23. Juli 2019 in Kommentar
Jüngst fühlten sich einige bemüßigt, dem emeritierten Papst Benedikt XVI. zu widersprechen. Gastbeitrag von Dominikus Kraschl
Chur (kath.net) In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau fühlte sich der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf unlängst bemüßigt, dem emeritierten Papst Benedikt XVI. zu widersprechen. Sexuelle Übergriffe durch Kleriker seien keineswegs auch eine Folge der sexuellen Revolution und der gesellschaftlichen Umbrüche im Zuge der 1968er Jahre, wie Benedikt in seinem Beitrag Die Kirche und der Skandal sexuellen Missbrauchs insinuiert hatte. Vielmehr fänden sich Hinweise auf sexuellen Missbrauch [
], seitdem wir Quellen über Kleriker und deren Verhalten haben.
In ein ähnliches Horn bliesen in ihrer Stellungnahme Christoph Breitsameter und Stephan Görtz, die beiden Sprecher der deutschen Arbeitsgemeinschaft für Moraltheologie: Es führt in die Irre zu unterstellen, in katholischen Milieus, die ganz unberührt von jeglicher sexuellen Emanzipation oder theologischen Erneuerung gewesen sind, sei Missbrauch nicht vorgekommen.
Der Freiburger Fundamentaltheologie Magnus Striet ging in seiner Kritik noch weiter. Er warf Benedikt kurzerhand Ignoranz und Manipulation vor: Wer meint, international vorgelegte Studien zu missbrauchsbegünstigenden Faktoren in der katholischen Kirche mit einer Handbewegung vom Tisch wischen zu können und stattdessen mit dem alternativen Faktum aufwartet, die 68er seien es gewesen, ist verdammt nah dran an einem weltweit zu beobachtenden Zeitgeist, der sich alles so zurechtbiegt, wie es der eigenen Agenda entspricht.
Nun ist es eine Binsenwahrheit, dass es zu allen Zeiten sexuelle Übergriffe gegeben hat. Und es ist ebenso eine Binsenweisheit, dass im Blick auf den sexuellen Missbrauch mehr als nur eine Ursache in den Blick zu nehmen ist. Hatte Benedikt in diesem Text dies in Abrede gestellt? Mit keinem Wort. Hätten seine Kritiker Benedikts Ausführungen aufmerksam und mit etwas Wohlwollen gelesen, hätten sie schnell gemerkt, dass es dem emeritierten Papst weder um eine umfassende Ursachenanalyse noch darum ging, der sexuellen Revolution alle Übel zuzuschreiben. Worum es Benedikt unter anderem ging, war das ungeheure Ausmaß sexuellen Missbrauchs: Wieso konnte Pädophilie ein solches Ausmaß erreichen?, fragte er. Darüber hinaus ging es ihm wohl auch darum, in der Diskussion bislang vernachlässigte Aspekte zur Sprache zu bringen. Aber konnte er sich dafür denn auf belastbares Datenmaterial stützen?
Die beiden Reporte des John Jay Centres of Criminal Justice, die bislang umfangreichste Studien zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker in den USA, legen das nahe. Der zweite Report (2011) hält in der Einleitung fest, dass der Anstieg der Missbrauchsfälle in den 1960er und 1970ern durch soziale Faktoren in der Amerikanischen Gesellschaft beeinflusst wurde und insgesamt den starken Anstieg an Missbrauchsfällen in der Amerikanischen Gesellschaft widerspiegle.
Auch die von den Studien erhobenen Zahlen sprechen für sich: Das Ausmaß mutmaßlicher Fälle sexuellen Missbrauchs durch Kleriker in den 1960er, 1970er bis 1980er Jahren stieg in den USA nicht etwa nur ein wenig, sondern um mehrere hundert Prozent an! (Siehe Graphik unten, vgl. John Jay 2004, Abb. 2.3.1).
Wenn Wolf, Striet und andere Vertreter der Theologen-Zunft keinerlei Zusammenhang zwischen gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen und der Zunahme sexuellen Missbrauchs in und außerhalb der Kirche sehen können oder wollen, dann offenbaren sie genau jene fahrlässige Ignoranz und ideologische Verbohrtheit, die sie ihrem Gegenüber vorwerfen meinen zu müssen. Man muss Benedikts Ausführungen gewiss nicht in allen Einschätzungen teilen, eines aber wird man festhalten dürfen: Im Blick auf die genannten Zahlen, Daten und Fakten erweist sich der 92-jährige Benedikt erheblich besser informiert als seine besserwisserischen Kritiker.
Annual Count of Incidents Reported and Priests Accused, by Year
Dominikus Kraschl OFM ist Professor für Philosophie und Philosophiegeschichte an der Theologischen Hochschule Chur.
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