18. Juli 2019 in Kommentar
Für die Welt ist es eine Sensation: Antike Christen hatten auch einen Alltag. Gastkommentar von Michael Hesemann
München (kath.net) Die Welt kommt aus dem Staunen nicht heraus. Da hat eine Basler Althistorikerin doch tatsächlich nachgewiesen, dass antike Christen manchmal auch ein ganz normales Leben führten. Bislang, so behauptet das Prestigeblatt des Axel Springer-Konzerns, hätte man in ihnen allenfalls weltfremde Spinner vermutet, die sich in völliger Askese auf ihr Martyrium vorbereiteten, um dann singend im Zirkus die Löwen zu erwarten. So jedenfalls zitiert die in Berlin erscheinende Tageszeitung ihre Gewährsfrau Sabine Huebner. Die bekannten Quellen zum frühen Christentum stammten der Expertin zufolge vor allem aus der Feder von Bischöfen: Danach stellt man sich vor, dass sich die ersten Christen nur dem Gebet widmeten, allen Reichtum aufgaben, sich für den Märtyrertod bereithielten und reihenweise vor die Löwen sprangen.
Erst ihre Auswertung von ägyptischen Papyrusfunden, darunter der Privatkorrespondenz früher Christen aus der besseren Gesellschaft (Angehörige der Unterschicht pflegten damals wie heute keine ausgiebige Korrespondenz) habe ergeben, dass diese auch öffentliche Ämter bekleideten, Reisen unternahmen, Steuern bezahlten und, oh Wunder, sogar eine Vorliebe für Fischsoße, das Maggi der Antike, hatten wohlbemerkt um ihre eigenen Speisen damit zu würzen, nicht das Futter für die Löwen. Muss also die Geschichte des Christentums endlich umgeschrieben werden?
Rund 1000 antike Papyri fand man schon vor einem Jahrhundert in der Oase Fayyum südwestlich von Kairo. Hier hatte, wie archäologische Funde belegen, schon im 1. Jahrhundert, also zur Zeit des Apostels Markus, eine ungewöhnlich erfolgreiche Mission stattgefunden. So ergaben Ausgrabungen von Archäologen der amerikanischen Brigham Young-University, dass gegen Ende des 1. Jahrhunderts in Fayyum eine regelrechte Revolution im Bestattungswesen stattgefunden hat. Begrub man bis dahin die Toten mit dem Kopf nach Osten, wurden plötzlich immer mehr Tote mit dem Kopf nach Westen bestattet. Das entspräche dem Glauben der Christen, dass Jesus beim Jüngsten Gericht im Osten erscheint und die Toten erweckt, die ihm dann direkt ins Antlitz sehen könnten. Die Heiden dagegen hätten dem Totenreich im Westen entgegenschauen wollen. Auch die Grabbeigaben wechselten von heidnischen Göttersymbolen und Ushabti-Dienerfigurinen zu Kreuzen, Frauenstatuetten, Brot, Wein und Kelchen. Ebenfalls in Fayyum kam es im 1. Jahrhundert zu einer Revolution in der bildenden Kunst. Die Mumienportraits aus der Oase sind die frühesten realistischen Portraits der Kunstgeschichte. Der Quantensprung von der stereotypen Menschendarstellung der heidnischen Antike hin zum Individualismus steht für einen Paradigmenwechsel. Durch den Siegeszug des christlichen Menschenbildes wird die Gottebenbildlichkeit jedes Einzelnen mit allen seinen Eigenheiten erkannt und zum neuen Ideal. Wen aber erstaunt dann, dass die immer größer werdende christliche Gemeinde von Fayyum auch Schriftliches hinterließ?
Immerhin 600 Textfragmente liegen jetzt übersetzt in einer wissenschaftlichen Edition (Sabine Huebner: Papyri and the Social World of the New Testament, Cambridge University Press 2019) vor. Die restlichen 400 warten noch auf ihre Auswertung. Gut möglich also, dass es hier noch zu der einen oder anderen echten Überraschung kommt. Nur Huebner staunt jetzt schon: Die Christen nahmen durchaus am politischen Leben teil, sie reisten und sie besaßen Ländereien.
Der älteste identifizierte eindeutig christliche Brief stammt aus dem Jahre 239. In ihm bittet ein Arrianus seinen reisenden Bruder Paulus in feinstem Altgriechisch, ihm die beste Fischsoße, die Du finden kannst, mitzubringen. Zudem lässt er ihn wissen, dass ein Verwandter gerade in den Stadtrat gewählt wurde. Nicht nur der seltene Name Paulus verrät Absender wie Adressaten als Christen, sondern auch das Grußwort am Ende des Briefes: Ich bete, dass es Dir gut geht im Herrn.
Allerdings illustriert der Brief nur, was längst bekannt ist: Natürlich haben auch die Christen der ersten Jahrhunderte einen Alltag gehabt. Verfolgungen waren eher selten und traten nur sporadisch auf, etwa im Jahre 64 unter Nero, im Jahre 95 unter Domitian oder um 112 unter Trajan. Zudem gab es Einzelanklagen und lokale Aktionen übereifriger Statthalter. Im gesamten Römischen Reich wurden die Christen aber erst unter Decius (um 250), Valerian (258) und Diokletian (303) verfolgt. Ägyptischen Chroniken zufolge ließen bei der letzten, größten Verfolgung bis zu 850.000 Christen ihr Leben, weil sie sich weigerten, das Kaiseropfer darzubringen.
Der zitierte Brief stammt aber, wie gesagt, aus dem Jahr 239, als eine längere Friedenszeit für die antiken Christen sich allmählich ihrem Ende neigte. Und so interessant es auch ist, Details aus ihrem Alltagsleben zu erfahren; eine Sensation ist der Fund allenfalls für die klischeebelastete Welt.
Denn natürlich wusste jeder Historiker schon längst, dass die frühen Christen mit beiden Füßen fest im Leben standen, wenn auch ihr Herz dem Himmel gehörte. In der Apostelgeschichte lesen wir, dass sogar der Apostel Paulus zwischenzeitlich einem bürgerlichen Beruf, dem des Zeltmachers, nachging, während er am Wochenende das Evangelium verkündete oder eine neue Missionsreise vorbereitete. Seine Gastgeber, Prisca und Aquila, waren ebenfalls Zeltmacher, die vor einer Verfolgung aus Rom nach Korinth geflohen waren. Die erste Getaufte Europas war die Purpurhändlerin Lydia; auch sie wird nach der Taufe weiterhin ihrem Beruf nachgegangen sein. Ebenso der Senator Pudens, der Petrus und Paulus in Rom Unterschlupf bot, ein Freund des Dichters Martial; er blieb politisch einflussreich, bis er 96 unter Domitian das Martyrium erlitt. Sein Sohn Rufus Pudens war römischer Offizier und einer der ersten Christen, die den neuen Glauben nach Britannien brachten, wo er die Königstochter Claudia Rufina heiratete. Die Urchristen reisten also, trieben Handel, waren in der Politik aktiv und dienten manchmal sogar beim Militär.
Allerdings zeichneten sie sich doch durch einen etwas anderen Lebenswandel aus. Sie erteilten der römischen Dekadenz und Unzucht eine Absage, schenkten ihren Sklaven die Freiheit und gaben Almosen an die Armen oft ein Zehntel ihrer Einkünfte. Dass sich im 3. Jahrhundert in Rom wie in Ägypten längst breite Kreise der Oberschicht zum Christentum bekannten, davon zeugt auch die prachtvolle spätrömische Totenstadt, die man unter dem Petersdom besichtigen kann. In unmittelbarer Nähe des Petrusgrabes fanden Archäologen zahlreiche Grabkammern mit eindeutig christlichen Inschriften, reich geschmückt mit Fresken, Stuckarbeiten und Goldmosaiken. Es gab sogar christenfreundliche Kaiser wie Antoninus Pius und von Philipp dem Araber heißt es in der Kirchengeschichte des Eusebius, er sei sogar heimlich Christ gewesen.
Dass die frühen Christen mit beiden Beinen im weltlichen Leben standen ist allerdings kein Indiz für eine frühe Verweltlichung. Sie praktizierten vielmehr, was der heilige Jose-Maria Escriva 1700 Jahre später als Heiligung des Alltags bezeichnen sollte. Ein frühes Mönchswesen gab es zu diesem Zeitpunkt nur in Ägypten; es sollte sich erst von der Mitte des 4. Jahrhunderts an, seit dem Exil des hl. Athanasius in Trier und seinem Aufenthalt in Serdica (Sofia), langsam auch in Europa ausbreiten. Die breite Mehrheit versuchte einfach, ein gottgefälliges Leben zu führen, regelmäßig zu beten, zu bestimmten Zeiten zu fasten und wöchentlich die hl. Eucharistie zu empfangen. Reisen, politische Ämter oder kulinarische Freuden kann denn eine gute Fischsoße Sünde sein? standen dem nicht im Wege. Erst in Zeiten der Verfolgung wurde ihr Glaube geprüft. Hier war echter Heroismus häufig, aber auch nicht die Regel. Grund genug, jene umso höher zu schätzen, die aus ganzer Überzeugung mutig vor die Löwen traten, weil sie im Vertrauen auf Christus den Tod nicht fürchteten.
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Jesus in Ägypten
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