Gewissenhaft leben – Eine Anregung zur Gewissensbildung

21. Mai 2019 in Kommentar


„Lehre der Kirche bleibt verbindlich, auch wenn einige diese Lehre – und sei es der nette Nachbar, seien es Priester, Theologen oder Bischöfe – geschmeidig anpassen möchten oder sogar für unverbindlich erklären.“ Gastbeitrag von Thorsten Paprotny


Hannover (kath.net) Nichts schenkt so viel Frieden wie ein gutes Gewissen. „Das tue ich guten Gewissens“, sagt so mancher Christenmensch manchmal selbstbewusst, manchmal zaudernd, manchmal reiflicher Erwägung und manchmal auch unbedacht. Man muss doch immer auf die eigene innere Stimme. Hat die nicht immer Recht? Oder nicht? Vielleicht bedenkt ein Christ von Welt heute die öffentliche Meinung, die Kommentare seiner Mitmenschen oder auch die persönlichen Erfahrungen. Wer aber subjektiv ein „gutes Gewissen“ zu besitzen meint, kann trotzdem – ganz gewiss – gewissenlos handeln. Ein persönlich zurechtgebastelter Jesus als Orientierung als Ersatz für die Bindung an Christus und die verbindlich gültige Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte, das reicht nicht aus. Die Lehre der Kirche bleibt auch dann verbindlich gültig, wenn einige oder viele diese Lehre – und sei es auch der nette Nachbar von nebenan, seien es Priester, Theologen oder Bischöfe – geschmeidig anpassen möchten, verschweigen oder sogar für unverbindlich erklären. Was tun wir also am besten bei Gewissensproblemen und Gewissensfragen? Denken wir uns eine neue Lehre und eine neue Kirche aus? Einfach mal so? Aggiornamento 2019?

Der heilige Papst Johannes Paul II. sagte vor der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Familie am 13. Dezember 1985: „Das Lehramt der Kirche erfindet die Lehre nicht, es lehrt die Forderungen der sittlichen Ordnung, damit in ihrem Licht das Urteil des Gewissens wahr sein kann. Der Gläubige hat das Recht, vom Lehramt die Unterweisung über die sittliche Wahrheit zu erhalten. Und man kann nicht sagen, dass das Lehramt der Kirche den »Rechten des Gewissens« entgegensteht.“ Hier mag man begründet einwenden: Natürlich kann man behaupten, dass das kirchliche Lehramt dem Gewissen entgegensteht. Behaupten kann man alles Mögliche. Ein jeder Mensch darf eine Meinung haben, heute diese, modern eine andere. Eine Meinung kann objektiv falsch sein.

Der Weltchrist darf aber darauf hoffen, dass er auf Fragen zu Problemen des Gewissens eine ernsthafte Antwort erhält. Präziser formuliert: Man kann zwar schon sagen, dass das „Lehramt der Kirche“ dem Gewissen entgegensteht – es ist weltlich zulässig, diese Meinung zu haben und zu äußern, auch wenn sie absurd, falsch und irreführend ist. Jeder Mensch, also auch jeder Katholik, ob Weltchrist oder nicht, kann sich ebenso bewusst außerhalb der Kirche positionieren und behaupten, dass er als Katholik, also als Mitglied der Kirche spricht.

Sagen, denken und behaupten kann jeder alles Mögliche. Man kann also sagen: Die Kirche muss endlich erneuert werden. Es gibt so doch viele Proteste. Die Kirche muss sich bewegen und lebensnäher werden. Die Kirche muss unser aufgeklärtes Zeitalter angemessen berücksichtigen. Lehrt die Kirche nicht, dass wir die „Zeichen der Zeit“ endlich richtig verstehen sollen? Schon, aber „im Lichte des Evangeliums“. Na gut, dann müssen wir eben neue Wege gehen. Wo fangen wir an? Indem wir alles gut finden, was es gibt? Müssen wir uns nicht schon deswegen endlich eine neue Morallehre ausdenken, orientiert an der heutigen Lebenspraxis, Lebenswelt und Lebenswirklichkeit? Das ist die Pippi-Langstumpf-Perspektive: Ich mache mir die Kirche einfach so, wie sie mir gefällt!

Johannes Paul II. fährt jedoch fort: „Wenn die menschliche Vernunft und das auf die Offenbarung gegründete Lehramt, freilich in verschiedener Weise, Zugang zu der Wahrheit haben, die in Gott begründet ist, wird das von der Vernunft aufgeklärte Gewissen in diesem anderen Licht, das ihm durch das Lehramt zukommt, nicht bloß eine Auffassung unter anderen sehen, sondern die Hilfe, die unserer menschlichen Natur in ihrer Schwachheit und Begrenztheit von der göttlichen Vorsehung zuteil wird.“ Wir dürfen aber auch sagen: Ja, es steht jedem frei, die angebotene Hilfe abzulehnen – und jeder, der diese Hilfe ablehnt, trägt die Konsequenzen für die Ablehnung. Was das Gewissen angeht: Können wir nicht einfach bei dem bleiben, was wir für gut und richtig halten? Ist unser Gewissen nicht der letzte Gradmesser für Entscheidungen? Johannes Paul II. erläutert weiter: „Das kirchliche Lehramt ersetzt also nicht das sittliche Gewissen der Menschen; es hilft ihm, sich herauszubilden, die Wahrheit der Dinge, das Geheimnis und die Berufung der menschlichen Person, den tiefen Sinn ihrer Handlungen und ihrer Beziehungen zu entdecken. Denn das Gewissen darf sich niemals der Willkür überlassen; es kann sich täuschen, wenn es sich nach dem richtet, was ihm vernünftigerweise gut erscheint; aber es hat die Pflicht, sich dem der Wahrheit entsprechenden Guten zuzuwenden.“

Statt die Lehre der römisch-katholischen Kirche aller Zeiten und Orte einerseits zu relativieren oder zu ignorieren – und damit einen Garanten gegen Willkür und Beliebigkeit, ob global oder lokal, nicht mehr ernst zu nehmen – und andererseits diese Lehre modernisieren zu wollen, wäre es doch viel sinnvoller, die Texte des kirchlichen Lehramtes gewissenhaft zu studieren. Einen guten Begleiter für alle synodalen Wege, für Weltchristen wie für Geistliche, gibt es sogar als Buch: den Katechismus. Unverzichtbar für alle, die es noch mal wirklich ganz genau wissen möchten, modern gesagt: Wie geht „katholisch sein“ heute? Da steht’s drin. Wem das Buch zu dick ist, der lese das „Kompendium“. Das genügt auch. Ich möchte aus dem Katechismus nur zwei Abschnitte zur Lektüre empfehlen. Unter Nr. 1783 lesen wir: „Das Gewissen muss geformt und das sittliche Urteil erhellt werden. Ein gut gebildetes Gewissen urteilt richtig und wahrhaftig. Es folgt bei seinen Urteilen der Vernunft und richtet sich nach dem wahren Gut, das durch die Weisheit des Schöpfers gewollt ist. Für uns Menschen, die schlechten Einflüssen unterworfen und stets versucht sind, dem eigenen Urteil den Vorzug zu geben und die Lehren der kirchlichen Autorität zurückzuweisen, ist die Gewissenserziehung unerlässlich.“

Aus Unwissenheit kann das Gewissen zu Fehlurteilen gelangen und sich also vollständig irren. Wer als Weltchrist entsprechend handelt, kann immer noch sagen: „Ich hatte trotzdem ein gutes Gewissen. Haben nicht auch der Theologe X, der Priester Y und der Bischof Z neulich dasselbe gesagt?“ Das mag so sein, aber das reicht nicht aus. Mehr noch: Es ist traurig, aber ohne Bedeutung. Der Katechismus hilft weiter. In Abschnitt Nr. 1790 heißt es: „Unkenntnis über Christus und sein Evangelium, schlechte Beispiele anderer Leute, Verstrickung in Leidenschaften, Anspruch auf eine falsch verstandene Gewissensautonomie, Zurückweisung der Autorität der Kirche und ihrer Lehre, Mangel an Umkehrwillen und christlicher Liebe können der Grund für Fehlurteile im sittlichen Verhalten sein.“

Ein großer Trost bleibt: Reue und Umkehr sind jedem Menschen jederzeit möglich. Für die Gesinnung der Reue und die tatsächliche Umkehr der anderen bin ich nicht verantwortlich. Zugleich ist niemand der Richter seines Nächsten. Ist es nicht zugleich eine große Erleichterung, dass ich nur für meine eigene Umkehr zu Christus und Seiner Kirche verantwortlich bin? Dennoch soll ich für alle beten, und das ist ganz, ganz wichtig. Darauf, auf das Beten, darf ich nicht verzichten – und schon gar nicht guten Gewissens, auch wenn ich sonst noch so viel Gutes tun mag.

Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998-2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte 2018 den Band „Theologisch denken mit Benedikt XVI.“ im Verlag Traugott Bautz und arbeitet an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.

kath.net-Buchtipp
Theologisch denken mit Benedikt XVI.
Von Thorsten Paprotny
Taschenbuch, 112 Seiten
2018 Bautz
ISBN 978-3-95948-336-0
Preis 15.50 EUR

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