumdet oder beleidigt wird, leidet gleich mehrfach. Durch die Ungerechtigkeit selbst, die ihm zugeführt wurde, aber auch durch die negativen Gefühle, wie Wut, Enttäuschung, Traurigkeit oder Scham. All das erschöpft den Betroffenen, zwingt ihn immer wieder über das Geschehene nachzudenken, er fühlt sich vom Schicksal benachteiligt. Eine solche Gefühlsverfassung bedeutet Mehrfachbelastung, der Betroffene steht unter Dauerstress. (Vgl. Prof. Robert D. Engricht, Universität Wisconsin)
Was nun? Ein Weg wäre Rache zu üben. Das verschafft zwar eine kurze Befriedigung, nicht aber eine langfristige. Das haben die Psychologen um Kevin Carlsmith von der Colgate-Universität in Hamilton in einem Experiment gezeigt. Diejenige Probanden (Testpersonen), die den Weg der Vergeltung für eine Ungerechtigkeit für richtig hielten, waren am Ende der Testphase unzufriedener als die Vergleichsgruppe ohne Revanchsgedanken.
Misshandlungen schaden nicht nur der Seele, sie können auch Lebensbiografien zerstören.
Eine andere Möglichkeit, um mit Verletzungen umzugehen, ist die Verdrängung eines erlittenen Unrechts. Ein Davonlaufen vor den eigenen Gefühlen. Auch für die Pinnebergerin Anke Hiddfeld schien dies als einzige Methode zu sein, um innerlich mit ihrer Verletzung aus der Kindheit fertig zu werden: Wiederholte Misshandlungen durch den alkoholisierten Vater. Später brach sie den Kontakt zu ihrer Eltern komplett ab. Bis sie merkte, dass die Wunden nicht schließen wollten. Sie kamen ihr immer wieder ins Gedächtnis.
Dann entschloss sie sich für einen anderen, bis dahin undenkbaren Weg. In einem Buch Du sollst Vater und Mutter ehren?, schildert sie ihre Geschichte. Sie stellte sich ihren Gefühlen und konfrontierte schließlich auch die Eltern mit der Vergangenheit.
Der Vater bat seine Tochter um Verzeihung, und Anke Hiddfeld gewährte sie ihm. Heute sagt sie: Ich habe nicht vergessen, aber ich habe ihm vergeben. Weil ich verstanden habe, dass auch meine Eltern mit ihrer eigenen Geschichte nicht anders sein konnten, als sie waren. Danach fühlte sie sich befreit von Groll, Angst und Trauer. (Vgl. Psychologie Heute, 09/2018)
Der Persönlichkeits- und Entwicklungspsychologe Professor Mathias Allemand, erklärt: Wenn Menschen im Alltag ständig darüber nachdenken, wie sie sich für das erlittene Unrecht rächen könnten, kostet das viel Zeit und Energie Demgegenüber verzeihen hilft, geschehenes Unrecht zu verarbeiten, loszulassen und in den eigenen Lebenslauf zu integrieren. Das heißt: zu akzeptieren, dass Verletzungen zum Leben gehören. Wir tun einander ständig weh, oft schon wenn wir Erwartungen eines anderen nicht erfüllen.
Viele Menschen empfinden die Geste der Vergebung noch immer als Geschenk desjenigen, der verletzt wurde, an denjenigen, der ihm übel mitgespielt hat. Die Psychologin Verena Kast erklärt: In diesem Falle springt das Opfer sozusagen über seinen Schatten, um den Täter freizusprechen. Doch neuere Forschungen zeigen, dass dies ein großes Missverständnis ist denn es geht zunächst nicht um den Täter, sondern um die Person, die verzeiht: Kast sagt: Verzeihen führt zu größerer Freiheit und lässt uns das Leben aktiv gestalten. Man tritt aus der Opferrolle heraus. (PH, Sept. 2018)
Die Psychologen nennen das Selbstheilungsprozess. Ziel ist, einen Strich unter das Geschehene zu ziehen für sich selbst. Es finden intensive innere Selbstgespräche statt, eine mentale, gedankliche Bewältigung eines Ereignisses, das zunächst Enttäuschung, Wut, Ärger, Verletzung und seelische Schmerzen auslöste. Man spürt dem Ereignis in sich nach, forscht nach Auswirkungen, beschäftigt sich mit den geschlagenen Wunden am Ich - und fragt sich dabei auch, wie wichtig einem der andere eigentlich ist. (Reinhard Tausch)
Aber genügt das? Im Sinn des Evangeliums ist Vergebung mehr als ein selbtstherapeutischer Akt. Es ist ein Gebet, ähnlich dem Gebet des ersten christlichen Märtyrers Stephanus, der, nachdem er gedemütigt und gesteinigt wurde, nichtsdestotrotz, für seine Peiniger betete: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Dann sank er in die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! (Apg. 7, 59-60)
Ich weiß, so etwas übersteigt unsere Kräfte. Aber es lohnt sich ein solches Gebetsniveau anzustreben. Es hilft nicht nur unserem eigenen Seelenheil, sondern auch der Seelenrettung des Peinigers.
Dr. phil. Martha von Jesensky (Foto) ist Religionspsychologin und praktizierende Katholikin. Die Schweizerin führte lange eine eigene Praxis in Zürich, ihren (Un-)Ruhestand verbringt sie in Matzingen TG.
Foto (c) Martha von Jesensky
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