26. Oktober 2018 in Kommentar
SATIRE: Tumulte in Jerusalem, so titelt die Babylon-Times, wie aus einem jüngst ausgegrabenen Tontafelarchiv hervorgeht. Vor 2600 Jahren kommentiert ein Journalist am Euphrat die Ereignisse im fernen Westen. Von Helmut Müller
Babylon (kath.net) SATIRE: Ein Prophet genannter Mann namens Jeremia hat nach einer Autorenlesung aus seiner jüngsten Schriftrolle für tagelange tumultartige Unruhen gesorgt. Tumulte in Jerusalem, so titelt die Babylon-Times; (wie aus einem jüngst ausgegrabenen Tontafelarchiv hervorgeht). Vor gut 2600 Jahren berichtet ein politischer Kommentator am Euphrat über Ereignisse im fernen Westen und kommentiert sie. Aus dem Akkadischen übersetzt von Helmut Müller
Im 12. Jahr Nebukadnezars, 5. Monat. Ein Prophet genannter Mann, namens Jeremia hat nach einer Autorenlesung aus seiner jüngsten Schriftrolle für tagelange tumultartige Unruhen gesorgt. Um die Ernsthaftigkeit seiner Lesung zu unterstreichen, läuft der Prophet Tage danach mit einem Joch durch die Straßen um buchstäblich vor Augen zu führen, was dem Volk blüht, falls es seine Worte nicht Ernst nimmt. Darauf hin greift ihn sein ärgster Kritiker, der sich auch Prophet nennt, Hananja an, reißt ihm das Joch von den Schultern, zerbricht es und äußert sich theatralisch: So spricht der Herr: Ebenso will ich zerbrechen das Joch Nebukadnezars, des Königs von Babel, ehe zwei Jahre um sind, und es vom Nacken aller Völker nehmen. Der Prophet verlässt wie ein geprügelter Hund die Szene. Allerdings kommt er tags darauf abermals mit einem Joch, dieses Mal mit einem eisernen und äußert sich ähnlich theatralisch wie sein Kritiker: So spricht der Herr: Du hast hölzerne Jochstangen zerbrochen; so hast du nun eiserne Jochstangen an ihre Stelle gesetzt. Denn so spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Ein eisernes Joch habe ich allen diesen Völkern auf den Nacken gelegt, dass sie untertan sein sollen Nebukadnezar, dem König von Babel, und ihm dienen, und auch die wilden Tiere habe ich ihm gegeben. Höre doch, Hananja! Der Herr hat dich nicht gesandt; aber du machst, dass dies Volk sich auf Lügen verlässt. Darum, so spricht der Herr: Siehe, ich will dich vom Erdboden nehmen; dies Jahr sollst du sterben, denn du hast sie mit deiner Rede vom Herrn abgewendet.
...Anlass der Tumulte nach der Lesung aus der neuesten Schriftrolle des Propheten ist vermutlich folgende Stelle: So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Bessert euer Leben und euer Tun, so will ich euch wohnen lassen an diesem Ort. Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: Hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel! Sondern bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt einer gegen den andern und gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen keine Gewalt übt und nicht unschuldiges Blut vergießt an diesem Ort und nicht andern Göttern nachlauft zu eurem eigenen Schaden, so will ich euch immer und ewiglich wohnen lassen an diesem Ort, in dem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe. Aber nun verlasst ihr euch auf Lügenworte, die zu nichts nütze sind. Ihr seid Diebe, Mörder, Ehebrecher und Meineidige und opfert dem Baal und lauft fremden Göttern nach, die ihr nicht kennt. Und dann kommt ihr und tretet vor mich in diesem Hause, das nach meinem Namen genannt ist, und sprecht: Wir sind geborgen, und tut weiter solche Gräuel. Haltet ihr denn dies Haus, das nach meinem Namen genannt ist, für eine Räuberhöhle? Siehe, ich sehe es wohl, spricht der Herr.
Mit diesen Sätzen hat er wohl alle Anwesenden gegen sich aufgebracht:
Zum einen die Anhänger der Reform des verstorbenen Königs Josia, der er eigentlich selbst anhängt. Kritik übt er aber an der blauäugigen Umsetzung der Reform etwa mit dem Gestus: Wir schaffen das, mit dem Tempel in unserer Stadt und unserem Gott Zebaoth sind wir ein starkes Volk. Außerdem sind wir nicht allein. Die Ägypter werden uns nicht im Stich lassen. Gemeinsam werden wir die babylonische Vorherrschaft beenden und wir können weiter leben wie bisher.
Die andere, liberale Fraktion will auch weiter leben wie bisher. Die bunte Vielfalt der Kulturen und Gottheiten, denen sie vor Jahrhunderten in diesem Landstrich und jetzt vom Euphrat und Tigris begegnen, ist weiterhin faszinierend, lasziv, betörend, ekstatisch, für jeden ist etwas dabei. Zeitgemäß leben, das Leben genießen, an Exotischem sich berauschen. Dagegen ist der Tempelkult Tugendterror, monoton und ihr Gott ein Spaßverderber, der nichts und niemanden neben sich gelten lässt.
Kein Wunder ist der Autor umstritten. Der Ruf eines Berufspessimisten geht ihm voraus. Schlechtredner, Schwarzseher, Spaßverderber und Unkenrufer sind auch nicht schmeichelhaft. Damit tritt er ausnahmslos allen auf die Füße, der blauäugigen, liberalen politischen Fraktion ebenso, wie der heuchlerisch, korrupten konservativen Priester-Kaste. Auch Schnittmengen beider Fraktionen sind nicht gut auf ihn zu sprechen. Alle haben sie ihn schon einmal in einer Zisterne versenkt und wollen ihn weiterhin mundtot machen, aber er kann es einfach nicht lassen. Er kann nichts für sich und bei sich behalten und ist in seinem Reden und Schreiben geradezu inkontinent. Damit redet er sich um Kopf und Kragen.
Andererseits ist er ein klarer Kopf. Er erkennt die eigene politische Ohnmacht seines Volkes, hält keine umstürzlerischen Reden und revoltiert nicht gegen die babylonische Vormacht. Er ist ganz Gottesgelehrter. Ihm geht es nur um eine wahrhaftige Beziehung zu seinem Gott. Er will diese Beziehung in die Herzen schreiben, wie er sagt, nicht bloß in Stein meißeln oder im Opferrauch aufsteigen lassen wie seine konservativen Gegner. Er ist Realist und rät davon ab an der Machtbalance etwas zu ändern und mit den Ägyptern zu paktieren. Er hat eine klare Vorstellung von dem Unheil, das die Truppen Nebukadnezars anrichten werden, wenn sein Volk sich mit den Ägyptern einlassen sollte.
Nicht so sein Kontrahent Hananja, der auch Gottesgelehrter ist; dieser mischt sich politisch ein. Er setzt auf eine schon besiegte Macht jenseits der Mauern Jerusalems und glaubt allen Ernstes der Macht diesseits der Mauern Jerusalems, nämlich der Nebukadnezars, mit seinem Gerede vom Tempel etwas entgegen setzen zu können.
Dieses Volk von gesichtslosen Querulanten, blauäugigen Ideologen und verbohrten Betonköpfen im fernen Westen hat der Militärmacht Nebukadnezars nichts entgegenzusetzen. Der einzige, der das zu wissen scheint, ist besagter Prophet, auch auf seine Weise ein Betonkopf. Politisch ein Pragmatiker und religiös kompromisslos, ringt er einzig und allein um einen wahren und wahrhaftigen Glauben an seinen Gott Zebaoth. Das ist innerhalb der Mauern Jerusalems nicht ungefährlich. Ein Kollege namens Urija ist vor Jahren sogar aus seinem Exil in Ägypten durch eine Geheimdienstaktion des judäischen Königs entführt und in Jerusalem mit dem Schwert erschlagen worden. Soweit der Bericht und Kommentar des Auslandskorrespondenten der Babylon Times und das ausgegrabene Tontafelarchiv noch zu entziffern war.
Anmerkung 1: Einen Verlust der Mitte bzw. eine Verschiebung derselben sowie Tumulte an den Rändern gab es also schon im Alten Orient. Fake News, Wir-schaffen-das-Gestik, Religion und Politik, Zusammenprall und Diffusion von Kulturen, Vielfalt, Reform, Bewahren und Bewähren damals und heute zu verorten, das überlasse ich dem Leser und lasse mich gern durch Kommentare belehren.
Anmerkung 2: Das Datum 12. Jahr Nebukadnezars im 5. Monat ist dem Anfang des 28. Kapitels des Buches Jeremia entnommen, etwa 593 v. Chr., 6 Jahre vor der Zerstörung Jerusalems. Die imaginäre Autorenlesung aus der Schriftrolle Jer. Kapitel 7 hat die Ereignisse des 28. Kapitels zur Folge. In den Kapiteln 26-29 und 36-45 finden sich verschiedene Berichte über Jeremias Schicksal. Kap. 26 erzählt Jeremias Ergehen nach der Tempelrede aus Kap. 7. In Kap. 27+28 wird eine Zeichenhandlung berichtet: es geht um das Joch des Königs von Babel: Jeremia geht mit einem Joch durch die Stadt und fordert dazu auf, sich unter das Joch der Babylonier zu beugen, statt den Krieg zu riskieren. Der "Heilsprophet" Hananja zerbricht dieses Joch, doch von Gott, der Jeremia ja den Auftrag gegeben hatte, kommt keine Hilfe. Erst die spätere Geschichte gibt Jeremia Recht: Hananja stirbt und Jerusalem wird erobert.
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