„Ich klage an eine maßlose Übertreibung des Pragmatischen, Messbaren“

24. Mai 2019 in Schweiz


„Dieser Blickwinkel leugnet eigentlich die Erfahrung der Kirche aller Zeiten. Dennoch ist dieser Blickwinkel heute selbst unter Christen ganz alltäglich geworden.“ Von Nuntius Thomas E. Gullickson


Einsiedeln (kath.net) kath.net dankt S.E. Erzbischof Thomas E. Gullickson, Apostolischer Nuntius in der Schweiz, für die freundliche Erlaubnis, seine Predigt bei der „Kirche in Not“-Wallfahrt nach Maria Einsiedeln am 19. Mai 2019 in voller Länge veröffentlichen zu dürfen. Apostelgeschichte 14:21-27; Offenbarung 21:1-5a; Johannes 13:31-33a, 34-35

Gelobt sei Jesus Christus!
Heilige Maria!

(Paulus und Barnabas)… „sprachen den Jüngern Mut zu und ermahnten sie, treu am Glauben fest zu halten.“

Eine jährliche Wallfahrt ist eine ganz gute, eine ganz schöne Sache! Sie sollte auch zur Erholung im herkömmlichen Sinn dienen. Wir aber interessieren uns hier hauptsächlich für die Wallfahrt, die dazu dienen kann, uns im Glauben zu stärken.

In der heutigen Lesung aus der Apostelgeschichte haben wir gehört, zwar ohne direkten Bezug zur Wallfahrt, aber passend:

„Sie sprachen den Jüngern Mut zu und ermahnten sie, treu am Glauben fest zu halten; sie sagten: Durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes gelangen.“

Ich hoffe, dass meine Worte heute den Pilgern von Kirche in Not auch Mut machen werden! Sie, von Kirche in Not, machen den notleidenden Christen Mut. Ich hoffe, ihnen dazu ein paar Worte mit auf den Weg geben zu können. Es geht um viel mehr als nur um die Motivation zu spenden und immer besser zu dienen. Spenden, so unabdingbar es auch sein mag, ist nur ein Teil davon. Es geht mir und ich glaube auch unserer Sendung mehr um das Herz. Darum soll diese Wallfahrt heute hier in Einsiedeln dazu dienen, dass Sie wie die Gläubigen zur Zeit der Apostelgeschichte, Kraft schöpfen können für ihren weiteren Einsatz zur Ermutigung der Kirche, die überall in der Welt leidet.

Die Wallfahrt an diesen heiligen Ort, also hierher nach Maria Einsiedeln, ist dazu besonders geeignet. Wir nehmen Zuflucht zur Mutter Gottes die auch unsere Mutter ist, zur Consolatrix afflictorum (zur Trösterin der Betrübten). Vielleicht sind wir seit unserer Wallfahrt im vergangenen Jahr wieder abgekämpft von unserem Dienst an der Sendung von Kirche in Not, vielleicht auch ganz allgemein bedürftig in unserem Leben als Katholiken. Wir alle, Ordensleute und Laien, Priester und Diakone gehen diesen Weg und teilen dieses Schicksal: „Durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes gelangen.“ In diesem Sinne gibt es nichts besseres, als Zuflucht zu suchen und dann auch zu finden bei Maria, der Mutter Gottes. Die Basilika hier in Einsiedeln dient uns dazu ganz gut genau in dem Sinn, von dem das Buch der Offenbarung des Johannes spricht: „Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen!” Maria ist die dauerhafte Wohnung des Allmächtigen. Sie tröstet uns und gibt uns unter ihrem Mantel Zuflucht.

Es gibt einen Blick auf die Institution der Kirche, der dazu neigt, die Erfahrung der ersten Jünger nicht so sehr einzubeziehen oder sie sogar ganz zu leugnen. Dieser Blickwinkel leugnet eigentlich die Erfahrung der Kirche aller Zeiten. Dennoch ist dieser Blickwinkel heute selbst unter Christen ganz alltäglich geworden und findet Ursprung und Nahrung zumindest teilweise in einer zu gesellschaftlichen Sicht der Kirche. Ich möchte nicht sagen „zu horizontal“, aber vielleicht doch zu nachlässig gegenüber dem ersten Gebot der Gottesliebe. Mir scheint, dass dabei das Christentum zu sehr auf den moralischen Aspekt reduziert wird und dabei den Rest, also auch der Kern des Glaubens, ausser Acht gelassen wird. In diesem Missstand sehe ich und klage ich an eine masslose Übertreibung des Pragmatischen und Messbaren. Wir sind einfach anders und als Nachfolger Christi schulden wir den anderen doch mehr. Unsere Selbstwahrnehmung als Kirche lässt sich nicht allein mit dem Begriff „Leistungen“ ermessen. Wenn wir wirklich von der Kirche sprechen wollen, dann müssen wir von der Gemeinschaft mit Gott in Jesus Christus reden, von der Gemeinschaft untereinander und mit Ihm. Als Kirche sind wir Zeugen der Anwesenheit Gottes in Christus für das Heil der Welt.

Die Apostel haben so das Evangelium verkündet:
„Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.“

Konzentrieren wir uns einen Augenblick auf die Diskussion der Nächstenliebe. Es scheint mir, dass wir oft zu leicht das Wesentliche versäumen. Als Beispiel: Ich habe von einem Priester gelesen, einem berühmten, geistlichen Führer in Washington DC. Dieser riet den jungen Berufsleuten, die zu ihm zur geistlichen Begleitung kamen, sich um echte christliche Liebe zu bemühen durch den direkten Kontakt mit den Bedürftigen. Er ermutigt sie, sich für einen echten persönlichen Austausch mit den Obdachlosen zu öffnen, von denen es viele gibt im Stadtzentrum von Washington. Die jungen Leute sollten diese Personen als Menschen wahrnehmen mit einem Lächeln oder einem Gruss, d.h. mit einem Zeichen der Anerkennung der Würde der menschlichen Person. Mutter Teresa ist das klassische Beispiel für eine Liebe in diesem Sinne. Vor der praktischen Hilfe am armen und Notleidenden, gab sie der Begegnung mit Christus im Nächsten der Vorrang.

„Meine Kinder, ich bin nur noch kurze Zeit bei euch. Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“

Eine Wallfahrt macht man nicht in Eile. Ich hoffe, dass sie heute Morgen schon frühzeitig hier ankommen konnten und bereits etwas Zeit gefunden haben, um die Schönheit des Ortes zu geniessen. Ich hoffe, Sie haben Zeit gefunden, auch für eine Gewissenserforschung und sogar für die Beichte vor der Messe. Alles in allem ist unser Apostolat, unsere Sendung eine Sache des Herzens.

Mein Gebet heute für Kirche in Not ist, dass dieses Werk voller Zuversicht weiter seinen Weg gehen kann. Dass wir alle hier Anwesenden durch die Fürbitte der Gottesmutter Maria zu grösserer Gemeinschaft in Christus finden und dadurch eine Quelle des Trostes für die Leidenden unserer Zeit werden, dass wir immer mehr ein Herz und eine Seele werden mit den Herzen von Maria und ihrem göttlichen Sohn.

(Paulus und Barnabas)… „sprachen den Jüngern Mut zu und ermahnten sie, treu am Glauben fest zu halten.“

Gelobt sei Jesus Christus!
Heilige Maria!

Erzbischof Thomas E. Gullickson, Apostolischer Nuntius in der Schweiz, bei der ´Kirche in Not´-Wallfahrt in Einsiedeln


Foto (c) Kirche in Not


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