Dialog mit Ideologen?

18. Juni 2019 in Kommentar


Ein neues Dokument der Kongregation für das Katholische Bildungswesen zur Gender-Theorie – ein zahnloser Tiger. Ein Gastkommentar von Gabriele Kuby


München-Vatikan (kath.net)
Im Juni 2019 veröffentlichte die Kongregation für das Katholische Bildungswesen ein dreißigseitiges Dokument mit dem Titel “Towards a Path of Dialogue on the Question of Gender Theory in Education”. (Übersetzungen der Zitate von der Autorin.) Seit dem Siegeszug der Gender-Theorie durch die westliche Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren ist dies die erste offizielle Erklärung des Vatikans, welche die Unvereinbarkeit der Gender-Theorie mit der christlichen Anthropologie aufzeigt, indem sie das Offensichtliche bekräftigt: „Als Mann und Frau schuf er sie.“ Das Dokument richtet sich an alle, die „inspiriert von der christlichen Vision des Lebens“ in der Erziehung engagiert sind, insbesondere in katholischen Schulen.

Auf den ersten Blick ist die Darstellung der Zerstörungsmacht der Gender-Ideologie wie eine frische Brise. Die Gender-Theorie leugne „die Unterschiedlichkeit und Wechselseitigkeit der Natur von Mann und Frau“ und ziele auf eine Gesellschaft ohne geschlechtliche Unterschiede, wodurch die anthropologische Basis der Familie eliminiert“ werde. (2) (Die Ziffern bezeichnen Absätze im Dokument.) Das stehe in Gegensatz zur „christlichen Vision der Anthropologie, welche in der Geschlechtlichkeit eine fundamentale Komponente der Person“ sehe. (4)

Die Entwicklung der Gender-Ideologie von neuen anthropologischen Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts bis zur radikalen Trennung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender) wird dargestellt. „Diese Trennung ist die Wurzel der vorgeschlagenen Unterscheidungen zwischen verschiedenen ‚sexuellen Orientierungen‘, die nicht mehr durch die sexuelle Differenz zwischen Männlich und Weiblich definiert werden und dann andere Formen annehmen können, die allein vom Individuum bestimmt werden, welches als radikal autonom gesehen wird.“ (11) Die Gender Theorie entferne sich von der Natur und mache die Gefühle des menschlichen Subjekts zur einzigen Entscheidungsinstanz. (19)

Offensichtlich ist eine solche Ideologie eine Abrissbirne für die Familie. Verwandtschaftsbeziehungen werden aufgelöst, indem das „autonome“ Individuum seinen Platz im Familienstammbaum verliert und seine Beziehungen nur noch von Begehren und Affekten gesteuert werden, welche sich jederzeit ändern können. Dies zeigt sich in der Auflösung der Struktur der Familie und in der Propagierung einer gleichwertigen „Vielfalt“ von Familientypen (Single-, Patchwork- und „Regenbogen“-Familien). Die Opfer dieser Revolution sind die Kinder, die ihren Platz der sicheren Bindung zu ihren biologischen Eltern verlieren. Die künstliche Laborproduktion von Kindern beraubt sie sogar ihres Rechtes auf ihren biologischen Vater und ihre biologische Mutter.

Das Dokument lässt keine Zweifel daran, dass die Familie als primäre Erziehungsinstanz anerkannt werden muss, wie es das Grundgesetz und die Universale Erklärung der Menschenrechte verlangen, und dass den Eltern insbesondere das Recht und die Verantwortung für den sensiblen Bereich der Sexualerziehung obliegt.

So weit so gut. Die fundamentale Kritik an der Gender-Ideologie wird als ein „Weg des Dialogs“ präsentiert. Aber Dialog mit wem? Dialog zu welchem Zweck und mit welcher Hoffnung?

Ein Dialog braucht „Punkte der Übereinstimmung“.

Diese sehen die Autoren in der „lobenswerten Absicht, allen Äußerungen ungerechter Diskriminierung entgegenzutreten“. (15) Aber was ist „ungerechte Diskriminierung“ in einer Zeit, in der Menschen kriminalisiert werden, die die „Ökologie des Menschen“ (Benedikt XVI.) verteidigen und Respekt für seine Natur und seinen Platz in der Schöpfungsordnung einfordern?

Ein weiterer „Punkt der Übereinstimmung“ wird in den „Werten der Weiblichkeit“ ausgemacht, „die affektive, kulturelle und spirituelle Mutterschaft, die von unschätzbarem Wert für die Entwicklung der Person und der Zukunft der Gesellschaft“ ist. (18) Aber gibt es da wirklich gemeinsamen Boden mit Gender-Feministinnen, die alles tun, um die sozialen Bedingungen von Mutterschaft zu untergraben und die für ein „Menschenrecht“ auf Abtreibung kämpfen?

Eine persönliche Erfahrung lässt das sehr zweifelhaft erscheinen: Im Jahr 2018 wurde ich zu einer öffentlichen Diskussion mit einer Vertreterin der Gender-Studies an der Technischen Universität Wien eingeladen. Fünf Gender-Professorinnen hatten die Einladung abgelehnt, schließlich fand sich eine Vertreterin auf untergeordneter Ebene. Als ich an der Reihe war, mein Statement abzugeben, schrillten die Feuersirenen – normalerweise das Signal, das Gebäude sofort zu evakuieren. Ein Dialog mit der Dame wurde durch ständige lautstarke Unterbrechungen aus dem Publikum verhindert – für mich ein déjà-vu-Erlebnis von 1968.

Da die Gender-Ideologie mit der wissenschaftlichen Wahrheitssuche von Biologie, Medizin und Gehirnforschung gebrochen hat, vielmehr die wissenschaftlichen Institutionen für ihre revolutionäre Agenda missbraucht, müssen die Aktivisten sich der Manipulation und zunehmend totalitärer Durchsetzungsmethoden bedienen. Wir sehen dies in der juristischen Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Beschneidung der Religionsfreiheit und der Sexualisierung der Kinder durch den Staat mittels obligatorischer Sexualerziehung.

Das Bollwerk gegen die Auflösung moralischer Grenzen sexueller Handlungen – Kernstück der Gender-Ideologie – war die Katholische Kirche. Ich sage „war“, weil die Gender-Ideologie als theoretische Ummantelung der sexuellen Revolution tief in die Kirche der westlichen Länder eingedrungen ist. Als in den 1970er Jahren die hedonistische Sexualerziehung in den Schulen eingeführt wurde, hätte die Kirche noch genügend Rückhalt bei den Gläubigen gehabt, um sie zum Widerstand aufzurufen. Aber sie tat es nicht und sie tut es nicht, trotz der Fülle der Lehre von Johannes Paul II. Sie entwickelte keine christliche Alternative zur staatlichen Sexualerziehung; sie gründete kein Institut, um Lehrer für eine Sexualerziehung auszubilden, welche die junge Generation auf Ehe und Familie vorbereitet – nicht einmal für ihre eigenen katholischen Schulen; sie überließ das Territorium weitgehend kampflos den Zerstörern christlicher Kultur. Eltern, die versuchten, ihre Kinder zu beschützen, fanden kaum Unterstützung bei ihrem Pastor oder Bischof.

Warum hat die Kirche ihre Herde nicht vor den Wölfen beschützt, insbesondere die junge Generation? Weil sie dem leidenschaftlichen Aufruf Paul VI. nicht Folge leistete, der mit seiner Enzyklika Humanae Vitae den existentiellen Sinn der Sexualität in der Schöpfungsordnung bekräftigte: die Fortpflanzung. Die systematische Trennung der Sexualität von der Zeugung eines neuen Menschen, welche durch die Pille aller Pillen möglich wurde, öffnete die Tür zu jeder beliebigen sexuellen Aktivität. Alle Warnungen Paul VI. sind eingetroffen.

Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen, und die Kirche befindet sich in ihrer vermutlich größten Krise. Warum? Ein Grund ist, dass sie nicht mehr am Alleinstellungsmerkmal der Christen von Anbeginn festhält: Sex nur in der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau.

Für jene, welche die von Jesus begründete Lehre über Ehe, Familie und Sexualität auflösen möchten, bietet die Krise des sexuellen Missbrauchs von überwiegend jungen Männern durch Priester eine willkommene Gelegenheit. Der „synodale Prozess“, initiiert von Kardinal Marx, will die katholische Lehre an die Forderungen kleiner und kleinster Minoritäten anpassen, welche von den großen Medien, der Politik und mächtigen NGOs unterstützt werden.

Die Ziele des „synodalen Prozesses“ werden in katholischen Schulen schon lange praktiziert. Ein Beispiel: Klaus Mertes, Societas Jesu, Direktor des katholischen Eliteinternats Sankt Blasien, erklärte öffentlich: „Der Kampf für die Rechte von Homosexuellen weltweit ist ein Projekt, für das es sich lohnt, in der Kirche zu bleiben.“

Es gibt im Dokument der Kongregation für das Katholische Bildungswesen kein Signal, dass sie zu dieser späten Stunde aufstehen wird, um für die nächste Generation zu kämpfen. Sie hat ein Recht darauf, so erzogen zu werden, dass sich ihre in allen Umfragen bestätigte Sehnsucht nach Liebe und Familie erfüllen kann. Die Kirche müsste ein Interesse daran haben, denn nur dann werden junge Menschen willens und in der Lage sein, am Aufbau einer christlichen Erneuerung Europas mitzuwirken. Die Erklärung der Kongregation für das Katholische Bildungswesen erscheint wie ein zahnloser Tiger, der brüllt und gleichzeitig seine Pfote denen entgegenstreckt, die ihm seine Jungen rauben wollen.

1968 veröffentliche der Philosoph Dietrich von Hildebrand das Buch Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes. Er spricht von dem „großen säkularisierenden Irrtum unserer Zeit, dass die Religion dem Menschen angepasst werden sollte und nicht der Mensch der Religion.“

Die sichtbare Kirche im westlichen Europa ist im Verfall. Aber darunter sprosst neues Grün. Es gibt unzählige große und kleine Initiativen, in der eine neue Qualität von Jüngerschaft mit Jesus Christus gelebt wird. Sie glauben, dass der Kampf zwischen dem rebellischen Menschen und Gott von Gott gewonnen wird.


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