Plädoyer für einen Evangelikalen Katholizismus

23. Juli 2019 in Weltkirche


Dieses Phänomen der getauften Heiden ist ein Hindernis für die Mission der Kirche, denn es lässt vermuten, dass die Kirche die Wahrheit, die sie verkündet, und deren Konsequenzen im Leben nicht ernst nimmt.- Von George Weigel / VISION 2000


München (kath.net/VISION2000)
In seinem 2015 erschienen Buch Die Erneuerung der Kirche vertrat der namhafte US-Journalist George Weigel, der bisherige gegenreformatorische Katholizismus müsse einem „Evangelikalen“ Katholizismus (EK) Platz machen, damit die Kirche angemessen auf die Herausforderungen unserer Zeit reagieren könne. Im Folgenden einige Aspekte dieser erhofften Form des Christseins.

Der EK ist Freundschaft mit dem Herrn Jesus Christus. (…)
Durch die Freundschaft mit Jesus Christus lernen wir das Antlitz des barmherzigen Vaters kennen, der die verlorenen Söhne willkommen heißt und sie neu mit Rechtschaffenheit einkleidet. (…) Der EK verkündet das große Geschenk der Freundschaft mit Jesus Christus nicht als attraktive Variante im Supermarkt der Spiritualität, sondern als gottgegebenes einzigartiges Mittel der Rettung für jedermann.
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Der EK bekennt sich zur göttlichen Offenbarung und nimmt ihre Autorität, die sich in der Geschichte im Lehramt der Kirche fortsetzt, begeistert an.

Sich zu dem zu bekennen, was Jesus über sich sagt – „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – ist unverzichtbar, um in Freundschaft mit Ihm zu leben. Das zu tun, steht fundamental gegen die Kultur der Postmoderne. (…) Wenn Jesus tatsächlich die Wahrheit ist, dann will Er wohl Seine Jünger in der Wahrheit erhalten. Deswegen – so glauben die evangelikalen Katholiken – hat der Herr den Aposteln Vollmacht erteilt und den Heiligen Geist gegeben. Dieser wiederum schafft im Verlauf der Geschichte eine Abfolge von Lehrern, die mit Autorität lehren: das Kollegium der Apostel, die in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom stehen.
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Der EK feiert die sieben Sakramente als von Gott gestiftete Mittel, das Leben zu heiligen.

Die Freundschaft mit dem Herrn wird von den sieben Sakramenten des Neuen Testaments genährt. Sie sind bevorzugte Wege, in denen die Begegnung mit Jesus vertieft wird – mit Ihm, dem ursprünglichen Sakrament, dem einzig Heiligen, der Gott unter uns gegenwärtig macht. (…) Die Heilige Eucharistie steht im Mittelpunkt des evangelikal katholischen Lebens. Es ist das Sakrament, in dem die Kirche wahrhaft zu dem wird, was sie ist, das Volk Gottes, das täglich durch die Gabe von Christi Leib und Blut zum Leib Christi geformt wird.
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EK ist ein Ruf zu fortgesetzter Umkehr im Leben, und das bedeutet Absage an das Böse und aktive Teilnahme an Werken der Liebe und des Dienstes.

Die Kirche der neuen Evangelisation betont die Notwendigkeit von Regeln – des Kirchenrechts –, ist sich aber bewusst, dass eine zu strikte Ausrichtung auf die äußere Zugehörigkeit zur Kirche (…) das reale Problem bringt, dass einige, vielleicht sogar viele Katholiken innerhalb des legalen Rahmens der Kirche verbleiben, allerdings, was ihre Überzeugung und ihre Redeweise anbelangt, in keiner sinnvollen Art katholisch sind. Dieses Phänomen der getauften Heiden ist ein Hindernis für die Mission der Kirche, denn es lässt vermuten, dass die Kirche die Wahrheit, die sie verkündet, und deren Konsequenzen im Leben nicht ernst nimmt.

Evangelikaler Katholizismus betont, dass Freundschaft mit dem Herrn Jesus fortgesetzter Umkehr im Leben bedarf im Wissen, dass eine Kirche der Sünder die Mission behindert. Diese Umkehr erfordert die Absage an das Böse und die sakramentale Versöhnung mit Christus und der Kirche, wenn wir fehlen. (…) Umkehr ist daher lebenslang ein Thema für den evangelikalen Katholiken, für den das Leben als Christ ein Wachsen in der Güte bedeutet.
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Der EK ist eine auf die Bibel ausgerichtete Form katholischen Lebens, wo die Bibel als das Wort Gottes zur Rettung der Seelen gelesen wird.

Der gegenreformatorische Katholizismus verehrte die Bibel, aber aus der Entfernung. (…) Es stimmt, dass heute mehr Katholiken die Bibel lesen als in den fünfziger Jahren. Was viele Katholiken im Westen jedoch von der modernen Bibelforschung mitbekommen haben, ist ein tiefes Misstrauen der Bibel gegenüber: das eine habe nicht stattgefunden; jenes andere sei nur bildlich zu verstehen; ein Drittes wiederum sei ein Mythos (…). Zusammen mit Papst Benedikt XVI. bekennt der evangelikale Katholik, dass die wesentlichen Früchte der modernen historisch-kritischen Art, die Bibel zu lesen, mittlerweile geerntet sind und dass es die Aufgabe der Kirche im 21. Jahrhundert ist, die Bibel mit theologischen Brillen zu lesen, als ein Buch, dessen Zentrum Jesus Christus ist, auf den das Alte Testament hinweist und mit dem das Neue Testament seine Leser zur Freundschaft mit Christus einlädt. (…)

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Der EK ist ein hierarchisch geordneter Katholizismus, in dem eine Vielfalt von Berufungen anerkannt wird.

In einem kulturellen Umfeld, in dem jede Art von Autorität verdächtig ist und der Begriff der göttlichen Autorität als psychologisches Relikt einer vormodernen Zeit angesehen wird, scheint der Anspruch, dass die göttliche Autorität in der ununterbrochenen Reihe der apostolischen Sukzession durch die in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom stehenden Bischöfe vermittelt wird, buchstäblich unglaublich. Der EK verkündet, erläutert und lebt dies (…) Er sieht das Pries­tertum unter dem Aspekt der Ikone: Der katholische Priester ist ein Mann, dessen Weihe ihn zu einer lebendigen Vergegenwärtigung des Herrn Jesus macht. Daher ist der Priester, ebenso wie der Bischof, vor allem ein Hirte: ein Prediger, Lehrer, Katechet und Heiligmacher – und dann erst ein Verwalter.

Die Berufung des Laien, wie sie der EK versteht, ist vor allem die zur Evangelisierung: der Familie, der Arbeitswelt, der Nachbarschaft, also der Kultur, der Wirtschaft, der Politik. Dabei bringen die Laien das Evangelium überall dorthin in „der Welt“, wo sie selbst den besseren Zugang haben.
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Der EK ist Kultur schaffend, aber auch eine Gegenkultur.
Er schafft also seine eigene Kultur. Wer als Freund des auferstandenen Herrn in der Gemeinschaft der Kirche lebt, spricht eine eigene Sprache (in der etwa „Gehorsam“ und „Vergebung“ eine weiter reichende Bedeutung haben als in der vorherrschenden postmodernen Kultur). Sie leben nach einem eigenen Zeitrhythmus (in dem der Sonntag nicht einfach ein Tag ist, an dem die Shopping Centers früher zusperren). Sie feiern eigene Rituale, halten sich an einen einzigartigen Satz von Gesetzen, lieben bestimmte Geschichten und erzählen sie weiter, haben eine eigene Sicht auf das Leben (und den Tod).

Im dahinschwindenden gegenreformatorischen Katholizismus, der dem nach dem 2. Weltkrieg entspricht, erlebten die Katholiken eine relativ angenehme Über­einstimmung zwischen Kirche und deren kulturellem Umfeld. In vieler Hinsicht war dieses noch erkennbar christlich; als Christ im Westen erlebte man die Kirche nicht als Gegenkultur.

(…) Kurz nach dem Konzil jedoch hat die Hochkultur des Wes­tens eine scharfe Richtungsänderung zu einem aggressiven und vorherrschenden Säkularismus gemacht. Er äußert sich als Chris­tophobie: eine tief sitzende Feindschaft gegenüber der Wahrheit der Evangelien (besonders der moralischen Wahrheit) und eine Entschlossenheit Christen, die diese Wahrheit bejahen, aus der Öffentlichkeit in das Privatleben am Rande der Gesellschaft zu drängen. (…)

Christlicher Glaube bedeutet Christus, nicht irgend eine Sammlung „christlicher“ Ideen. Es ist Christus, den Christophobe im 21. Jahrhundert fürchten. Sollte der Westen sich von seiner selbstverschuldeten moralischen Krise erholen, ist es Christus, der helfen wird, die irdische Stadt vermittels der Stadt Gottes – gegenwärtig in der zukunftsweisenden Gegenkultur, nämlich der Kirche – menschlich zu machen.

Dieser Herausforderung können sich nicht ängstliche und laue Christen stellen. Da bedarf es eines kräftigen evangelikalen Chris­tentums, das die Frohbotschaft in mutig ansprechender Weise anbietet und darauf besteht, dass die Staatsmacht der Kirche jenen Freiraum einräumt zu sein, wie sie ist, um das Evangelium verkünden und ihre karitativen Dienste anbieten zu können. Somit versucht der EK eine kulturformende Gegenkultur zum Heil der Welt, zu ihrer Heilung und Umkehr zu sein.

Auszug aus dem Vortrag: „Evangelical Catholicism: The Deep Reform of the Church that Began in 1878“ am 26. Juni im Pfarrsaal der Allerheiligen Gemeinde in München veranstaltet mit dem Media Maria Verlag, in dem auch sein Buch erschien: Die Erneuerung der Kirche – Tiefgreifende Reform im 21. Jahrhundert


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