14. Jänner 2019 in Kommentar
Der von der Natur emanzipierte, kulturell entwurzelte und auf Konsum fixierte Zeitgenosse scheint nicht in der Lage zu sein, auf den drohenden demographischen Kollaps zu reagieren. Gastbeitrag von Dominik Lusser/Stiftung Zukunft CH
Winterthur (kath.net/Stiftung Zukunft CH) Die Richtung der gesellschaftlichen Veränderung wird heute weitgehend durch die Ausweitung des Marktes auf alle Lebensbereiche sowie durch links-liberale Emanzipationsideologien vorgegeben. Was beide eint, ist die Rücksichtslosigkeit gegenüber den natürlichen und kulturellen Gegebenheiten, in die das menschliche Leben gewöhnlich eingebettet ist. Das Ergebnis ist eine existentielle Krise, die einerseits viele Einzelschicksale kennt, andererseits aber die westliche (einst christlich-abendländische) Zivilisation auch in ihrer Gesamtheit bedroht.
Die Parteien bis weit in die Mitte hinein lassen sich gesellschaftspolitisch von der postmodernistischen Gender-Theorie leiten, die den Menschen als von der Natur unabhängiges, modellierbares soziales Konstrukt versteht. Zuerst war das Kapital frei, dann die Waren, dann die Dienstleistungen und nun sind eben die Personen dran. Eine bessere Ideologie als Gender konnte dem Neoliberalismus gar nicht passieren, schrieb die Schweizer Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli 2017 in der Basler Zeitung. Aus Menschen würden neu zu beschriftende lebendige Münzen.
Fertilität, Alterung, Migration
Während die Befreiung vom Geschlecht (und den damit zusammenhängenden verbindlichen Formen des Zusammenlebens Ehe und Familie) als Inbegriff des Fortschritts gilt, werden seriöse Wissenschaften sträflich übergangen. Auch die Demographieforschung gehört zu diesen Wissensgebieten, die nicht im politischen Trend liegen, weil sie bei näherer Betrachtung die kolossale Fehlentwicklung der letzten Jahrzehnte schonungslos aufzeigen.
Die auch an den Universitäten eher vernachlässigte Demographieforschung liefert wichtige Grundlagen und Orientierung für gesellschaftliche und politische Entscheide, indem sie hauptsächlich über die Parameter Fertilität, Alterung und Migration Veränderungsprozesse in der Bevölkerungsstruktur analysiert sowie zukünftige Entwicklungen einschätzt. Wie dringend notwendig Demographieforschung und eine neue Demographiepolitik wären, darauf hat der renommierte deutsche Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg bereits 2015 in der WirtschaftsWoche hingewiesen: Niemand stellt sich dem Problem, dass die im Inland fehlenden Geburten nicht auf Dauer durch die Geburten anderer Länder kompensiert werden können. Seither hat sich die demographische Lage aber keineswegs entspannt. Im Gegenteil.
Seit Jahrzenten werden in den meisten Ländern Europas deutlich zu wenig Kinder geboren. Wegen der zunehmenden Alterung müssen verhältnismässig immer weniger Erwerbstätige für immer mehr Rentner aufkommen. Die Systeme der sozialen Sicherheit stossen an ihre Grenzen. Gleichzeitig ignorieren Politik und Gesellschaft den unauflösbaren Zusammenhang zwischen Fertilität und Familiensinn. Und die wenigen Kinder, die dennoch zur Welt kommen, landen oft schon früh in der staatlich subventionierten Fremdbetreuung obwohl Experten eindringlich vor schädlichen Folgen durch exzessive Kita-Nutzung warnen. Dabei wagen es die regierenden Parteien auch noch, ihre Politik als Familienförderung zu verkaufen. Tatsächlich beruht die staatliche Krippenförderung auf drei Säulen, die der deutsche Psychiater Christian Spaemann im Dezember 2018 im Bulletin Schutzinitiative aktuell so formuliert hat: Realitätsverweigerung gegenüber der demographischen Katastrophe, daraus folgend die Mobilisierung aller Humanressourcen für die Wirtschaft und das ganze versehen mit dem Feigenblatt eines ideologischen Feminismus.
Scheinlösungen
Mittlerweile weiss man zwar, dass diese Anstrengungen allein nicht ausreichen werden, um das System des Massenwohlstands am Leben zu erhalten. Doch anstatt sich auf das ABC des Menschseins und des soziokulturellen Zusammenhalts zu besinnen, flüchtet sich die Politik in neue Scheinlösungen. Junge Migranten aus Afrika sollen die fehlenden Geburten kompensieren, lautet der aktuelle Tenor. Doch auch dieser Weg birgt massive Probleme, nicht nur für die Zielländer: Menschen, die ihre Heimat verlassen, fehlen in ihren Familien, ihrer eigenen Wirtschaft und Gesellschaft. Oft seien es die Fähigsten, welche den Weg ins Exil suchten, sagt der amerikanische Afrika-Experte Stephen Smith, Autor des Buches Der Ansturm auf Europa (französisch: 2018), der politisch übrigens links steht. Der Exodus raube den Zurückgebliebenen damit nicht nur ihre Hoffnungsträger, sondern auch den Glauben, dass sich in Afrika etwas ändern könne.
Angelockt durch das Versprechen materiell besserer Lebensbedingungen findet gegenwärtig eine Völkerwanderung von Afrika nach Europa statt ein Trend, der sich in den nächsten 30 Jahren noch deutlich verschärfen dürfte. Smith rechnet aufgrund demographischer Fakten damit, dass bis 2050 zwischen 150 und 200 Millionen Afrikaner nach Europa umsiedeln werden. Viele von ihnen sind Muslime. Bereits anschwellende soziale und kulturelle Spannungen in den europäischen Zielländern würden dadurch drastisch zunehmen. Doch ein Kurswechsel in der Demographiepolitik ist nicht in Sicht.
Die demographische Uhr tickt
Europas politische Eliten scheinen grossmehrheitlich dazu entschlossen, sich auf weitere soziale Experimente mit vorhersehbar desaströsem Ausgang einzulassen. So deutet der kürzlich von den meisten Regierungen unterzeichnete UNO-Migrationspakt die Massenmigration kurzerhand von einem Problem in eine Chance um, wobei wiederum kurzfristige wirtschaftliche Interessen die entscheidende Rolle zu spielen scheinen. Gleichzeitig bleiben (z.B. in Deutschland und der Schweiz) familienpolitische Massnahmen zur Erhöhung der Geburtenrate ein Tabu. Anstatt Ehe und Familie zu fördern, werden die prinzipiell unfruchtbaren gleichgeschlechtlichen Verbindungen rechtlich der Ehe gleichgestellt und die Homosexualisierung durch Bildung und Kultur grosszügig gefördert.
Ein Blick in die demographischen Daten europäischer Länder zeigt eines ganz deutlich: Der nicht nur von seiner Natur emanzipierte, sondern auch kulturell entwurzelte Mensch der postmodernen Konsumgesellschaft scheint die grundlegenden Spielregeln, wie eine menschliche Gesellschaft funktioniert, nicht mehr zu kennen. Der Mensch lebt in der Illusion, er brauche keine Kinder zu haben, weil der Staat schon für ihn sorgen werde. Wohlstand und Sozialstaat haben das Bewusstsein für die natürlichen Voraussetzungen des Sozialen erodieren lassen.
Ebenso ist im Zuge eines allgegenwärtigen Kulturrelativismus aus dem Blickfeld geraten, dass die kulturelle Identität eines Volkes ein hohes Gut darstellt. Gerade die demokratisch-freiheitliche Ordnung des Westens ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Erbe, das sich in einem über Jahrhunderte dauernden Prozess ausgeformt hat. Dessen ungeachtet meint die europäische Politik in ihrem technokratischen Wahn, ganze Bevölkerungen austauschen zu können, ohne dass dadurch das sensible Ökosystem der europäischen Zivilisation massiv beeinträchtigt würde.
Europas Müdigkeit
Das ABC des Menschseins, das unsere Gegenwartskultur einfach übergehen zu können glaubt, wäre an sich nicht schwierig. Daraus eine politische Nachhaltigkeitsagenda abzuleiten, die diesen Namen auch wirklich verdient, wäre ein Gebot der Stunde. Doch die Wurzeln für die aktuelle Misere liegen tief. Sie sind jenseits demographischer Statistiken im geistigen Zustand unseres Kontinents zu suchen.
Von mehreren Seiten aus gewinnt man den Gesamteindruck der Müdigkeit, der Alterung, die Impression eines Europas, das Grossmutter und nicht mehr fruchtbar und lebendig ist, sagte Papst Franziskus 2014 in seiner Ansprache an den Europarat. Und der französische Philosoph Fabrice Hadjadj konstatierte im Dezember 2018 in der Weltwoche eine tiefe Verzweiflung, die aus dem Bewusstsein unserer Endlichkeit entstanden sei. So glaubten wir angesichts des sich anbahnenden politischen, sozialen und kulturellen Kollapses nicht mehr an die Versprechen des Fortschritts aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die uns Hoffnungen auf eine perfekte Gesellschaft gemacht hätten.
Um weiter an den Menschen glauben zu können, müsse man, so Hadjadjs Überzeugung, daran glauben, dass der Mensch von Gott erschaffen worden und dass Gott selbst Mensch geworden sei. Das Christentum verehrt den Menschen als Gottheit, ruft ihm aber auch permanent die Bedingungen der einfachen menschlichen Existenz in Erinnerung, sagt der Philosoph, der im schweizerischen Fribourg das Bildungsinstitut Philanthropos leitet, das jungen Menschen grundlegende anthropologische Kenntnisse vermittelt.
Kein Platz für den Menschen?
Schon lange hat unsere Gesellschaft den Sexualakt von der Fortpflanzung entkoppelt und zum Konsumgut gemacht. Der französische Jude mit einem arabischen Namen und katholischem Glauben ruft deswegen unserer Zeit ins Gedächtnis: Wenn man sich der Sexualität ohne Beschränkung hingeben will, also ohne Kondom, ohne Aufpassen, kann das zu einem Kind führen, das uns mit der Zukunft, den höchsten und letzten Dingen konfrontiert. Mit einem Kind feiert man Geburtstag. Es fördert ( ) dieses tiefe Bewusstsein: Es ist gut, dass es uns gibt.
Doch die europäische Gegenwartskultur scheint sich an anderem zu orientieren als an den Existenzbedingungen des Menschen. Hadjadj zufolge verlaufen heute die politischen und sozialen Utopien in zwei Richtungen: Animalismus und Transhumanismus, also die Rückentwicklung zum Zustand des Tiers und das Upgrade zum Cyborg. Dazwischen gibt es keinen Platz mehr für den Menschen. Dabei müsse man sich fragen, ob es Sinn mache, die Schimpansen zu retten, wenn wir selbst zu Robotern würden, so Hadjadi.
Eines steht jedenfalls fest: Kulturen, die sich den grundlegenden Gesetzen des menschlichen Lebens verweigern, gehen unter. Sie räumen das Feld für andere, denen mehr liegt an ihrer Zukunft. Auch das gehört zum ABC des Menschseins.
Der Autor leitet den Bereich Werte und Gesellschaft bei Zukunft CH, einer überkonfessionell christlichen Stiftung mit Sitz in Engelberg. Diese setzt sich ein für zukunftstragende Werte, insbesondere für die Menschenrechte (1948) sowie für Ehe und Familie: www.zukunft-ch.ch.
Foto: Symbolbild
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