Optimierung zum Besseren und Minimierung des Schlechteren

12. Februar 2019 in Kommentar


Vom Fehl des Guten und Bösen – „Gegenwärtig wird seit Monaten weltweit und bis in die höchste Spitze in der katholischen Kirche nicht nur immer Schlimmeres aufgedeckt, sondern buchstäblich das Schlimmste.“ Gastbeitrag von Helmut Müller


Vallendar (kath.net) Jedem, der Kinder hat, kam sicher schon einmal beim Versuch sie zu erziehen zu Ohren: „Papa, was willst Du eigentlich? Andere Kinder sind schlimmer als ich. Ich kann Dir da jede Menge Beispiele aus meiner Klasse nennen.“ Das stimmt, Gott sei Dank. Das macht einen allerdings zunächst sprachlos. Aber warum reagiert man nicht postwendend: Ich kenne auch noch schlimmere Väter als ich einer bin. Das stimmt hoffentlich. Ich glaube sogar, dass ich welche aufzählen kann. Ob dann der Sprössling zum Nachdenken kommt?

Gegenwärtig wird seit Monaten weltweit und bis in die höchste Spitze in der katholischen Kirche nicht nur immer Schlimmeres aufgedeckt, sondern buchstäblich das Schlimmste: Personen, die durch ihre Weihe eigentlich „alter Christus“ sind und sein sollten, richten das Schlimmste an: Statt für das Heil in Christus da zu sein, sind sie Urheber von wahrhaft Teuflischem geworden: Vertrauen wird zerstört, Unschuldige und Schutzbefohlene erfahren entsetzliches Unheil. Was wird dagegen getan? Strukturen wird die Schuld zugewiesen. Das geht sogar so weit, dass zwei kürzlich geweihte Bischöfe von der Kirche als einer Täterorganisation sprechen und davon, dass Missbrauch in ihrer DNA liege. Vermutlich bereuen sie diese Aussagen mittlerweile. Es ist jedenfalls für mich unvorstellbar, dass sie sich im Augenblick der Aussage der ganzen Tragweite bewusst gewesen sind.

Der offene Brief an Kardinal Marx von neun Gläubigen, die auch in die Strukturenkerbe schlagen, erinnert mich an meine Bundeswehrzeit, als wir über Horchposten an der Grenze von angeblichen Hilferufe aus dem Westen hörten, die als Manöverziele der NVA ausgegeben wurden. Kardinal Marx hat den offenen Brief sicherlich nicht bestellt, aber gelegen kommt er ihm schon. Völlig verstört bin ich allerdings, dass Jörg Splett einer der Mitunterzeichner ist. Sicherlich, nicht alle Strukturen sind optimal. Das zeigen freie Wahlen, wenn z. B. in der besten aller möglichen Formen staatlicher Organisation, der Demokratie, ein Mann mit dem Verstand eines autistischen Kindes zum mächtigsten Mann der Welt gewählt worden ist. Ich will das nicht weiter analysieren und auch nicht alles nennen, was mir noch einfällt. In allen Strukturen, die Menschen geschaffen haben, tragen Menschen die Verantwortung. Wenn jedoch eine Ethik oder Moral, sei sie nun theologisch oder säkular, nicht mehr Gutes und Böses kennt, sondern nur Besseres und Schlechteres misst, und das auch nur an der und mit der eigenen Vernunft, kann es einen nicht wundern, wenn der einzelne verantwortliche Mensch in seiner Subjektivität, das vermeintlich Bessere wählt und das vermeintlich Schlechtere meidet.

Ganze Priestergenerationen und Theologen sind seit 50 Jahren im Wesentlichen - von Ausnahmen abgesehen - so ausgebildet worden. Gewissen degeneriert letztlich zur persönlichen Überzeugung. Im Gewissen als Forum, in dem mein Ich dem Anspruch Gottes begegnet, findet dann all zu oft ein Deal zwischen meiner physisch-psychisch-mentalen Disposition und dem Anspruch Gottes statt, zulasten des letzteren. Ich bin mir bewusst, wie problematisch die Sprechweise vom „Anspruch Gottes“ ist, der selbstverständlich nicht im luftleeren Raum auf mich trifft, sondern eben meiner o. g. Konstitution und Disposition begegnet und zudem in Geschichte und Gesellschaft geschieht. Seit Humanae vitae wird leider allzuoft „Gewissen in Konserven“ verkauft. Ganze Bischofskonferenzen entlasten sozusagen die Gewissen ihrer Gläubigen vom Anspruch Gottes, bieten denselben "lebbarer" an. Wer überlegt denn da noch ob er „die Pille“ nimmt oder nicht um zunächst nur diesen Fall anzusprechen? Selbst Franz Böckle einer der Architekten solcher „Gewissenskonserven“ hat zugegeben, dass vor Humanae vitae noch 40 Prozent der Gläubigen gegen künstliche Empfängnisverhütung waren. Zahlen von denen man heute nur noch träumen kann.

Und jetzt soll wieder Strukturen die Schuld in die Schuhe geschoben werden und Gläubige durch diesen offenen Brief „entlastet“ werden,

• vom Anspruch dass das Leben um des Himmelreiches willen mit dem Weihesakrament verbunden bleibt;
• vom Anspruch, dass die Kirche glaubt, nur Männern das Weihesakrament spenden zu dürfen, da sie zeichenhafte Handlungen Jesu und der jungen Kirche bitter ernst nimmt und nicht nach dem Motto wie im Kindergarten folgt, wo auch eine Frau an St. Martin auf dem Pferd sitzt, oder am 6. Dezember eine „Nikoläusin“ sich sichtbar vor Kindern verkleidet;
• vom Anspruch die komplette Sexualmoral so zu reformieren, dass junge Menschen seltsam und verklemmt wirken, wenn sie bis zur Ehe warten, Zweitbeziehungen als Zweitehen behandelt werden und homosexuelle Tendenzen vorschnell zur alternativen Orientierung des Liebens werden.

Wenn man natürlich die Gewissen der einzelnen vor dem Anspruch Gottes so entlastet, dass sie demselben gar nicht mehr begegnen, darf einen nicht wundern, dass es in der Vergangenheit zu solch unglaublichen Missbräuchen gekommen ist. Der Gipfel des Missbrauchs in den 70er und 80er Jahren ist vielleicht so zu erklären: Der junge oder alte Kleriker, der sich in Krisen oder sogar generell massiv zum eigenen oder anderen Geschlecht oder sogar zu Kindern gezogen gefühlt hat, hat natürlich die damals aufkommende sexuelle Befreiung so erlebt, dass die Kirche der Entwicklung wie immer hinterherläuft und da man ja nur ein Leben hat, nicht warten kann bis die Kirche endlich auf der Höhe der Zeit angekommen ist und man jetzt schon diesen kommenden neuen Geist vorleben kann. So hat man sich ja auch im „Geist des Konzils" von dem leider noch vielfach unerleuchteten Buchstaben desselben getrennt, sogar flächendeckend auf einer ganzen Synode, z. B. der Würzburger.

Was ich damit sagen will ist nicht, einfach dem kirchlich formierten Anspruch Gottes zu folgen, sondern ihn in DIESER FORMIERUNG auf MEIN Gewissen treffen zu lassen. Es sollte auf keinen Fall auf einen, wer weiß von wem konstruierten Anspruch treffen, auch wenn ganze Bischofskonferenzen quasi im Kleingedruckten vom allgemein formulierten Anspruch entlasten wollen. Das Gewissen ist kein Rabattorgan auf allgemeine Normen, die dann heruntergebrochen werden, so dass es sich mit Bröseln leichter leben lässt. Die allgemeine Norm muss mir noch ungebrochen in MEINEM EIGENEN Gewissen begegnen können. Leider gehört auch Amoris laetitia in diese Kategorie der schon aufbereiteten Normen. Es ist vielfach ein Versäumnis, dass in der Gewissenlehre nicht mehr gelehrt worden ist, wie allgemeine Normen dann im konkreten Anspruch MEINES Gewissens verwirklicht werden. Leider lässt auch Amoris laetitia selbst den kundigen Leser im Unklaren wie das Zusammenspiel abstrakter, allgemeiner und konkreter Aussagen zu denken ist.

Wäre in der Vergangenheit Gewissen so gebildet worden, wie beschrieben, bzw. die Gewissensenzyklika Veritatis splendor positiv rezipiert und nicht von einigen deutschen Theologen mit dem Buch Moraltheologie im Abseits wütend zurückgewiesen worden, gäbe es weniger Fehl von Gut und Böse. Selbst in Amoris laetitia wo ständig auf das Gewissen verwiesen wird, fehlt eine Rezeption von Veritatis splendor.

Summa summarum. Wenn der einzelne verantwortlich Handelnde und das sind wir alle nur noch nach dem vermeintlich Besseren handelt und das vermeintlich Schlechtere meidet, nützt keine sicherlich auch notwendige Strukturenreform, weil eben in jeder Struktur Menschen mit so oder so gebildetem Gewissen handeln.

Robert Spaemann, dem ich übrigens eine Konversion von Böckle zu ihm verdanke, fehlt seit dem 10. Dezember letzten Jahres mehr denn je. Seinen Unterscheidungen verdanke ich meine letzte Publikation „Zeitgerecht statt zeitgemäß". Dass seine Stimme wahr genommen wurde, zeigen die zahlreichen Nachrufe in Medien jeder Couleur. Auf sein Lebenswerk möchte ich denjenigen respektvoll verweisen, der sich mehr über das Gute und Böse, das Bessere und Schlechtere und was es damit auf sich hat, informieren möchte.

kath.net Lesetipp:
Moralische Grundbegriffe
Von Robert Spaemann
Taschenbuch, 109 Seiten
2015 Beck
ISBN 978-3-406-68517-0
Preis Österreich: 9.20 EUR

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