„Gender, eine neue Form des Kommunismus“

8. November 2019 in Interview


Früherer slowakischer Innenminister Vladimír Palko: „Kommunisten aus dem ehemaligen Sowjetblock haben keine Probleme, in den Strukturen der EU große Karrieren zu machen.“ Interview von Dominik Lusser/Stiftung Zukunft CH


Winterthur (kath.net/www.zukunft-ch.ch) Wie steht es 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer um die marxistische Revolution in Europa? Der ehemalige slowakische Innenminister Vladimír Palko (Foto) im Gespräch mit Dominik Lusser von „Zukunft CH“ über gescheiterte und aktuelle Formen des Kommunismus.

Zukunft CH: Herr Palko, ist der Kommunismus vor 30 Jahren in Europa tatsächlich von der Bildfläche verschwunden? Oder hat er nur sein Erscheinungsbild geändert?

Vladimír Palko: Es wäre wohl gut, vom Kommunismus in einem engeren und weiteren Sinn zu sprechen. Wenn wir in Zentraleuropa über den Kommunismus reden, dann meinen wir dessen sowjetischen Zweig, welcher der stärkste von allen Zweigen des Marx’schen Kommunismus war. Zum Glück ist dieser Zweig in der heutigen euroamerikanischen Gesellschaft vollständig tot. Wenige glauben, dass die Realisierung einer utopischen Gesellschaft zwingend an die Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft gebunden ist. Wenige glauben, dass das beste politische System die Regierung einer totalitären leninistischen Partei ist, der keine Opposition gegenübersteht. Dies waren die Basiselemente des sowjetkommunistischen Systems. Ihre Frage scheint aber auf das Paradox abzuzielen, dass der Sowjetkommunismus das Produkt westlichen philosophischen Denkens war, was sowohl wir in Zentraleuropa wie auch Sie in Westeuropa gerne vergessen. Und darauf, dass sich der westliche Kommunismus lange im Schatten des Sowjetkommunismus entfaltet hat, um sich dann, etwa ab den 1960er-Jahren, unabhängig von Moskau weiter zu entwickeln.

Dieses westliche kommunistische Denken ist ein anderer Zweig des Marx’schen Kommunismus in einem weiteren Sinn. Persönlich ziehe ich die Begriffe „Neomarximus“ und „anthropologische Revolution“ vor. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht bei der ökonomischen Transformation, sondern bei der kulturellen. Insbesondere geht es darum, das Denken der Leute über die menschliche Familie total zu verändern. In den Zeiten des Sowjetkommunismus haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Familien die kommunistische Propaganda konkurrenzierten. In den Familien wurden wir über den Irrtum des kommunistischen Systems unterrichtet, in den Familien wurden wir vor den Lügen der kommunistischen Propaganda gewarnt, der wir an den Schulen ausgesetzt waren. Und auch heute wehren sich Familien für die Seelen ihrer Kinder gegen den familienfeindlichen Neomarxismus, der Kultur und Schulen bestimmt. In diesem Sinne stimme ich dem zu, was Sie in Ihrer Frage andeuten. Wir ringen mit einer anderen Version desselben Phänomens, das sich seit der Zeit von Marx ausbreitet.

Zukunft CH: Gibt es diesbezüglich Unterschiede zwischen West- und Osteuropa?

Vladimír Palko: Zweifellos. Unterschiedliche Trends erhöhen gegenwärtig die Spannungen zwischen den Staaten mit einer kommunistischen Vergangenheit im Osten der EU und den „alten“ EU-Mitgliedstaaten. Die Grenze zwischen diesen ist bekanntlich als „Eiserner Vorhang“ bezeichnet worden.

Alle Länder westlich dieses früheren „Eisernen Vorhangs“ haben zumindest die eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Verbindungen eingeführt, beinahe überall gibt es sogar schon die gleichgeschlechtliche Ehe. Auf der östlichen Seite gib es keine gleichgeschlechtliche Ehe. Diese Länder haben vielmehr Verfassungsbestimmungen angenommen, welche die Ehe als Verbindung von Mann und Frau festschreiben. Eingetragene Partnerschaften gibt es selten. Die Ratifizierung der „Istanbul-Konvention“ ist in den westlichen Ländern unbestritten, während wir in den östlichen Ländern, z.B. in der Slowakei und in Bulgarien, Widerstände dagegen beobachten.

Der Philosoph Roger Scruton (ein europaweit bekannter konservativer Intellektueller, Anm. der Zukunft CH-Redaktion) wird in seiner Heimat Grossbritannien gedemütigt, während er in Polen im Juni 2019 von Präsident Andrzej Duda das staatliche Verdienstkreuz verliehen bekam. Während Prolife-Aktivistin Mary Wagner in Kanada erneut inhaftiert wurde, weil sie vor einer Abtreibungsklinik gebetet hatte, versammelten sich in Polen Leute vor der kanadischen Botschaft, um Wagner zu unterstützen.

Von westlicher Seite gibt es keine Proteste wegen kontroverser Urteile des EU-Gerichtshofs zugunsten der LGBT-Ideologie, allerdings von der Slowakei, Polen und Ungarn. Die EU bestraft Ungarn mit kritischen Resolutionen durch das EU-Parlament und Polen droht das gleiche Schicksal. Das ist völlig unfair gegenüber Polen und größtenteils unfair gegenüber Ungarn. Die Länder östlich des „Eisernen Vorhangs“ sind Erben tiefgreifender Erfahrungen mit einer utopischen Tyrannei, und heute haben sie eine zerbrechliche, aber sichtbare Opposition gegen die anthropologische (neomarxistische) Revolution aufgebaut.

Zukunft CH: Marx hat eine Zeit lang in Brüssel gelebt. Man könnte also sagen, der Kommunismus sei dort erfunden worden. Was ist heute typisch kommunistisch an der EU?

Vladimír Palko: Beispielsweise haben Kommunisten aus dem ehemaligen Sowjetblock keine Probleme, in den Strukturen der EU große Karrieren zu machen. Beinahe zwei Dutzend ehemalige Kommunisten sind Mitglieder der EU-Kommission geworden. Im Gegensatz dazu würde ein Politiker, der sich öffentlich zum christlichen Bild von Mensch und Gesellschaft bekennt, das Zulassungsverfahren im EU-Parlament nicht überstehen. Dies hat das Schicksal des designierten italienischen Kommissars Rocco Buttiglione schon vor 15 Jahren deutlich gemacht. In der heutigen EU können sich aufrichtige Christen in einer ähnlichen Situation wiederfinden wie damals unter dem Sowjetkommunismus. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass Christen in den angelsächsischen Ländern – den USA, Kanada und Großbritannien – noch stärker benachteiligt sind.

2018 hat sich der Geburtstag von Karl Marx zum 200. Mal gejährt. In Russland fand dieser Geburtstag keine Beachtung. Die chinesischen Kommunisten und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zollten Marx am meisten Tribut. Marx als kreativen Philosophen würdigend, machte Juncker die unglaubliche Aussage: „Marx ist nicht verantwortlich für die Verbrechen, für die seine angeblichen Erben verantwortlich sind.“ Das ist nicht wahr. Marx selbst hat oft die Notwendigkeit des revolutionären Terrors zur Errichtung einer neuen Welt erwähnt. Lenin, Stalin und Mao waren nicht „angebliche“ Erben von Marx, sondern seine aufmerksamen Schüler. Das aber wird von einem Teil der EU-Eliten geleugnet.

Zukunft CH: Woran zeigt sich die kommunistische Prägung westlicher Gesellschaften?

Vladimír Palko: In freien Gesellschaften teilten Männer und Frau ihre Aufgaben in der Familie frei und ohne staatliche Einmischung auf. Der Staat verhält sich neutral. In der sowjetischen Form des Kommunismus hingegen wurde gewünscht, dass die Frau vorrangig Arbeiterin sei, eine „Erbauerin des Sozialismus“. Die westlichen Gesellschaften haben vor Langem begonnen, diesen Ansatz des erloschenen Sowjetkommunismus auf die Beschäftigung von Frauen zu übertragen. Je höher der Beschäftigungsgrad, desto besser. Dass es um die Demografie des Westens nicht gut steht, kümmert niemanden.

Denken wir auch an das schmerzhafte Thema der Abtreibung, die im Sowjetblock vor langer Zeit eingeführt wurde. Westliche Gesellschaften begannen ab den 1970er-Jahren, die Sowjetkommunisten nachzuahmen. Sie engagieren sich mehr für die weltweite Ausbreitung der Abtreibungen als damals die Kommunisten des Sowjetblocks.

Oder schauen wir auf die Einführung der Gender-Ideologie. Sowohl der Europarat wie die EU machen Druck für die Istanbul-Konvention, die angeblich ein Instrument zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen sein soll. Wenn wir allerdings den Text lesen, sehen wir, dass darin die menschliche Geschichte als Kampf zwischen Mann und Frau beschrieben wird. Der Klassenkampf wird durch den Geschlechterkampf ersetzt. Die Lösung wird in der Beseitigung der traditionellen Rollen von Mann und Frau gesehen, die weltweit durch die Staaten organisiert werden soll. Das ist eine echte Utopie, eine neue Form von Kommunismus.

Zukunft CH: Worin sehen Sie den Kern des kommunistischen Menschenbildes? Und worin widerspricht dieses dem christlichen Menschenbild?

Vladimír Palko: Alle Zweige des Marxismus stimmen überein in ihrer Ablehnung der biblischen Sicht, wonach der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde, dass er gefallen ist, aber dank Jesus Christus das ewige Heil erreichen kann. In dieser Sichtweise ist Transzendenz wesentlich. Der Kommunismus hingegen lehnt Transzendenz ab. Er setzt darauf, das Heil in der Welt zu verwirklichen. Doch gibt es zwischen den einzelnen Zweigen Unterschiede. Der Sowjetkommunismus hob den Kollektivismus hervor und erwartete vom Individuum, sich willig für das Kollektiv aufzuopfern. Der neue Kommunismus, der Neomarximus, verlangt das nicht mehr. Dieser nimmt an, dass ein Mensch sein Glück findet, indem er seinen persönlichen Wünschen und Begierden folgt. Dabei gerät gerne aus dem Blick, wie zerstörerisch manche Begierden sind. Der Mensch wird als autonom verstanden in dem Sinne, dass er nicht an eine biblische Moral gebunden ist, aber auch nicht an biologische Gesetze oder an den gesunden Menschenverstand. Am Beispiel der Gender-Ideologie wird das sehr deutlich.

Zukunft CH: Was können westeuropäische Länder von den Erfahrungen der osteuropäischen Mitgliedländern der EU lernen?

Vladimír Palko: Noch Mitte der 1980er-Jahre hatte ich das Gefühl, dass der Kommunismus 1.000 Jahre dauern würde. Tatsächlich ist er dann innerhalb von vier Jahren zusammengebrochen. Wir können daraus lernen, dass kein System ewig dauert, das die Wahrheit und die menschliche Natur unterdrückt. In westlichen Gesellschaften sehen wir manche Anzeichen einer Krise, die derjenigen am Ende des Sowjetkommunismus ähnelt. Wir möchten diese Erfahrung mit den Menschen in westlichen Ländern teilen, insbesondere den Christen.

Zukunft CH: 2012 ist Ihr Buch „Die Löwen kommen – Warum Europa und Amerika auf eine neue Tyrannei zusteuern“ auf Slowakisch erschienen. 2014 folgte die deutsche Übersetzung. Wie schätzen Sie die dort geschilderte und prognostizierte Entwicklung seither ein?

Vladimír Palko: Das Buch war weniger eine Prognose als vielmehr die Beschreibung einer bereits existierenden Realität. Heute kann ich sagen, dass alle Hauptaussagen weiterhin zutreffen. Die Marginalisierung von Christen im Westen geht weiter, die globale Revolution gegen die Familie wird durch Gerichte und internationale Organisationen durchgesetzt. Der Prozess der Entchristlichung der christlichen Demokratien ist abgeschlossen. Doch gibt es auch neue Phänomene, die zum Zeitpunkt meiner Publikation noch nicht voll entwickelt waren. Ich denke beispielsweise an das Fortschreiten der Gender-Ideologie, die zu einer neuen Quelle der Irrationalität und einer Bedrohung der Freiheit wird. Die zunehmenden Differenzen zwischen west- und osteuropäischen Ländern habe ich schon genannt.

Es ist interessant zu sehen, wie sich die Wirtschaft in den Dienst der neomarxistischen Revolution stellt. Große Unternehmen propagieren aktiv und freiwillig den Homosexualismus und die Gender-Ideologie. Andererseits treten im revolutionären Lager tiefe Widersprüche zutage. Radikalfeministinnen kämpfen gegen die Gender-Ideologie. „Me Too“-Bewegungen kämpfen gegen die sexuelle Ausbeutung der Frau und die liberale Kultur behauptet, auf der Seite von „Me Too“ zu stehen, obwohl es gerade diese Kultur gewesen ist, die das Bild der Frau als sexuelle Ware geschaffen hat. Als Antwort auf den Neomarxismus treten neue populistische Parteien und Politiker auf, die den Neomarxismus kritisieren. Es handelt sich dabei nicht immer um eine christliche Reaktion. Christen sollten darum vorsichtig sein. Sie sollen sich engagieren, aber sie müssen auch sicherstellen, dass die Zehn Gebote uneingeschränkt und ohne Ausnahme gelten.

Vladimír Palko (* 20. Mai 1957 in Čunovo) ist ein slowakischer Mathematiker und Politiker. Von 2002 bis 2006 war er Innenminister der Slowakei, seit 2008 ist er Vorsitzender der Konservativ-Demokratischen Partei der Slowakei (KDS).

Infos zur Stiftung Zukunft CH: www.zukunft-ch.ch

kath.net-Buchtipp
Die Löwen kommen. Warum Europa und Amerika auf eine neue Tyrannei zusteuern
Von Vladimir Palko
Hardcover, 504 Seiten; Fe-Medienverlag
ISBN 978-3-86357-072-9
Preis Österreich: 13.20 EUR

Foto Vladimir Palko (c) Wikipedia/Karibaci/CC BY-SA 4.0


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