9. November 2018 in Chronik
Vatikandokumente beweisen: Man plante die größte humanitäre Rettungsaktion der Geschichte - Pius XII. wollte alle Juden in Deutschland aus Hitlers Machtbereich retten. Von Yuliya Tkachova
Vatikan (kath.net) Als vor 80 Jahren in Deutschland die Synagogen brannten, schwieg der Vatikan. Stattdessen plante man in Rom die größte humanitäre Rettungsaktion der Geschichte. Kardinal Eugenio Pacelli, der Staatssekretär Pius XI. (1922-1938) und spätere Papst Pius XII. (1939-1958), wollte praktisch alle noch in Deutschland verbliebenen Juden aus Hitlers Machtbereich evakuieren. Nur drei Wochen nach der Kristallnacht fragte er über die diplomatischen Vertretungen des Heiligen Stuhls nach Beschäftigungsmöglichkeiten für deutsche Juden in potentiellen Aufnahmeländer an. Exakt zwei Monate nach den November-Pogromen, am 9. Januar 1939, schickte er ein Rundschreiben an 68 Erzbischöfe in 17 Nationen, darunter die meisten klassischen Einwanderungsländer auf dem amerikanischen Kontinent sowie Australien, und bat um 200.000 Visa praktisch für alle deutschen Juden. Das beweisen sensationelle Dokumente, die der deutsche Historiker Michael Hesemann (54) im vatikanischen Geheimarchiv entdeckte. In seinem gerade erschienenen Buch Der Papst und der Holocaust (LangenMüller-Verlag) veröffentlicht er sie erstmals im Original.
Hesemann: Diese Dokumente beweisen, dass die Behauptung, der Vatikan habe sich nicht für das Schicksal der Juden in Nazi-Deutschland interessiert, absolut falsch ist. Gerade Kardinalstaatssekretär Pacelli hatte sich immer für eine Aussöhnung mit dem Judentum eingesetzt und unterhielt schon früh Kontakt zu führenden Vertretern der zionistischen Bewegung. Zudem hatte er als Nuntius in Deutschland zwölf Jahre lang Hitlers Aufstieg zur Macht beobachten können und wusste, dass dieser von Hass zerfressene Fanatiker zu keiner Mäßigung in der Lage war. Mit der Pogromnacht hatte die Gewalt gegen Juden im Reich eine neue Dimension erreicht. Als einer der Ersten erkannte Pacelli ganz klar, welche Gefahr ihnen jetzt drohte. Darum galt es, schnell und im größtmöglichen Rahmen zu handeln. Das tat er, dazu war er sofort bereit. 234.000 Juden lebten damals in Deutschland. Dass er sich um 200.000 Visa bemühte, kann nur eines bedeuten: Er wollte sie alle evakuieren!
Für den Fall, dass ein Exemplar des in lateinischer Sprache verfassten Rundschreibens in die Hände der Nazis fiel, bat er dabei ausdrücklich nur um Visa für katholische Nichtarier, also Konvertiten, die nach den Nürnberger Rassegesetzen ebenfalls als Juden galten. Hesemann: Es gab gleich nach der Kristallnacht im Reich Kundgebungen gegen das Weltjudentum Juden und seine schwarzen und roten Bundesgenossen. In Münster und München stürmte der aufgehetzte braune Mob die Residenzen der Bischöfe, die zuvor Juden geholfen hatten, und warf die Fensterscheiben ein. Ein offenes Eintreten für die Juden hätte die katholische Kirche im Reich massiv gefährdet. Doch niemand konnte der Kirche einen Vorwurf machen, dass sie sich für Katholiken jüdischer Abstammung einsetzte. Daher benutzte Pacelli eine Art Codewort!
Tatsächlich belegt schon die Zahl der erbetenen Visa, dass Juden und nicht ausschließlich Konvertiten gemeint waren, von denen es in ganz Großdeutschland einschließlich Österreichs damals nur 16.000 gab. Zudem bittet der Vatikan in dem Rundschreiben die Regierungen ausdrücklich, den Flüchtlingen eigene Sakralbauten und Schulen zu errichten und alles bereitzustellen, dass sie ihre religiösen Sitten und Traditionen fortführen können.
Hesemann: Diese Forderung macht nur dann Sinn, wenn man begreift, dass Juden gemeint waren, die Synagogen, jüdische Schulen und koscheres Essen brauchten. Katholische Flüchtlinge hätten die vor dem Konzil weltweit einheitliche lateinische Messe auch in den bereits vorhandenen Gotteshäusern feiern, ihre Kinder auf bestehende katholische Schulen schicken können. Auch in den Antwortschreiben, die Hesemann im Vatikanarchiv sichtete, war nur von Juden die Rede. Hesemann: Der Pacelli-Code wurde also gleich verstanden.
Den Dokumenten zufolge erklärte sich der Vatikan bereit, für alle jüdischen Flüchtlinge Transitvisa zu besorgen und die Kosten für ihre Überfahrt zu übernehmen. 1939 durften Juden zwar das Deutsche Reich verlassen, die Ausfuhr von Devisen war ihnen jedoch untersagt. Immer wieder fand der Historiker in den Archiven Dokumente, die den in die Millionen gehenden Zahlungsverkehr belegen.
Trotzdem scheiterte die gutgemeinte Initiative an der mangelnden Bereitschaft der Staaten, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Irland nahm gerade einmal 90 Juden auf, Brasilien versprach 3000 Visa, stellte aber nur 1000 aus, Argentinien folgte seinem Beispiel. Auch die anderen südamerikanischen Staaten taten sich schwer. Lediglich die Dominikanische Republik war bereit, bei Bedarf alle halbe Jahre bis zu 800 Visa auszustellen, wenn der Nuntius den eitlen Diktator Trujillo persönlich im Namen des Papstes darum bat. Erst als schon Millionen von Juden ermordet waren, erlaubten die Briten die Einreise tausender nach Palästina. Hesemann: Letztendlich konnte der Vatikan bis 1945 über 40.000 Juden mithilfe von Visa in sichere Länder schleusen. Es hätten so viel mehr sein können, hätten die Staaten früh genug kooperiert. Zumindest jedoch kann man dem späteren Papst Pius XII. nicht vorwerfen, nicht früh genug alles Menschenmögliche versucht zu haben, um eine größtmögliche Anzahl Juden vor der drohenden Katastrophe der Schoah zu retten.
kath.net-Buchtipp:
Der Papst und der Holocaust
Pius XII und die geheimen Akten im Vatikan.
Erstmalige Veröffentlichung der brisanten Dokumente
Von Michael Hesemann
Hardcover
320 Seiten; 30 SW-Fotos
2018 Langen/Müller
ISBN 978-3-7844-3449-0
Preis Österreich: 28.80 EUR
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