20. Juli 2019 in Chronik
Der Westen irrt, wenn er meint, der Islam werde durch eine Phase der Aufklärung geläutert - Ein Interview mit P. Adrien Candiard und Prof.Rémi Brague aus der VISION 2000
Wien (kath.net/VISION2000)
In den Debatten über den Islam und seiner möglichen Integration in Europa wird immer wieder behauptet, diese Religion müsse durch eine Periode der Aufklärung gehen, um das Archaische, das dem Islamismus anhänge, zu überwinden. Wie falsch diese Vorstellung ist, wird im folglenden Gespräch mit zwei Islam-Experten deutlich.:
Was weiß man von den Ursprüngen des Islam?
P. Adrien Candiard OP: Lange Zeit hindurch dachte man, man wüsste alles über die Ursprünge des Islam, weil man ja über eine umfangreiche und sehr detaillierte Dokumentation verfügte: die Sira (die Biographien von Mohammed) und die Hadith (eine Sammlung von Anekdoten und Äußerungen). In den siebziger Jahren begann die westliche Geschichtsschreibung eine kritische Untersuchung der Quellen. Sie stellte fest, dass alle Dokumente erst spät (Ende des 8. Jahrhunderts) verfasst worden sind und das in Verbindung mit einem ideologischen Projekt: die Machtposition des entstehenden Abasidenreiches zu begründen.
Dieser ätzende Ansatz kam zu der Schlussfolgerung, man könne all das nicht ernst nehmen. Nach dieser hyperkritischen Zeit hat nun die zeitgenössische Forschung eine ausgewogenere Haltung eingenommen. Sie hat ein feineres Instrumentarium zur Bewertung der Quellen entwickelt und andere Quellen entdeckt, insbesondere nicht-islamische Quellen verwertet, und heute stellt niemand die geschichtliche Existenz von Mohammed infrage.
Prof. Rémi Brague: Immer noch scheint die Frage des Ursprungs unzugänglich. Man weiß zwar, dass ein Mohammed existiert hat. Aber ist es jener, von dem die älteste offizielle Biographie spricht die berühmte Sira , die 150 Jahre nach den Ereignissen verfasst wurde? Niemand vor ihm hieß so
Und was den Koran betrifft: Die im 19. Jahrhundert einsetzenden Studien der Texte lagen bis in die 1970-er Jahre in einem Dornröschenschlaf. Es gibt immer noch keine kritische Ausgabe des Koran. Vor dem 9. Jahrhundert ist historisch nichts wirklich festzumachen.
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Ist der Salafismus Ausdruck der Tradition oder ein Kind der Moderne?
P. Candiard: Man versteht wirklich nichts von dem, was sich in der islamischen Welt abspielt, wenn man den Zugang der Aufklärung wählt: Demzufolge gäbe es eine unerleuchtete Welt der Religion und dann komme die Vernunft, an die sich die Religion manchmal anpassen könne, um offen und tolerant zu werden.
Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass der Salafismus eine altertümliche traditionalistische Bewegung sei, die sich langsam an die Moderne anpassen werde. Der Salafismus ist eine moderne Bewegung, entstanden, als die traditionelle islamische Gesellschaft durch die westliche Moderne sie dominierte in allen Belangen (technisch, wissenschaftlich, militärisch ) in die Krise geriet. Mit dieser Katastrophe konfrontiert, erschien es den Reformatoren notwendig, zu einem ursprünglichen Islam zurückzukehren und mit Jahrhunderten der Tradition zu brechen.
Manche identifizierten ihn mit dem Wahhabismus, einer strengen Richtung in Arabien, die einen sehr einfachen Beduinen-Islam anpreist, weitab von den intellektuellen Konstrukten und dem Rechtsgebäude des traditionellen Islam. Als Kind der modernen Welt hat der Salafismus die Stärke, Antworten auf alle von der modernen Welt aufgeworfenen Fragen (Menschenrechte, Gleichberechtigung der Geschlechter, Demokratie ) zu geben, auf Fragen also, bei denen der traditionelle Islam passen muss.
Brague: Sie sprechen von Schizophrenie, ich würde eher Leiden sagen. Jahrhunderte hindurch lebten die Muslime in der Gewissheit, jene Religion zu verkünden, welche die beiden anderen Stufen der Rakete abschloss: das Juden- und das Christentum. Der Islam hatte den Satelliten auf die Laufbahn gebracht! Er erschien damals als die modernste Religion, der letzte Schrei. Plausibel war das durch kulturelle Vorteile Mathematik, Medizin, Philosophie der islamischen Länder im Goldenen Zeitalter, bis ins 12. Jahrhundert.
Heute sind die Muslime hin- und hergerissen. Sie meinen, die modernste Religion zu haben, müssen aber feststellen, dass sie in der Politik, im Sozialen das Schlusslicht der Welt sind. Wirtschaftlich ist das Erdöl ein Segen, aber reich werden, ohne sich anzustrengen, ist eine katastrophale Gewohnheit. Manche trösten sich mit einer gewissen Blauäugigkeit: Das Atom, die Mikroben, Darwin, all das gäbe es im Koran und der Prophet habe die Demokratie erfunden
Man muss dieses Leiden wahrnehmen, um die späte Entstehung des Salafismus als Revanche am Westen zu verstehen.
Wie soll man die gegenseitige Widerspiegelung der Welt des Islam und des Westens beschreiben?
P. Candiard: Ein Teil der westlichen Welt fühlt sich im tiefsten Inneren vom Islam bedroht. Etwas Symmetrisches findet man in der muslimischen Welt, vor allem in Arabien, wo die traditionelle Gesellschaft durch die Kolonialisierung zutiefst erschüttert wurde. Sie lebt wie der Rest der Welt im Takt des amerikanischen Kultur-Exports, ganz zu schweigen von den militärischen Interventionen des Westens.
Sie erwecken das Gefühl, dass die (fantasierte) Christenheit auf Eroberung aus ist. Sie würden lachen, wenn man ihnen erklärte, dass aus unserer Sicht der Islam als Eroberer erscheint. Es gibt ein gegenseitiges Unverständnis, eine symmetrische Unwissenheit.
Brague: Eine gegenseitige Unkenntnis, ja, aber sie ist nicht symmetrisch. Denn wir wissen, dass wir die Geschichte des Islam nicht kennen. Sie aber wissen angeblich, was das Christentum (und das Judentum) ist, denn der Koran erklärt das ja schwarz auf weiß. Sie interessieren sich genauso wenig für das Christentum, wie der westliche Normalverbraucher sich für die primitiven Religionen interessiert, etwa den Stamm der Nambikwaras.
Was erklärt den Erfolg des Salafismus in unseren Ländern?
P. Candiard: Der Salafismus hat sich in jüngster Zeit wenn schon nicht als neue Orthodoxie, so doch zumindest als bedeutende Referenz im Islam durchgesetzt. Unausgesprochen unterstützt man seinen Anspruch, den wahren Islam darzustellen, wenn man von einem gemäßigten Islam spricht. Damit unterstellt man: Je mehr jemand Muslim ist, umso eher wird er Salafist. Diese Sichtweise wirkt sich katastrophal auf den Durchschnittsmuslim im Straßenbild aus. Der Salafismus ist nicht ein Über-Drüber-Islam, sondern eine seiner Spielarten, eine die weder mehr noch weniger islamisch ist als andere.
Brague: Ich meine, der Wahhabismus ist nicht der wahre Islam, sondern ein wahrer Islam. So gesehen muss man dem Muslim zugestehen, ein religiöser Mensch zu sein. Er hat natürlich nicht den wahren Gottesglauben, aber er praktiziert seine Religion. Übrigens versteht sich der Islam als die natürliche Religion schlechthin. Was die westlichen Menschen an den Muslimen bewundern, ist nicht ihr Glaube, sondern ihre Praxis. Das hat schon Charles de Foucauld in Marokko beeindruckt.
P. Adrien Candiard OP ist Mitglied am Institut dominicain détudes orientales du Caire,
Rémy Brague ist Philosoph und emeritierter Professor am Guardini-Lehrstuhl an der Münchner Universität. Das Gespräch führten Clotilde Hamon et Samuel Pruvot für Famille Chrétienne v. 17.-23.2.18
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