Paderborner Erzbischof Becker über die Goldene Regel

14. März 2019 in Deutschland


Becker predigt bei DBK-Versammlung: Diese Regel geht „weit über die Wechselseitigkeit des ‚Wie-du-mir-so-ich-dir‘ hinaus. Es geht nicht einfach nur um Fairness oder auch nicht um Sympathie. ‚Eine Hand wäscht die andere‘, das ist hier nicht


Lingen-Bonn (kath.net/DBK) kath.net dokumentiert die Predigt von Erzbischof Hans-Josef Becker (Paderborn) in der Eucharistiefeier zur Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 14. März 2019 in Lingen in voller Länge. Lesung: Est 4,17k.17l–m.17r–t; Evangelium: Mt 7,7–12

Goldene Regel
Liebe Mitbrüder,
die sogenannte „Goldene Regel“ ist hinreichend bekannt: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten“. Das Wort spricht für sich, und eigentlich müsste ich es hier gar nicht weiter kommentieren.

Die „Goldene Regel“ steht bekanntlich am Schluss der Bergpredigt. Das muss man wissen, denn für das Verständnis ihrer „christlichen Variante“ ist eines ganz entscheidend: Nur kurz zuvor hatte Jesus nämlich dazu aufgerufen, seine Feinde zu lieben – „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen (…)!“

Zwar ist die „Goldene Regel“ sozusagen universal. Sie gehört zum „Erbe der Menschheit“ und regelt, dass die Menschen sich nicht fortwährend die Köpfe einschlagen. Das allein schon wäre ein wirklich großartiger Erfolg. Die „Goldene Regel“ findet sich aber nicht nur in den Geboten der Thora oder bei den Evangelisten Matthäus und Lukas. Es gibt unzählige Formulierungen und Varianten davon. Jede halbwegs menschenfreundliche Organisation, jede religiöse Gemeinschaft oder Gesellschaft versucht heute, sich zumindest daran zu orientieren. Denn die Regel besagt: Liebe beruht auf gegenseitiger Wertschätzung, und diese Wertschätzung soll das ganze Leben prägen. „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Oder positiv: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“, „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ Jeder vernünftige Mensch wird das so unterschreiben können. Die „Goldene Regel“ ist der Anfang aller Zivilisation und Humanität, der Minimalkonsens sozusagen. Und dieser Minimalkonsens war zu allen Zeiten gefährdet. Er ist es auch heute noch, wenn manche meinen, dass es Ausnahmen von dieser Regel geben kann. Bei Flüchtlingen, Behinderten, Schwachen oder Ungeborenen etwa. Nein, Ausnahmen kann es nicht geben. Das wäre völlig absurd.

„Diese Liebe des Nächsten ist es, die du selbst bist“, übersetzt der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas das Liebesgebot: Diese Liebe macht dich aus, das ist deine wirkliche Identität. Deine Herzmitte. Nichts anderes. Das kommt der „christlichen Variante“ der „Goldenen Regel“ schon sehr viel näher. Denn in diesem Sinn geht die Regel weit über die Wechselseitigkeit des „Wie-du-mir-so-ich-dir“ hinaus. Es geht nicht einfach nur um Fairness oder auch nicht um Sympathie. „Eine Hand wäscht die andere“, das ist hier nicht gemeint.

Navid Kermani, der Islamforscher und Orientalist, hat in sehr schönen Worten das seiner Meinung nach Einzigartige an der christlichen Nächstenliebe zum Ausdruck gebracht: „Wenn ich etwas am Christentum bewundere oder an den Christen“, schreibt er, „dann ist es die spezifisch christliche Liebe… Diese Liebe geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe macht keinen Unterschied.“ Eine maßlose Liebe, die von Gott her kommt und daher die Feinde mit einschließt, die bis zur Stellvertretung geht. Denn die Freunde zu lieben und die Feinde zu hassen, das ist kein wirkliches Kunststück.

Ich habe neulich einmal von der Fernsehmoderatorin und Journalistin Dunja Hayali gelesen, dass sie sich die „Goldene Regel“ seit frühester Kindheit zum Leitspruch gewählt hat. Ihre Eltern sind Christen aus dem Irak. Ihre Mutter ist chaldäisch-katholisch, der Vater syrisch-orthodox. Die Eltern haben ihr die „Goldene Regel“ vorgelebt, sagt sie, weil sie Christen sind. Die gegenseitige Rücksichtnahme aufeinander, das habe sie entscheidend geprägt. Die Regel beschreibt für sie das, was das Leben ihrer Eltern und auch ihr eigenes ausmachen soll: Wertschätzung des anderen, Priorität der Kleinen und Schwachen. Aber auch die Art, wie wir jeden Tag und selbstverständlich übereinander und miteinander sprechen und wie wir miteinander umgehen. Und die Art, wie wir immer wieder unsere eigenen Denkblockaden überwinden müssen. Denn in den alltäglichen Dingen, die für das Thema Wertschätzung so entscheidend sind, haben wir manchmal den meisten Nachholbedarf. Vielleicht weil diese Dinge so viel mehr Mühe machen als schöne Worte und Ideen, die oft wohlfeil sind.

Levinas hat das einmal pointiert und mit etwas Augenzwinkern gesagt: Es gibt eine Haltung, sagt er, die uns in bestimmten Situationen dazu befähigt, die eigene Selbstverliebtheit zu überwinden und dem anderen angesichts der offenen Tür den Vortritt zu lassen. Eine Haltung, das Eigeninteresse hintan zu stellen und zu sagen: „Après-vous, Monsieur. Bitte nach Ihnen, mein Herr!“: die Haltung der Nächstenliebe. Das ist ein schönes Bild für die „Goldene Regel“.

Archivfoto Erzbischof Becker (c) Erzbistum Paderborn


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