20. August 2019 in Weltkirche
Haft, Freispruch oder neuer Prozess? Es gibt Gründe gegen einen "zweifelfreien" Schuldspruch
Melbourne (kath.net/KAP) Im australischen Melbourne wird am Mittwoch die Entscheidung im Berufungsverfahren zum Fall von Kardinal George Pell (Archivfoto) bekannt gegeben. Der 78-jährige Kardinal war im Dezember von einer Geschworenen-Jury für schuldig befunden worden, 1996 als Erzbischof von Melbourne in der Kathedrale einen 13 Jahre alten Buben missbraucht und einen anderen belästigt zu haben. Im März wurde der ehemalige Leiter des vatikanischen Wirtschaftssekretariates deshalb zu sechs Jahren Haft verurteilt. Pell, der sich seither im Gefängnis befindet, bestreitet nach wie vor alle Vorwürfe.
Im nach dem Ersturteil vom Kardinal angestrengten Berufungsverfahren fand bereits Anfang Juni eine zweitägige Anhörung am Supreme Court des Bundesstaats Victoria statt. Die Urteilsverkündung am Mittwoch wird das Gericht live über seine Website übertragen. Der dreiköpfige Richtersenat kann Pells Berufung zurückweisen, einen neuen Prozess anordnen oder den Kardinal freisprechen. Dabei reicht eine Mehrheit von zwei der drei Richtern aus. So oder so dürfte der Fall vor dem australischen Höchstgericht landen. Bei einer Bestätigung des Schuldspruchs droht dem Kardinal auch die Entlassung aus dem Klerikerstand.
Während der Anhörung im Juni trug Pells Anwalt Bret Walker dem Gericht drei Gründe für die Berufung vor. Zentraler Punkt ist der Vorwurf, dass der Schuldspruch der Jury lediglich auf der Aussage des einzigen noch lebenden Klägers basiere. Dem stünden von 20 Zeugen vorgebrachte "unangefochtene entlastende Beweise" entgegen, so die Anwälte Pells. So sei es etwa Pells Praxis gewesen, Gemeindemitglieder direkt nach der Messe zu begrüßen und nicht in die Sakristei zurückzukehren, in der die Missbrauchstaten geschehen sein sollen.
Gründe gegen "zweifelsfreien" Schuldspruch
Die Aussagen des Klägers reichten daher nicht für einen "zweifelsfreien" Schuldspruch aus, das Urteil sei aus diesem Grund "unangemessen", so die Verteidigung. Demgegenüber argumentierte die Staatsanwaltschaft, die Beweise des mutmaßlichen Opfers seien so weitgehend, dass die Jury zweifelsfrei von Pells Schuld überzeugt gewesen sei.
Im zweiten Punkt werfen die Anwälte des Kardinals dem Vorsitzenden Richter Peter Kidd vor, mit der Nichtzulassung eines Videos als Teil des Schlussplädoyers der Verteidigung einen Verfahrensfehler begangen zu haben. Mit dem Video wollte die Verteidigung beweisen, dass der dem Geistlichen vorgeworfenen Missbrauch der Buben im vollen erzbischöflichen Ornat praktisch unmöglich gewesen sei. Auch dass die in dem Fall zugeteilten Ersatzmitglieder der Geschworenen-Jury die Anklage Pells nicht live im Gerichtssaal, sondern via Video in einem Nebenraum verfolgten, ist aus Sicht der Anwälte ein Verfahrensfehler.
Drittens habe Richter Kidd einen sogenannten "fundamentalen Formfehler" begangen: Kardinal Pell sei nicht in Anwesenheit der Geschworenen gefragt worden, ob er sich schuldig oder unschuldig bekenne. Nachdem eine erste Geschworenen-Jury nicht zu einer einstimmigen Entscheidung gelangt war, musste der Prozess neu aufgerollt und eine neue Jury berufen werden. Der neuen Jury ließ der Richter Pells Erklärung "Nicht schuldig" aus dem ersten Verfahren auf Video vorspielen.
Haft, Freispruch oder neuer Prozess
Gibt das Berufungsgericht dem ersten Grund statt - dass die Beweislast also nicht für eine zweifelsfreie Verurteilung Pells durch die Jury hätte reichen dürfen -, würde das Urteil gegen Pell aufgehoben und der Kardinal sofort aus dem Gefängnis entlassen. Juristen sehen hier die größten Chancen für einen Berufungserfolg Pells, es gebe aber auch eine hohe Schwelle, das Geschworenenurteil zu revidieren, wie der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer von Victoria, Matt Collins, erklärte: "Es geht nicht darum, dass das Berufungsgericht nur denkt, die Jury hätte eine andere Entscheidung treffen können, sondern die Berufungsrichter müssen davon überzeugt sein, dass die Jury einen begründeten Zweifel haben musste."
Sollte das Gericht den zweiten oder dritten Berufungsgrund akzeptieren, müsste ein neuerlicher Prozess angesetzt werden. Dazu müssten die Richter allerdings nicht nur zustimmen, dass es sich um Fehler im Ablauf des Verfahrens handelte, sondern dass diese Fehler so schwerwiegend waren, dass sie das Urteil der Geschworenen hätten beeinflussen können.
Sowohl die Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft können sich nach der Entscheidung der Berufungsrichter in einer weiteren Instanz an das australische Höchstgericht wenden. In Melbourne sind zudem Zivilklagen weiterer mutmaßlicher Missbrauchsopfer gegen Pell anhängig. In Zivilverfahren reicht schon eine "hinreichende Wahrscheinlichkeit" für ein Urteil aus.
Ranghöchster verurteilter Kleriker
Kardinal Pell ist als ehemaliger Finanzchef des Vatikan der weltweit ranghöchste katholische Kleriker, der von einem weltlichen Gericht wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde. Der Vatikan hatte kurz nach der Veröffentlichung des Schuldspruchs im Frühjahr erklärt, dass ein kirchenrechtliches Verfahren gegen Pell eingeleitet wird. Schon seit seiner Beurlaubung als Präfekt des vatikanischen Wirtschaftssekretariats im Juni 2017 ist dem Kardinal die öffentliche Ausübung seines priesterlichen Dienstes sowie jeglicher Kontakt mit Minderjährigen verboten. Vor weiteren Schritten will der Vatikan das Ergebnis des Berufungsprozesses abwarten. Als kirchliche Höchststrafe droht Pell die Entlassung aus dem Klerikerstand.
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