16. August 2019 in Weltkirche
Ein theologischer Beitrag von Gerhard Ludwig Kardinal Müller über das Thema Selbstsäkularisierung
Rom (kath.net)
1.4. Die Wahrheit und Freiheit des Glaubens
Zur Einheit der Verpflichtungskraft der Wahrheit und der freien Zustimmung erklärte das II. Vatikanische Konzil: "Gott selbst hat dem Menschengeschlecht Kenntnis gegeben von dem Weg, auf dem die Menschen, ihm dienend, in Christus erlöst und selig werden können. Diese einzigen und wahren Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, apostolischen Kirche, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten... Alle Menschen sind ihrerseits verpflichtet, die Wahrheit zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren. In gleicher Weise bekennt sich das Konzil dazu, dass diese Pflichten die Menschen in ihrem Gewissen berühren und binden, und anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als Kraft der Wahrheit selbst, die sanft und stark den Geist durchdringt. Da nun die religiöse Freiheit, welche die Menschen zur Erfüllung der pflichtgemäßen Gottesverehrung beanspruchen, sich auf die Freiheit vom Zwang in der staatlichen Gesellschaft bezieht, lässt sie die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet." (DH 1).
Es steht die Alternative zur Debatte, ob mit der geistig-moralischen Existenz des Menschen notwendig die Frage nach Gott verbunden ist unabhängig vom Wind des Zeitgeistes. Gibt es oder gibt es nicht einen absoluten Bezugspunkt der Vernunft, der nicht dieser Welt angehört, sondern sich als deren transzendenter Grund erweist, gleich ob man ihn annimmt oder verwirft. Und es geht um die Frage, ob im Akt seiner Selbstoffenbarung Gott dem Menschen die Gewissheit seiner Existenz vermittelt und sich ihm als Ursprung und Ziel seiner Suche nach Erkenntnis der Wahrheit und dem Grund des sittlich guten Handelns zeigt. "Den Menschen ist offenbar, was man von Gott erkennen kann. Gott hat es ihnen offenbart: seine ewige Macht und Gottheit-Invisibilia enim ipsius a creatura mundi, per ea quae facta sunt, intellecta (nooumena) conspiciuntur: sempiterna quoque eius virtus et divinitas." ( Röm 1,19). Die so erreichte Gewissheit der Erkenntnis der Existenz Gottes öffnet die Ohren für ein Hören seines frei an uns ergehenden WORTES in seiner geschichtlichen Offenbarung.
Bei den Argumenten für die Erkenntnis der Existenz Gottes geht es nicht darum, die Atheisten zum Glauben zu nötigen, sondern sich der intellektuellen Dimension in der Anerkenntnis des Daseins und Wirkens Gottes im Glauben zu vergewissern und denen, die interessiert nach dem Sinn und Grund (logos) der Hoffnung der Glaubenden fragen, intellektuell redlich Rede und Antwort (apo-logia) zu stehen (vgl. 1Petr 3,15). Diese Auseinandersetzung um das Erste und das Letzte kommt nie zu Ende und wird deshalb in jedem Menschen zu seiner Zeit neu aufbrechen, weil der Mensch seine Existenz nicht nur hinnimmt, sondern definitiv über sie entscheiden muss. Der Stellungnahme zu seinem Dasein kann sich keiner entziehen. Selbst im Suizid trifft der Mensch -hier abgesehen von der ethischen Bewertung der Motive- eine definitive Entscheidung über sein ganzes Sein.
Denn Gott ist im christlichen Glauben nicht ein Gegenstand der philosophischen Reflexion und theologischen Theoriebildung oder eine Hilfskonstruktion in naturwissenschftlich noch ungehkläretn Fragen sondern Ursprung und Ziel allen Seins und somit auch der Ermöglichung des Nach-denkens über die metaphysischen Prinzipien des Seins und ihrer Erkenntnis.
Wir können von Gott nur sprechen, weil er uns zuvor angesprochen hat, zumindest schon unthematisch und implizit im Sein der Schöpfung, das unser Denken auf Gegenstände hinlenkt und den Horizont auf ihren transzendenten Grund öffnet. Denn der Glaube an Gott ist nicht eine Spielart der "mythologisch-fabelnden oder politischen Religion oder der philosophischen Theologie" oder eine kulturell bedingter Ausdrucksform einer anthropologischen Anlage zur Bewältigung der Kontingenz, sondern die Erkenntnis Gottes im Licht des Heiligen Geistes. "Ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, so dass ihr immer noch Furcht haben müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater! Der Geist selber bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm verherrlicht zu werden." (Röm 8,15-17). So hat der Glaube an Gott seine Herzmitte im personalen Dialog, wenn wir beten und bekennen, wie es der hl. Augustinus in seinen Bekenntnissen tat:
"Loben will dich o Gott der Mensch, selbst ein Teil deine Schöpfung. Du selbst veranlasst ihn, in deinem Lobpreis seine Wonne zu suchen, denn geschaffen hast du uns im Hinblick auf dich, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir. Verleihe mir o Herr, die rechte Einsicht, ob man dich erst anrufen oder preisen, erst dich erkennen oder anrufen muss."
Aber mit dem Tod als Totalverlust des Selbstseins ist auch der Schmerz über das Sterben der nächsten Verwandten und der liebsten Freunde verbunden. Denn mit dem Tode stirbt nicht nur das Leben, sondern wird auch seine Wurzel, nämlich die Liebe, ausgerissen. Ohne die Liebe ist das Leben nicht nur eine Last, sondern ein Qual. Die Frustration der Liebe ist der Stachel der Gott-losigkeit.
"Mit dem Tod ist alles aus" scheint die definitive Erkenntnis des Naturalismus zu sein, mit der die Akten über jeden einzelnen Menschen zu schließen sind.
Wie aber kommt es, dass nach 2000 Jahre der christlichen Botschaft von einem Sieg des Lebens über den Tod, gerade in den Regionen seiner größten Ausbreitung, eine Weltanschauung in Millionen von getauften Menschen entstanden ist, die den Sinn ihres Lebens auf die immanente Welt beschränkt und es damit der Tragik der Verzweiflung und des endgültigen Scheiterns ausliefert. Die Christen waren überzeugt, dass mit Jesus Christus eine absolute, nicht mehr rückgängig zu machende und zu überholende Neuheit in die Welt gekommen ist. "Er ist das wahre Licht, das in die Welt gekommen und jeden Menschen erleuchtet." (Joh 1,9). Er ist mit dem Vater und dem Heiligen Geist der dreieinige Gott. In seiner Menschwerdung hat der Sohn Gottes, Jesus Christus, unser Fleisch angenommen und uns zu Kindern und Freunden Gottes gemacht. In seiner Person ist die Wahrheit nicht eine Theorie, das Leben nicht nur flüchtiges In -der-Welt-Sein, sondern Einheit mit Gott in Erkenntnis und Liebe.
Irenäus von Lyon zeigt gegenüber den endlos versponnenen gnostischen Spekulationen und der Sisyphosarbeit der antiken Philosophen den Ausweg aus dem Labyrinth menschlicher Irrungen und Holzwege die Modernität des Christentums auf, weil es die immer aktuelle Antwort ist auf die Frage, die der Mensch sich selber ist. Christus hat in seiner Menschwerdung die ewige Neuheit Gottes mit sich in diese Welt gebracht.
Omnem novitatem semetipsum attulit.
Die ergibt sich aus der eschatologischen Verwirklichung des Heils inmitten der Geschichte der ganzen Menschheit mit Gott, die am Ende der Zeiten so offenbar wird, dass "Gott alles in allem sein wird" (1 Kor 15,28).
Was einem säkularisierten und auf die Innerweltlichkeit reduzierten Bewusstsein so unverständlich, ja peinlich anmutet ist der Bezug zur Transzendenz und damit zu einer Wirklichkeit, die unser menschliches Sein und Leben in ein neues Licht rückt und unserem Denken einen unendlichen Horizont eröffnet. Da wir uns der Transzendenz und der Unendlichkeit nicht technisch bemächtigen und instrumental bedienen können, erschließt sich uns die Dimension der Unverfügbarkeit und der Unantastbarkeit des "ganz anderen" (Karl Barth). Das ist die Erfahrung des Heiligen durchaus in der Bedeutung, dass von daher auch Erlösung und Gerechtigkeit kommt, die Wunden geheilt und die Sehnsucht nach Wahrheit und Liebe gestillt werden, dass unser Herz dort Frieden und Glück finde, d.h. in der Lebensgemeinschaft mit Gott geheiligt werde. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass von diesem "Ganz anderen" eine grundlegende Antwort auf die existentiellen Fragen kommt, die mit der Kontingenz unseres Seins in der Welt verbunden sind. Das sind die Fragen, die unabhängig sind vom Stand der Wissenschaft und Technik und der Gesellschaftsentwicklung: "Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Scherzes, des Bösen, des Todes- alles Dinge, die trotz solchen Fortschritts noch immer weiterbestehen? Wozu diese Siege, wenn sie so teuer erkauft werden mussten? Was kann der Mensch der Gesellschaft geben, was von ihr erwarten? Was kommt nach diesem irdischen Leben?" (GS 10)- so haben es die Konzilsväter in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes bündig zusammengefasst.
Hans Joas versucht in seinem Buch mit dem programmatischen Titel "Die Macht des Heiligen." nichts weniger als "Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung". Bekanntlich geht der Begriff der Entzauberung auf Max Weber zurück, der damit das letztgültige Paradigma der Moderne gefunden zu haben meinte. Der jahrtausendelange Prozess der Religionsgeschichte münde mit innerer Notwendigkeit in die Säkularisierung aller Lebensbereiche und des gesamten Bewusstseins. Dadurch werde die Wahrheit aller religiösen Lehre und der Sinn von Kult und Ritual, in dem der Transzendenzbezug symbolisiert und repräsentiert wird, definitiv außer Kraft gesetzt.
Hans Joas will natürlich nicht- weil die Flucht in eine frühere Zeit weder real noch gedanklich unmöglich ist- hinter die Aufklärung des 18. und die Religionskritik des 19.
Jahrhunderts zurück gehen, sondern über die unfruchtbare Antithese von Religion und Wissenschaft hinaus gelangen. Die Religion als Erfahrung des Heiligen und die Philosophie als Denken des Seins (mit seinen Transzendentalien des unum et verum, des bonum et pulchrum) widerstreiten aber keineswegs der erfahrungswissenschaftlichen Analyse der Struktur der materiellen Welt und des Menschen unter soziologischen und psychologischen Gesichtspunkten.
Andererseits sind die empirischen Wissenschaften aufgrund ihrer methodischen Begrenzung nicht in der Lage, über den realen Grund des Transzendenzbezugs des Menschen Auskunft zu geben."Auch auf dem Gebiet der Religionspsychologie, wie auf dem der Religionsgeschichtsschreibung, stehen sich nicht dogmatische und voraussetzungsfreie Denkweise feindlich gegenüber, sondern verschlingen sich die empirischen wissenschaftlichen Fragen und die Fragen nach der Berechtigung der Geltungsansprüche religiöser Rede vielfältig miteinander. Auch hier kann die Lösung nicht in einer simplen Auftrennung dieser Verschlingungen bestehen; auch hier sind Einigungen über empirische Sachverhalte möglich und wird die Geltungsdiskussion durch die empirische Forschung zwar nicht entschieden, aber wesentlich bereichert."
Angesichts der geistleiblichen Verfassung des Menschen kann es gar keine strikte Trennung zwischen sinnlich-empirischen und transzendentaler Erkenntnis, die sich immer wechselseitig bedingen und fördern. Das trifft auf das Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie zu, aber auch auf die historisch-kritische Erforschung der literarischen Zeugnisse der Bibel und der kirchlichen Tradition einerseits und der dogmatischen Methode, die das Bekenntnis der Kirche als Ausdruck des tatsächlich an uns ergangenen Wortes Gottes erkennt.
Eine materialistische oder idealistische Methodenreduktion widersprechen apriori der Natur der sinnlich gebundenen menschlichen Geistestätigkeit. Geist und Materie lassen sich weder dualistisch auseinanderreißen noch monistisch vereinen, so dass das eine Grundprinzip des endlichen Seins nur eine Aggregatzustand des andern wäre.
Zweifellos bildet die religiöse Erfahrung der "Macht des Heiligen" eine anthropologische Konstante des Bewusstseins unserer Existenz in der Welt. Die Moderne oder "die postchristliche Welt des Westens" ist im eigentlichen Sinn nicht durch die Säkularisierung als dem notwendigen Ziel einer Entzauberung der Welt charakterisiert, sondern eher durch die Alternative von authentischer Religion und ihrer Entfremdung in allerlei Ersatzformen von Religion und Kult der totalitären politischen oder weltanschaulichen Ideologien.
Der christliche Glaube verdankt seine Überzeugungskraft nicht dem "Zauber", der die Welt einhüllt und den Verstand auf der Stufe einer kindlichen "Märchenwelt" festhält, die es einmal auf die Stufe zur nüchternen Wirklichkeitssicht des Erwachsenen zu übersteigen gilt.
Denn im Glauben geht es um die personale Beziehung zu Gott als Schöpfer, Erlöser und Versöhner unabhängig vom Bild und Modell, da sich die Menschen von der Struktur der Materie und den natürlichen Ursachen und Wirkzusammenhängen machen. Deshalb ist der Glaube als freie Zustimmung zu dem an uns ergangenen Wort Gottes unabhängig vom Reifungsprozess des individuellen Menschen. Auch das Kleinkind steht schon in einer Beziehung zu Gott. Menschen verschiedenster Zeiten und Epochen und Kulturen, des unterschiedlichsten Bildungstandes, der handwerklichen oder theoretischen Begabung, der gesellschaftlichen Stellung haben durch Christus einen unmittelbaren Zugang zu Gott, ihrem Schöpfer und Vater. Biblisch gesprochen heißt dies: Wir sind Freie und Kinder Gottes. So fragt Paulus die Galater: "Doch einst, als ihr Gott noch nicht kanntet, wart ihr Sklaven der Götter, die in Wirklichkeit keine sind. Wie aber könnt ihr jetzt, das ihr Gott erkannt habt, mehr noch von Gott erkannt worden seid, wieder zu den schwachen und armseligen Elementarmächten zurückkehre? Warum wollt ihr von Neuem Sklaven werden?" (Gal 4,8f) und er stellt lapidar den heilsgeschichtlichen Status des Christen fest: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit." (Gal 5,1).
Was der Gläubige von heute brauch ist eine neue Synthese von Glauben und Vernunft in einem ideologiefreien Weltbild, das offen ist auf die universale Orientierung an Gott als Ursprung und Ziel allen geistigen und materiellen Seins.
Gott ist nicht dies oder jenes oder die Summenformel des Kosmos, sondern die totale Erkenntnis seiner selbst, die auch meine Welt und Selbsterkenntnis einschließt und möglich macht.
Der Szientismus kann die metaphysische Frage nach der Sinn und Ursprung von Sein, der Grundunterscheidung von wahr und falsch in der Erkenntnis oder von Gut und Böse im Handeln nicht ersetzen oder die theologische Frage nach Gott als Ursprung und Ziel des Menschen als überflüssig abweisen, weil er das Ganze des Seins weder theoretisch noch praktisch in den Griff bekommt.
Zwar wird immer auf den Siegeszug der modernen Technik verwiesen, die die überlegene Effizienz des naturwissenschaftlichen Denkens gegenüber der Metaphysik und Theologie unwidersprechlich demonstriert. So sehr die Segnungen der Technik für die Medizin, das physische Arbeitsleben, die globale Kommunikation zu begrüßen sind, darf aber auch nicht die Steigerung des Missbrauchs ins Unermessliche einer totalen Überwachung in einem System der Lüge oder der Auslöschung der Menschheit im Atomkrieg oder in Genoziden übersehen werden. Die ethischen und anthropologischen Fragen wachsen mit den positiven und destruktiven Möglichkeiten von Wissenschaft expotentiell mit und sind für das Schicksal der Menschheit und die die Verteidigung der Menschenwürde eines jedes einzelnen entscheidender denn je.
3. Selbstsäkularisierung des Christentums- ein Ausweg?
Andere "Menschen von heute" mit einem christlichen Hintergrund wollen sich vom Glauben in seiner katholisch-orthodoxen Form emanzipieren, weil sie sich von "der" Kirche -genau gesagt: vom Papst, den Bischöfen und ihren Seelsorgern vor Ort- "bevormundet" wähnen, als ob der Auftrag Jesu an seine Jünger, allen Menschen seine Botschaft wirkmächtig zu verkünden (Mt 28,19) etwas mit der Attitüde des Lehrer zu tun hätte, der seinen Schülern sagt, was sie zu denken haben. Es wirkt sich die Hermeneutik des Verdachts aus, dass "die" Kirche ihre Anhänger von den Segnungen des Fortschritts und den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft -auch in der historischen Kritik an Bibel und Dogmenentwicklung- fernhalten will, nur um ihre gesellschaftliche Macht zu sichern.
Dabei wird die Kirche nicht als Gemeinschaft der von Christus zur Gnade und zum Zeugnis des Evangeliums Berufenen und Getauften zusammen mit ihren Hirten gesehen, als Leib Christi und Sakrament des Heils der Welt. "Moderne" Christen, welche die Kirche der Zeit anpassen und sie gemäß den Gesetzen der Welt reformieren wollen, übernehmen gleichsam den Blick der Nichtgläubigen auf die Kirche, die ihnen wie ein politischer Gesellschaftsverband mit höchst irdischen Zielen und Eigeninteressen vorkommt. Statt mit dem Evangelium Christi will man mit Hilfe von Politik und Medienarbeit dem religiösen Konsumenten die "Sache" des Christentums schmackhaft machen. "Man engagiert sich" lieber in der Migrationspolitik und "bezieht Position" bei Klimawandel und Erderwärmung.
Da man vom naturalistischen Standpunkt beeindruckt ist, begnügt man sich mit einem funktionalistischen Gebrauch der Dogmen und der Moral, indem ein orthodoxes Verständnis des katholischen Glaubens als supranaturalistisch oder dogmatisch abqualifiziert wird. Oder man drückt sich in politischen Kategorien aus und unterscheidet eine konservative von einer progressiven Richtung, als ob der Glaube nicht die Erkenntnis von Gottes Wahrheit und die Moral die Erfüllung seiner Gebote wäre, sondern nur eine zur Wahl stehende Ideologie. So wie das gesellschaftlich-politische Umfeld vor und nach der Revolution nicht mit dem Glauben als Gottesverehrung zu identifizieren ist, so kann er sich auch nicht im Gegenüber zur neuen Gesellschaftsverfassung als prorevolutionär oder reaktionär, politisch liberal oder politisch konservativ vereinnahmen lassen.
Reform der Kirche versteht man nicht mehr als Erneuerung im Geiste Christi und Gleichgestaltung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn, sondern als überfällige Anpassung an die "moderne Welt", was immer man darunter näher hin verstehen mag.
Gesellschaftskonformität wird zum Gütesiegel der Kirche von "heute".
In der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung des hl. Hieronymus, die für die Sprachen des westlichen Christenheit ausschlaggebend war, kommt der Begriff "Reform" allerdings in anderem Zusammenhang vor: "Gleicht euch nicht dieser Welt an- nolite conformari-, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens- reformamini in veritate sensus vestri-, damit ihr prüfen könnt, was der Wille Gottes ist: das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene!" (Röm 12,2)
Es bleibt im postchristlichen Stil eine unbestimmte Religiösität zurück, die auf liturgische und volkstümliche Riten nicht verzichten will und biblische Geschichten als existentielle Metaphern schätzt. Aber der dogmatische, die Wahrheit Gottes repräsentierende Anspruch des Glaubens wird höflich oder aggressiv abgewiesen. Glaube und Kult sind nur von affektiven und hypothetischen, nicht von kognitiven und affirmativem Gebrauch. In der Konkurrenz der Religionen und Weltanschauungen sei jeder exklusive Wahrheitsanspruch nur Sprengstoff, der den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht. Der Staat müsse die Toleranz garantieren durch die Etablierung des Relativismus in der Wahrheitsfrage. In die Epoche des Pluralismus sei orthodoxer und dogmatischer Glaube überholt und schädlich, weil sich dahinter eine gefährlicher Fundamentalismus -mit und ohne physische Gewaltbereitschaft und Manipulation der Gewissen- verberge. Nur als liberales Kulturchristentum habe das Christentum eine Überlebenschance.
In seiner berühmten Biglietto-Rede anlässlich seiner Kardinals-Erhebung (1879) hatte der sel. John Henry Newman den unüberbrückbaren Gegensatz von liberalem und dogmatischer Auslegung der Offenbarung so auf den Begriff gebracht: "Liberalismus in der Religion ist die Lehr, dass es in der Religion keine positive Wahrheit gibt, sondern dass ein Bekenntnis so gut ist wie das andere,... Sie ist unvereinbar mit irgendeiner Anerkennung irgendeiner Religion als wahr. Sie lehrt, alles müsse toleriert werden, denn alles sei schließlich eine Sache der persönlichen Ansicht. Geoffenbarte Religion sei keine Wahrheit, sondern eine Sache des Gefühls und des Geschmacks, sie ist kein objektives Faktum, gehört nicht in den Bereich des Wunderbaren. Jeder einzelne hat darüber hinaus ein Recht, ihr die Aussagen zuzuschreiben, die ihm gerade gefallen. Frömmigkeit gründet nicht notwendigerweise auf Glauben."
"Dogmatisches Denken" hat mit einem apodiktischen Behaupten und der Verabsolutierung einer Privatmeinung nichts zu tun, sondern ist nichts anders als die Anerkennung der Autorität des sich offenbarenden Gottes, dem sich die menschliche Vernunft öffnet und die sie bejaht,, insofern die Offenbarung im Medium der kirchlichen Verkündigung den einzelnen Menschen in seiner wahrheitssuche erreicht.
In der Hermeneutik eines naturalistischen Denkens erscheint scheint der Glaube an einen personalen und drei-einigen Gott zu anhtropomorph. Unmöglich könne die Menschwerdung Gottes und die Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria geschichtlich real wahr sein. Der stellvertretende Sühnetod Jesu gilt als eine zeitgedingte Interpretation des Märtyrertodes Jesu, weil er mit dem Bild vom guten Gott, der kein blutiges Opfer brauche, unvereinbar sei. Die leibliche Auferstehung Christi gilt nur als Ausdruck der Hoffnung, dass die Sache Jesu weitergehe wie auch unsere leibliche Auferstehung nur eine Metapher für die Hoffnung über den Tod hinaus sei. Die reale Gnadenvermittlung in den Sakramenten oder die Realpräsenz Christi in den eucharistischen Gestalten erscheint als Relikt aus den Zeiten des durch die Neue Naturwissenschaft überholten aristotelischen Substanzbegriffs.
Affirmative Aussagen werden günstigenfalls durch hypothetische Gewissheiten in Glaubensfragen abgelöst. Die Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe gilt allenfalls als Ideal, das aber "gesetzlich-pharisäisch angewendet nur Leid über die fragilen Menschen brachte, für das sich die Kirche entschuldigen müsse. Die Ordensgelübde und der Priesterzölibat widersprächen der Natur, die auf die geordnete Erfüllung, nicht die Unterdrückung des gebieterisch-erotischen Verlangens ziele. Der Mensch habe ein Recht auf Glück, das sich im Diesseits erfülle und nicht um eines imaginären Jenseits in eine ungewisse Zukunft verschoben werden dürfte. Diese Derivate des aufklärerischen Naturalismus und seine Konsequenzen für die Anthropologie sind- wie unschwer zu erkennen ist- auch die Agenda des progressiven Katholizismus. Es komme nicht auf die Lehre an, die ohnehin spalte, sondern auf die neue Praxis, die die Welt verändere, statt sie nur schönfärberisch umzuinterpretieren.
Es wäre allerdings ein Ausweis der Geschichtsvergessenheit, wenn man die Glaubensschwierigkeiten gegenüber den Mysterien des Christentums nur auf die Spannungen ihrer theologischen Reflexion mit dem Weltbild der neuern Naturwissenschaften zurückführen wollte. Der Widerstand gegen das Paradox der Menschwerdung Gottes, der Selbstverdemütigung der reinen göttlichen Idee jenseits dieser schmutzigen und blutbefleckten irdischen Welt kommt auch aus der antiken Philosophie, die im Platonismus und Aristotelismus für die Theologie der Kirchenväter und der Scholastiker so bedeutend werden sollte. Der ausgezeichnete christliche Gelehrte im 3. Jahrhundert, der gebürtige Alexandiner Origenes (um 185-254) sah sich veranlasst, der Fundamentalkritik des heidnischen Philosophen Kelsos in seiner Schrift "Wahre Lehre" (178 n. Chr.) an der Logik des Christentums mit einer umfangreichen Widerlegung "Contra Celsum" (248 n.Chr) entgegenzutreten. Dass der wahre Grund der Ablehnung des christlichen Glaubens nicht in seinen peripheren Zusammenhängen oder an der Schnittstelle von übernatürlichem Glauben an Gott und natürlichem Wissen von der Welt liegt, sondern auf seinen Kern zielt, zeigt Augustinus in seiner Auseinandersetzung mit dem von im hochgeschätzten und bedeutenden Neuplatonikers Porphyrius (um 233-305 n. Chr.).
Die Geister scheiden sich nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum: dies ist die Mitte, in der alle Wahrheiten des Glaubens zusammenkommen und von der sie gehalten werden: die Inkarnation des göttlichen Logos. "Dass aber die Vernunft (der nous des Vaters) Christus sei, glaubst du nicht; du verachtest ihn wegen des Leibes, den er von der Frau angenommen hat, und wegen der Schmach des Kreuzes, und hältst dich für den rechten Mann, erhabene Weisheit von höheren Regionen zu holen und so das ganz Niedrige zu verachten und abzuweisen."
Voltaires (1696-1778) Leugnung der Gottheit Christi und damit der Inkarnation, die seine Versöhnung mit der Kirche unmöglich machte, ist exakt die Trennungslinie zwischen dem orthodoxen christlichen Glauben und dem Kulturchristentum. Dass diese Abart der natürlichen Religion des Deismus zur gesellschaftlichen Konvention herabgesunken war, zeigte sich in der eindringlichen Bitte Jean Le Rond d'Alemberts (1717-1783) und der Enzyklopädisten um eine Messe zur Erlösung Voltaires aus dem Fegfeuer, die schließlich auf Befehl König Friedrichs II. zur Selbstbelustigung in der Kathedrale von Berlin zelebriert wurde.
Die hl. Messe ist die sakramentale Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Christi zur Vergebung der Sünden der Lebenden und Verstorbenen, an der nur der Gläubige teilnehmen kann. Im anderen als im katholischen Sinn zelebriert wird sie zu einem austauschbaren Verabschiedungssritual, das im Falle Voltaires apotheotisch mit selbstgefälligen Pomp in seiner Freimaurerloge Les Neuf Souers und dann bei seinem trimumphalen Einzug am 11. Juli 1791 ins Pantheon von Paris vollzogen wurde. Aber wie viele dieser von Menschenlob trunkenen Teilnehmer mögen auch dabei gewesen sein ein Jahr später bei dem Septembermassakern, als 1200 inhaftierte "Feinde" der Französischen Revolution barbarisch massakriert wurden und als willige Vollstrecker von Voltaires Mantra Ecrasez l'infame ihren aufgeklärten Fanatismus an den "machtbesessenen und abergläubischen Priestern" austobten, wenn man nicht schon anderweitig mit der höchst toleranten Parole "die Pfaffen an die Laterne" Ernst machte ?
Schon bei der ersten Umsetzung in die Praxis haben die Ideale der deistischen und atheistischen Aufklärung ihre Unschuld verloren.
Und angesichts der Kirchenverfolgungen und des ersten, vom Wohlfahrtsauschuss 1793 einstimmig beschlossenen ersten Völkermord der Weltgeschichte Genozids im Namen des Kampfes von Vernunft und Freiheit gegen den Fanatismus und die Rückständigkeit der Religion in den politischen Atheismen des 19. und 20. Jahrhunderts kann nicht davon die Rede sein, dass es nur ein Betriebsunfall sei, den man beim nächsten Mal unbedingt vermeiden wird. Für die "Modernisierung der Sowjetunion" und der "Große Sprung nach vorne" in Rotchina wurden über 60 Millionen von den atheistischen Machthabern den Götzen des Fortschritts geopfert. Der Geburtsfehler liegt doch darin, dass man Vernunft, Aufklärung, Toleranz, Meinungsfreiheit egoman nur für selbst reklamiert, während eine andere, vor allem christliche Sicht im Lichte des sich offenbarenden Gottes für objektiv widerlegt hält und der subjektiven Gewissensüberzeugung gläubiger Menschen jede Wahrhaftigkeit abspricht. Daraus leiteten alle Liberalen in den Kulturkämpfen und Sozialisten in den kommunistischen Staaten die Berechtigung ab, diese Menschen wenn nicht physisch so doch psychisch und moralisch vernichten zu dürfen oder ihnen großzügig ein zum Aussterben verdammtes Nischendasein im Privaten zuzugestehen.
Dies war die Politik der "Dechristianisation" Frankreichs seitens der Jakobiner, die alle Kirchen in Paris und im Lande entweihte und zu Tempeln der "Göttin Vernunft" umwidmeten, die Robbespierre per Gesetz vom 7. Mai 1794 dann in Tempel des "höchsten Wesens" umwidmen ließe, mit dem irgendwie der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele" verbunden war. Dieses Programm der Entchristlichung Europas mit Tilgung aller Erinnerung seiner christlichen Identität ist bis heute in laizistischen Ländern maßgebend bis in den gescheiterten Gottesbezug und die Berufung auf die christlichen Wurzeln eines mehrheitlich christlichen Kontinents bis hin zum "Vertrag über eine Verfassung für Europa (2004).
Der Weg einer pluralistischen Gesellschaft kann nur in der Gemeinsamkeit aller Menschen guten Willens gelingen, die vorder letzten Wahrheitseinstellung des Gewissens des anderen, dem Gemeinwohl dienen. Die Kirche beansprucht ihrer Sendung vom Herrn gemäß nichts anders als in ihren Mitgliedern den gebührenden Beitrag zu erbringen und aus ihrer Natur heraus die Transzendenz des intellektuellen und moralischen Dynamik des Menschen auf die Transzendenz der Wahrheit und des Guten offenzuhalten auf die Begegnung mit dem lebendigen Gott.
In der Gesellschaft vertritt sie keine partikularen Eigeninteressen, aus dass die Versöhnung und Überwindung der Gegensätze auf soziale Gerechtigkeit und den Frieden hin und die Achtung der Menschenwürde, auch der Schwächsten, und die Achtung der Person-Würde ihr universales Interesse ist.
Emmanuel Macron, der Präsident eines betont laizistischen Staates, sagte in einer wegweisenden Rede im Collège de Bernhardins in Paris am 28. April 2018: " Die Dringlichkeit unserer gegenwärtigen Politik besteht darin, ihre Verantwortung in der Frage nach dem Menschen, oder um es mit Mounier zu sagen, nach der Person wiederfinden. ...Es ist jedoch nicht möglich auf diesem Weg voranzukommen, ohne den Weg des Katholizismus zu gehen, der diese Frage seit Jahrhunderten aufgreift... 'Ehrwürdig, weil sie den Menschen gut kannte, sagt Pascal über die christliche Religion. Sicherlich haben auch andere Religionen, andere Philosophien das Geheimnis des Menschen erforscht, aber Säkularisierung kann die lange christliche Tradition nicht beseitigen."
1.3 Uminterpretation des Christentums?
Von ganz anderer Art als die Militanz des nihilistischen Atheismus oder der Indifferentismus des säkularisierten Christentums sind die intellektuellen und existentiellen Schwierigkeiten, die viele Menschen von heute mit dem Glauben an Gott im Sinn der christlichen Tradition empfinden. Sie fragen besorgt, ob das wissenschaftliche Weltbild (Astrophysik, Evolutionsbiologie) unser historisches Bewusstsein, das den engen biblischen Zeitrahmen weit überschreitet, und der Determinismus, mit dem die Neurophysiologie die Freiheit in unseren Willensentscheidungen zu widerlegen scheint, mit dem Glauben an Gott den Schöpfer, den Lenker der Geschichte und den Richter über unser Taten und Unterlassungen am Ende der Zeiten vereinbar ist.
Die Herausforderung des modernen Weltbildes, die im Denken des Glaubens angenommen werden muss, besteht nicht lediglich in der quantitativen Steigerung unsers Wissens über die Natur und der enormen Steigerung unserer technischen Möglichkeiten, sondern in dem qualitativen Unterschied zu dem vorwissenschaftlichen Weltbild, in dem viele Glaubensaussagen vorstellungsmäßig und begrifflich dargestellt sind. Weder mit der klassischen noch in der modernen Physik kann man den Atheismus beweisen noch den philosophischen und theologischen Glauben an Gott als Ursprung und Ziel aller Wirklichkeit besonders des Menschen widerlegen. Der "Urknall", mit dem die Expansion des Universums begann spricht weder für noch gegen die Schöpfung der Welt aus nichts, weil die Schöpfung nicht auf diesem oder jenem kosmologischen Modelle beruht, das einer "Erklärung" bedarf, sondern auf dem souveränen Willen Gottes, vom ihm endlich Seiendes hervorzubringen. Gott wird vom Standpunkt eines endlichen Geistes her nicht durch die Struktur und Wirkweise der materiellen Welt, sondern das Sein des Seienden als existent erkannt, das in reiner Aktualität nur in dem existiert, das er selbst unendlich besitzt. Und Gott kann sich unabhängig von unsern Beobachtungen und Theorien über die Entstehung des Kosmos und des Lebens, die wir zu Weltbildern formen, jedem Menschen- gleich welchen Bildungsstandes, jederzeit undüberall durch das Wort seiner Selbstoffenbarung als Wahrheit und Leben mitteilen. Denn jeder Mensch ist kraft seines personalen Geistes capax infiniti, weil er eine potentia oboedientialis für ein möglich in der Geschichte an ihn ergehendes Wort Gottes besitzt und ist. Seine geistig-sittliche Natur vollzieht sich in einer dynamischen Suche nach der Wahrheit in den Dingen und Erscheinungen un nach ihrem Seins- und Erkenntnisprinzip.
Im innersten ist die geistig-sittliche Natur des Menschen ein Verlangen, Gott als Quelle der Wahrheit zu sehen: desiderium ad videndum Deum.
Somit ist auch klar, dass die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie oder die Quantentheorie Erkenntnisse sind, die über die klassische Physik hinausführen, ohne sie total zu falsifizieren, aber nicht die geistig-sittliche Anlage des Menschen auf die Transzendenz Gottes ändern. Ein philosophischer Relativismus und Skeptizismus kann sich für die Leugnung der Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft im Felde der Metaphysik und der Offenbarungstheologie nicht auf die Relativistätstheorie in der Astrophysik
Für alle Phänomene werden seit der Entstehung der Neuen Wissenschaftsbegriffs (Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton) natürliche Ursachen gesucht gemäß dem physikalischen Zusammenhang vor Ursache und Wirkung, ohne dass sich zwangsläufig ein Atheismus als überwölbende Weltanschauung herausbildet. Denn alle Begründer des modernen Weltbildes waren persönlich gläubige Christen geblieben. Es fehlte aber an einer überzeugenden theologischen Synthese des geoffenbarten Glaubensinhaltes mit dem neuen Weltbild. Es genügt nicht, nur die Nicht-Widersprüchlichkeit zu beweisen, sondern auch bei Wahrung der Methodendifferenz, die Möglichketen der besseren Natur- und Geschichtserkenntnis für das Verständnis des geoffenbarten Glaubens positiv zu nutzen. Diese Standardbeurteilung der neueren Theologiegeschichte bedarf freilich der Korrektur, wenn man allein die Überlegungen der "Katholischen Tübinger Schule" um die Geschichte und Geschichtlichkeit der Offenbarung und ihre historische Existenzform in der Kirche in den Blick nimmt. Dazu kommt auch die kritische Rezeption der Abstammungslehre, die als solche den Bezug auf Gott als Ursprung und Ziel menschlicher geistiger Existenz nicht ausschließt, sondern nur ihre Vereinnahmung von Seiten des atheistischen Monismus oder gar der menschenverachtenden Rasse-Ideologie des Sozialdarwinismus ausschließt.
Ein Beispiel für eine "entmythologisierte" Neuinterpreation- freilich unter Ausschluss des Heilsrealismus bietet die existentiale Interpretation des Evangeliums der bedeutende evangelische Theologe Rudolf Bultmann (1884-1976) Er hält es für den modernen Menschen unzumutbar, noch an das wunderbare Eingreifen übernatürlicher Mächte Gottes, der Engel und der Dämonen in die materielle Welt und den Geschichtslauf glauben zu sollen.
Denn alles spielt nach rational erklärbaren Ursachen der unveränderlichen Naturgesetze ab. Der Mensch müsste ein gespaltenes Bewusstsein haben, wenn er gleichzeitig mit modernsten technischen Geräten umgeht und doch an das wunderbare direkte Eingreifen Gottes, an Erscheinungen von Engeln und verstorbenen Propheten oder an die Auferweckung von Toten glauben sollte. Wenn man das Christentum allerdings mit seiner Inkulturation in einer bäuerlich- vortechnologische Welt identifiziert, müssen seine Dogmen und Sakramente und sein volkstümliche Brauchtum einem digital-vernetzen Zeitgenossen allenfalls wie eine wehmütige Erinnerung an eine untergegangene Welt vorkommen. Selbst wenn wir einige Wirkzusammenhänge noch nicht kennen oder im atomaren Bereich eine Unschärferelation zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung feststellen müssen, gehen wir nicht im Ernst von einem Eingreifen übernatürlicher Mächte in den innerweltlichen Kausalnexus aus. Der Ausweg ist eine nicht heilsrealistische, sondern eine existentiale Interpretation. Im Glauben aber nehme ich nicht ein altes oder neue Weltbild an, sondern "im Glauben versteht der Mensch sich selber immer neu. Dieses neue Selbstverständnis kann nur erhalten bleiben als fortwährende Antwort auf das Wort Gottes, das sein Handeln in Christus Jesus verkündet." Jenseits von einem mythologisch verstandenen Eingreifen Gottes in die Welt, bedeutet das Handeln Gottes eine neues Existenzverständnis des Menschen.
Der Entmythologisierung entspricht eine existentiale Interpretation und Annahme der Botschaft Jesu im Glauben allein ohne -wie der von der protestantischen Rechtfertigungslehre her bestimmte Theologe sagt- die Absicherung in den guten Werken des Menschen bzw. in historisch bewiesenen Fakten. Bultmann ging damit über die bisherigen Vermittlungsversuche von christlichem Glauben und modernen Weltbild hinaus, die die Bibel als eine pädagogische Beispielsammlung ausgaben und Jesus auf einen Moral-Lehrer oder Sozial-Reformer reduzierten. Das liberale Christentum wurde zu einem Ferment der Entwicklung der modernen Kultur mit ihren Werten des bürgerlichen Persönlichkeitskultes, des linearen Fortschrittglaubens und dem Freiheitspathos.
Zu Recht wird die Aufgabe einer Unterscheidung des wesentlichen Inhalts des geoffenbarten Glaubens vom historisch überholten naturwissenschaftlichen Weltbild der Antike und des Mittelalters bis Begründung des neuen Wissenschaftsbegriffs im 16. und 17. Jahrhundert in Angriff genommen. Die Grenze aber der Versuche im Kulturprotestantismus und im katholischen Modernismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts liegt in der fehlenden Reflexion auf den Begriff der Wirklichkeit, die vorschnell und unkritisch auf die Kriterien der empirischen, historischen und naturwissenschaftlichen Wissenschaften eingeschränkt wird.
Und es wird nicht bedacht, dass die Daten der sinnenhaften Empirie nie so evident sein können wie die metaphysischen Prinzipien des Seins und des Denkens überhaupt. Es kann etwas real sein, ohne empirisch verifiziert zu sein oder existentialistisch ausgedünnt werden zu können. Gott ist nicht Teil der Welt und auch nicht ein mit ihr verspanntes Korrelat , so dass er als Arbeitshypothese für ungelöste Fragen der empirischen Wissenschaften dienen könnte. Der Urheber der Natur braucht nicht endliche Ursachen, um sich dem Menschen als Wahrheit und Leben mitzuteilen, noch kann er durch den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang im physischen Kausalgesetz daran gehindert werden, sich in seinem Wort dem menschlichen Geist mitzuteilen. Gott hat nicht unser Weltbild geschaffen und sich darin als Demiurg einen Platz gesichert.
Die Welt mit ihren immanenten Seins- und Wirkprinzipien ist geworden, "und nichts (nihil), was geworden ist, ward ohne das Wort: das Leben und das Licht der Menschen, das in der Finsternis leuchtet." (Joh 1,3f).
Durch die besseren Erkenntnisse in der Astrophysik und Mikrobiologie entfernen wir uns nicht von der Erkenntnis der souveränen Hervorbringung der Welt aus Nichts durch Gott, sondern kommen der Wahrheit näher. Somit gelangen wir auch zum besseren Verständnis des Schöpfungsaktes, wodurch Gott eine universale und individuelle Relation zu allem von ihm aus dem Nichts hervorgebrachten Seienden setzt. Denn unser auf die Sinnenerkenntnis gestützte Kenntnis der materiellen Welt ist fehlbar und immer optimierbar. Aber dadurch stiften wir nicht die Wahrheit der Dinge, die durch der schöpferische Erkenntnis Gottes existieren, sondern wir partizipieren an der Wahrheit der Dinge, die Gott ihnen mitgeteilt hat. Wenn auch das "Buch der Natur mit mathematischen Lettern geschrieben ist" (Galilei), so ist doch auch die arithmetische Logik ein Verweis auf die Geschaffenheit der Welt im göttlichen Logos und ihre Lesbarkeit durch den erkennenden Geistes auf den göttlichen Logos und die grundsätzliche Möglichkeit, von im angesprochen zu werden. "Die natürlichen Dinge stehen in der Mitte zwischen Gottes und unserem Wissen. Wir gewinnen nämlich unser Wissen aus den natürlichen Dingen, deren Ursache Gott durch Sein Wissen ist. Wie daher der natürliche Erkenntnisgegenstand früher als unsere Erkenntnis und ihr Maß ist, so ist Gottes Wissen früher als die natürlichen Dinge und ist so ihr Maß. So wie ein Haus Mittelglied ist zwischen dem Wissen des Baumeisters, der es gebaut hat, und dem Wissen dessen, der seine Erkenntnis vom fertigen Haus gewinnt."
Überhaupt muss bezüglich der Erkenntnis von materiellen Dingen in den Naturwissenschaften mit ihrer Mathematischen Beschreibung und der Erkenntnis von immateriellen Wirklichkeiten der Zusammenhang von sinnenhafter und geistiger Erkenntnis grundlegender beurteilt werden. Denn alle Erkenntnis beginnt bei den Sinnen, aber die erkannte Wahrheit wird nicht sinnlich erkannt, wie der Positivismus meinte, sondern durch das Urteil des Verstandes. Auch die Erkenntnisse etwa bim Hinblick auf die Entstehung dieses Kosmos vor 13,7 Milliarden Jahren und die Entstehung und Entwicklung der Hominiden zum homo sapiens werden nicht durch unmittelbare Anschauung erkannt, sondern durch Theorien rekonstruiert und durch Modelle veranschaulicht, die wir uns zurechtlegen und die prinzipiell falsifizierbar oder verifizierbar sind.
Die Wahrheit ist immer in den Sinnen und im Intellekt, aber auf verschiedene Weise. In der Vernunft ist sie als Frucht des Erkenntnisaktes und zugleich erkannt durch die Vernunft. "Erkannt aber wird sie von der Vernunft, indem die Vernunft sich zurückbeugt auf ihr eigenes Wirken, erkennend nicht nur ihren eigenen Akt, sondern auch dessen Bezug zur Wirklichkeit... In den Sinnen aber ist die Wahrheit nur als Frucht ihres Aktes.. nicht aber als etwas von den Sinnen Erkanntes. Wenn nämlich die Sinne wahr urteilen über die Dinge, so erkennen sie doch nicht die Wahrheit, kraft derer sie wahr urteilen."
Auf jeden Fall aber besteht eine in den Wissenschaften, der Kultur und im Alltagsleben verbreitete Mentalität, die zwischen einem reduktionistischen Naturalismus und einem verdinglichten Supranaturalismus, der sein Spielfeld in Esoterik und Spiritismus findet, schwankt.
Es gilt aber die Beziehung von Natur und Gnade, von Vernunft und Glaube in der Analogie des Seins mit einem differenzierten Begriff der "Wirklichkeit" zu denken, der die Wahrheit der Offenbarung und die geschichtliche Realität des Handelns Gott in der Welt zu unserm Heil zur Sprache bringt, ohne sie zu verdinglichen oder zu verflüchtigen.
Die Gotteserkenntnis durch den geoffenbarten Glauben geht über die natürliche Erkenntnis der Sinne und der Vernunft (lumen intellectus naturale) wesentlich hinaus. Die Einsichten dieses Glaubens können darum weder sinnlich noch rational bewiesen werden wie bei geschaffenen Dingen, aber auch auf diese Weise nicht widerlegt werden. Man muss sich auch hüten, mit natur- oder geisteswissenschaftlichen Methoden den Glauben beweisen zu wollen, weil dies den Glauben auf die Fassungskraft der menschlichen Vernunft reduzieren würde und ihn seines Charakter als göttliche Tugend aufgrund des vom Heiligen Geist eingegossenen Lichts (lumen fidei) der Erkenntnis Gottes berauben würde.
"Glaube aber ist: Grundlage dessen, was man erhofft, ein Zutagetreten von Tatsachen, die man nicht sieht." (Hebr 11,1). Man muss sich davor hüten, diesen übernatürlichen Glauben mit Wahrheiten, die durch den natürlichen Intellekt erkannt werden, zu bewiesen, weil 1. diese Gründe dem Glauben nicht adäquat sind, und 2. weil sie den Ungläubigen Anlass geben über den Glauben zu spotten, dessen wahre Gründe und Inhalte sie nicht kennen.
Das ist von theologischer Seite zu sagen zu den gut gemeinten, aber kontraproduktiven Versuchen, die Schöpfung durch ein kosmologisch-wissenschaftliches Verständnis der biblischen Schöpfungserzählungen im Buch Genesis oder durch Leugnung der offenkundigen Tatsache der Evolution des Lebendigen zu "beweisen" (intelligent design). Denn man beweist damit nur ein falsches Verständnis von Schöpfung als Tat eines Demiurgen und verkennt überdies das literarische Genus der beiden biblischen Schöpfungsberichte. Die Aussage des Glaubens beinhaltet die Wahrheit, dass Gott durch sein Wort alles, was ist, sich bewegt und entwickelt, mitsamt seiner immanenten Organisationsprinzipien ins Dasein gerufen hat.
Das Ziel seines Schöpfungswillens ist die Ausrichtung des Wahrheitsstrebens und des Tuns des Guten auf Gott selbst als Urheber und Inbegriff des Wahren und des Guten. Allerdings gibt es nicht zwei Wahrheiten, weil die Wahrheit aufgrund ihrer absoluten Verwirklichung in dem einen Gott ontologisch und logisch unteilbar ist. Die Offenbarungswahrheit kann nicht mit dem natürlichen Licht des Verstandes bewiesen oder widerlegt werden, aber sie widerspricht ihr auch nicht, wenn die natur- und geisteswissenchaftlichen Erkenntnisse ideologiefrei präsentiert werden. Der Grund für die Nicht-Beweisbarkeit der Glaubensartikel durch die natürliche Vernunft liegt nicht in einem Mangel der menschlichen Erkenntniskraft, sondern in der Natur des Glaubens selbst. Dadurch gibt Gott uns die Freiheit, seiner Selbstoffenbarung zuzustimmen in Freiheit. Ohne den freien Willen könnte der Glaube sein Ziel nicht erreichen. die Einheit mit Gott in der Liebe. Denn Erkennen ist Angleichung an das Erkannte und Liebe die Vereinigung mit dem Geleibten. Das ist der letze Grund für die innere und äußere Unerzwingbarkeit des Glaubens, weil Zwang und Liebe sich abstoßen. Zwar gelangen wir im Glauben zur Gewissheit, die Wahrheit von Gott empfangen zu haben, der nicht täuscht noch täuschen will. "Doch bewegt dieser Glaube nicht auf dem Wege der Erkenntniskraft, sondern eher auf dem Wege des Willens; weswegen er nicht macht, dass wir sehen, was wir glauben, noch erzwingt er Zustimmung; sondern er macht, dass wir freien Willens zustimmen."
Unter der Voraussetzung, dass viele Gläubige, Halbgläubige und die "intellektuellen unter seinen Verächtern", die vom historischen Christentum im "Westen" herkommen, die eigentliche Natur des Glaubensaktes nicht kennen und mit vollziehen und somit das Christentum sowohl in seiner Annahme als auch in seiner Ablehnung "verweltlichen", trifft das Stimmungsbild durchaus zu, das Stefan Högel bietet:
"In der modernen pluralistischen Gesellschaft, in der jeder frei ist über seine religiöse Orientierung selbst zu bestimmen oder es auch sein zu lassen, hat sich ein Jahrmarkt der Religionen gebildet, in dem jeder nach Belieben aussuchen kann, was ihm gefällt. Der aufgeklärte Mensch bestimmt selbst, woran er glauben möchte, und genau dabei gerät die christliche Religion ins Hintertreffen, und die katholische Kirche erst recht. Der Grund ist ebenso einfach wie fatal: Mit dem christlichen bzw. katholischen Glauben werden kaum noch religiöse oder andre existentiell wichtige Positionen verbunden, die dem Menschen die ganze Wirklichkeit vermittel und so für Interesse sorgen könnten. Im Gegenteil: Das Christentum gilt weithin als unaufgeklärtes Relikt, das sich heute unzeitgemäßen Dogmen, überkommener Sexualmoral und zahlreichen Skandalen erschöpft. Die Kirche erscheint vielen als bürokratischer Apparat, der sich in die Lebensführung des Einzelnen einmischt und ihn bevormundet, ihm aber längst kein spirituellen Einsichten und Hoffnungen mehr vermitteln kann. Dass die sozialen und humanitären Aufgaben der Kirche auch heute noch mehrheitlich geschätzt werden, ist da ein schwacher Trost."
Diese treffende Beobachtung der reservierten bis ratlosen Stellung vieler "moderner" Christen zur eigenen Kirche, bedarf allerdings einer Ergänzung und Korrektur. Denn es kann ja nicht die von kirchlichen und staatlichen Autoritäten verordnete Fremdbestimmung des Glaubens sein oder sein soziologisch-kulturell vorgegebene Selbstverständlichkeit, die die Gläubigen im Bekenntnis des Glaubens an den drei-einen Gott vereint. Nur unter Berücksichtigung der Religionsfreiheit als natürlichem Grundrecht kann der Glaube als freier Akt der Zustimmung in Gnade zum geoffenbarten Wort Gottes und folglich die Eingliederung des Glaubenden in den Leib Christi mittels der Taufe ein personaler Akt sein -im Unterschied zu einer konventionellen Zughörigkeit zu einer Tradition und einem soziologisch greifbaren Verband.
Schon der bedeutende Kirchenschriftsteller Tertullian sagt zu Beginn des 3. Jahrhunderts: "Christus nannte sich die Wahrheit, nicht die Gewohnheit."
Die religiöse Sozialisation kann, wen sie gelingt, eine wertvolle Hilfe sein. Sie ersetzt aber nicht den freien und personalen Akt des Glaubens. Und wie viele Millionen Christen lebten außerhalb des "christlichen Europa" in der Diaspora in einer nicht-christlichen oder feindlichen Kultur. Erbe einer verblassenden christentümlichen Zivilisation zu sein, wird zur untragbaren Last, wenn sie sich nur auf Werte bezieht, die aufgrund des persönlichen Unglaubens ihren Grund und ihre Mitte in der Person Christi verloren haben.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Ludwig Kardinal Müller.
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