Wann erfuhr der Vatikan von Auschwitz?

27. Jänner 2020 in Chronik


„Während Papst Pius XII. schon Ende November 1941 von den schrecklichen Massakern der Nazis an den ukrainischen Juden erfuhr, war er erst relativ spät über die deutschen Vernichtungslager in Polen informiert.“ Von Michael Hesemann


Vatikan (kath.net) Während Papst Pius XII. durch Pater Pirro Scavizzi, einen Feldkaplan der Malteser, schon Ende November 1941 von den schrecklichen Massakern der Nazis an den ukrainischen Juden erfuhr, war er erst relativ spät über die deutschen Vernichtungslager in Polen informiert.

Dabei hatte Gerhard Riegner vom Jüdischen Weltkongress in seinem Telegramm vom 8. August 1942 sowohl an das US-State Department wie auch an den Vatikan bereits vor einem „Plan, den man im Führerhauptquartier diskutiert“ gewarnt. Danach hätten die Nazis vor, Millionen von Juden mithilfe von Blausäure zu ermorden. Doch darauf hatte man in Rom eher skeptisch reagiert; in Washington hielt man das für ein „wildes, von jüdischen Ängsten inspiriertes Gerücht.“

Allerdings wusste man, dass die Juden, die seit Anfang 1942 massenhaft in die von den Nazis besetzten Gebiete deportiert wurden, dort in Ghettos eingepfercht oder in Arbeitslagern kaserniert würden. Ebenso bekannt war, dass allein der Transport in Viehwaggons, tagelang ohne jede Hygiene, ohne ausreichende Verpflegung, ja ohne Wasser trotz oft brütender Hitze, für Alte und Schwache bereits das Todesurteil bedeutete. Das war, ebenso wie die Massaker durch Massenerschießung, jene traurige Gewissheit, die Pius XII. anspornte, gleich dreimal - am 30. August 1941, am 24. Dezember 1942 und am 2. Juni 1943 – öffentlich die Verbrechen der Nazis an den Juden anzuprangern und zugleich durch 40 diplomatische Interventionen weitere Deportationen aus Hitlers Vasallenstaaten zu stoppen oder zumindest zu verzögern. Doch Kunde davon, dass die schrecklichen Konzentrationslager von Auschwitz, Majdanek, Treblinka und Sobibor letztendlich Todesfabriken waren, erreichte erst spät und dann zunächst in Form von Gerüchten den Heiligen Stuhl. Das geht aus den Dokumenten der vatikanischen Archive hervor, die zwischen 1965 und 1981 auf Betreiben von Papst Paul VI. von einer vierköpfigen Historikerkommission unter Leitung von Prof. Dr. Pierre Blet, SJ, in einer elfbändigen wissenschaftlichen Edition („Actes et Documents du Sainte-Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale“) veröffentlicht wurden.

Wie schlecht man informiert war zeigte sich etwa, als der persönliche Repräsentant von US-Präsident Roosevelt, Myron Taylor, am 26. September 1942 eigens nach Rom kam und dort von Pius XII. empfangen wurde. Im Gepäck hatte er einen Bericht der Jewish Agency for Palestine mit erschreckenden Nachrichten aus Polen. Erwähnt wurden darin die Liquidierung der Bewohner des Warschauer Ghettos sowie Exekutionen in einem KZ, das als „Belick“ bezeichnet wird (gemeint war wohl das Vernichtungslager Belzec bei Lublin), in Lemberg und Warschau. „Die Juden, die aus Deutschland, Belgien, Holland, Frankreich und der Slowakei deportiert wurden, werden ins Schlachthaus geschickt“, heißt es darin wörtlich. Ob der Vatikan über ähnliche Informationen verfüge, wollte der Amerikaner wissen.

„Ich glaube nicht, dass wir über Informationen verfügen, die – insbesondere – diese schwerwiegenden Nachrichten bestätigen würden“, notierte Kardinalstaatssekretär Maglione auf dem Dokument. „Es gibt die von Herrn Malvezzi“, ergänzte ein Mitarbeiter. Graf Malvezzi war ein Angestellter eines italienischen Unternehmens, der unlängst aus Polen zurückgekehrt war. Er sprach zwar auch von Massakern, bestätigte aber die zitierten Informationen nicht. Auch eine Anfrage beim Botschafter der Exilpolen in Rom, Kazimierz Papée, ergab keine direkte Bestätigung, dafür aber neue Informationen: „Die Massaker der Deutschen an den Juden sind in Polen öffentlich bekannt. (…) Nach einem Bericht wird das Ghetto in Warschau systematisch geleert. (…) Jeden Tag werden Gruppen von über 1000 Juden mit dem Zug nach Lublin gebracht. Nach den Informationen eines Bürgers der Achsenmächte, der diese Orte besuchte, werden die Juden in einem Lager konzentriert, wo sie dann ermordet werden; auf jeden Fall steht fest, dass ihre Familien nie wieder von ihnen hören. Es wird erwartet, dass in den kommenden Monaten die gesamte jüdische Bevölkerung des Warschauer Ghettos – insgesamt 300 000 Juden – dorthin gebracht werden und dieser Teil der Stadt für die ‚Arier‘ bestimmt ist.“ Allerdings stammten diese Angaben, auch wenn sie sich rückwirkend als korrekt erwiesen, aus dritter Hand und konnten daher schwerlich vom Vatikan als unwiderlegbarer „Beweis“ gewertet werden. So antwortete Maglione am 6. Oktober eher vorsichtig auf Taylors Anfrage:

„Der Heilige Stuhl hat Nachricht über die schwere Misshandlung der Juden erhalten. Die Genauigkeit aller zugegangenen Informationen kann er jedoch nicht überprüfen. Der Heilige Stuhl selbst hat es nicht versäumt, jedes Mal für die Juden zu intervenieren, wenn sich ihm dazu die Möglichkeit bot.“

Ein anonym gebliebener Nuntiaturrat, der gerade seinen Dienst an der Nuntiatur in Berlin beendet hatte und nach Rom zurückgekehrt war, wusste in seinem Bericht vom 9. Dezember mehr über die Lage der (nach seinen Angaben) 3,5 Millionen Juden, die sich jetzt in den Händen der Deutschen befanden. Er erwähnt zuerst die beiden Ghettos in Lodz und Warschau und berichtet anschließend erstmals auch von „gewaltigen Konzentrationslagern“, in denen die Juden „ein sehr hartes Leben führen; man gibt ihnen nur wenig zu essen; sie müssen außergewöhnlich schwere Arbeiten verrichten, was sehr schnell zu ihrem Tod führt.“ Zehn Tage später wurde der in den Vatikan geflohene Botschafter Polens, Dr. Kazimierz Papée, noch deutlicher: „Dass vor allem die Alten, Kranken, Frauen und Kinder geschickt werden, beweist, dass die Deportationen nicht zur Zwangsarbeit erfolgen und bestätigen Informationen, nach denen die Deportierten durch unterschiedliche Methoden an eigens zu diesem Zweck eingerichteten Orten umgebracht würden. (…) Die Zahl der Juden aus Polen, die von den Deutschen ermordet wurden, wird auf über eine Million geschätzt.“ Dies war einer der ersten Berichte, die die Existenz von Todeslagern erahnen ließen.

Doch dann trafen immer neue Schreckensnachrichten im Vatikan ein. Am 7. März leitete der päpstliche Chargé d’Affairs in Bratislava, Msgr. Burzio, den erschütternden Brief eines Pfarrers aus Pressburg (Bratislava) an Kardinal Maglione weiter. Ein deutscher Offizier hätte „gegenüber einer Person, die ich gut kenne … auf kalte und zynische Weise zugegeben“, dass die nach Polen deportierten Juden „mit Giftgas oder mit dem Maschinengewehr oder auf andere Weise umgebracht“ würden. Aus den Leichen der massakrierten Juden würde man Seife herstellen. Natürlich wusste niemand im Vatikan, ob solche Behauptungen aus vierter Hand glaubwürdig waren.

Erst ein Bericht vom 5. Mai 1943 erwähnt „spezielle Todeslager in der Nähe von Lublin (Treblinka)“. Allerdings liegt Treblinka liegt nicht bei Lublin, sondern nordöstlich von Warschau. In einem Vorort von Lublin war das Vernichtungslager Majdanek angesiedelt, während sich die Todeslager Sobibor und Belzec im Bezirk Lublin befanden. Der Bericht weiter: „Man erzählte, dass sie zu Hunderten in Räumen eingesperrt werden, wo sie unter dem Einfluss von Gas enden.“

Wie unsicher diese Informationen freilich noch waren, zeigte sich, als der französische Kapuzinerpater Pierre-Marie Benoît, ein großer Freund und Helfer der Juden, dem Papst am 15. Juli 1943 in einer Privataudienz Berichte übergab, die jüdische Organisationen für ihn gesammelt hatten. Einer der Berichte trug den Titel „Informationen über die Lager in Oberschlesien“. Über diese Lager, die sich auf einer Linie Katowice–Birkenau/Auschwitz–Wadowice befänden, hieß es darin: „Die Moral unter den Deportierten ist im Allgemeinen gut, und sie haben Vertrauen in die Zukunft.“ Bei den Amerikanern sah die Informationslage nicht besser aus. Als ein Rabbi Wise am 27. August 1943 das US-Außenministerium bat, gegen die Vernichtungslager zu protestieren, erhielt er am 30. August die Antwort: „Es gibt keinen hinreichenden Beweis, um eine Erklärung über die Hinrichtung in den Gaskammern zu rechtfertigen.“ Man glaubte vielmehr, es handle sich um reine Arbeitslager.

Erst im Sommer 1944 hatte man traurige Gewissheit. Im April 1944 war es zwei slowakischen Juden, Rudolf Vrba (eigentlich: Walter Rosenberg) und Alfred Wetzler, gelungen, aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu fliehen, sich in die Slowakei abzusetzen und dort den Partisanen anzuschließen. Ihr 32-seitiger Bericht samt genauer Pläne des KZs wurde vom slowakischen Judenrat übersetzt und außer Landes geschmuggelt. Eine Kopie der sogenannten „Auschwitz-Protokolle“ erhielt der Chargé d’Affaires in Bratislava, Msgr. Burzio, schon am 22. Mai 1944, doch da er sie nicht mit der Post schicken konnte, sondern auf einen Boten angewiesen war, erreichten sie wohl erst Ende Oktober den Vatikan. Ein zweites Exemplar ging über die Jewish Agency an die Alliierten und wurde über den Apostolischen Delegaten in Konstantinopel, Erzbischof Roncalli, ebenfalls an den Papst weitergeleitet. Ein Drittes schickte der Nuntius in Bern, Erzbischof Bernardini, am 28. Juli 1944 an Kardinal Maglione. Er sei zwar nicht in der Lage, den Wahrheitsgehalt des Berichtes zu überprüfen, aber zuverlässige Personen hätten keine Zweifel daran, erklärte er in seinem Begleitschreiben. Danach seien bereits 1 715 000 Juden in den Gaskammern gestorben. Daraufhin beauftragte Msgr. Tardini den Nuntius in Berlin, Erzbischof Orsenigo, bei den deutschen Behörden für die Auschwitz-Insassen zu intervenieren und diskrete Erkundungen über das Lager einzuholen. Bislang wusste man nur vom Stammlager Auschwitz, in dem vor allem polnische politische Gefangene inhaftiert waren. Jetzt erfuhr man erstmals von „Auschwitz II“, dem Todeslager Birkenau.

Als Angehörige des Jewish Council Ende September 1944 den Apostolischen Delegaten in Washington, Erzbischof Cicognani, baten, der Heilige Vater möge sich bei der deutschen Regierung für die Befreiung der „45 000“ Auschwitz-Insassen einsetzen, wurde der Berliner Nuntius Cesare Orsenigo sofort damit beauftragt. Eine zweite Demarche ging an den italienischen Vatikanbotschafter: Auch seine Regierung möge doch Druck auf die Deutschen ausüben; Gerüchte besagten, dass die Nazis alle KZ-Insassen massakrieren wollten. Am 4. Oktober bestätigte der polnische Exilbotschafter Papée die Existenz deutscher Vernichtungslager in Auschwitz und Umgebung, in denen derzeit 16 725 Männer und 39 125 Frauen interniert seien, die jetzt „in unmittelbarer Todesgefahr“ stünden. Die Erfahrungen der Vergangenheit, so der Botschafter, ließen die Illusion nicht zu, die Realisierung eines Planes von solcher Monstrosität verhindern zu können, gab Papeé zu bedenken.

Am 9. Oktober präzisierte Cicognani sein Hilfegesuch; es seien die Insassen des Konzentrationslagers „Birchenau Hoss“ gemeint, also von Auschwitz-Birkenau, das allerdings nur bis November 1943 unter Leitung von Obersturmbannführer Rudolf Höß stand. Auch Papée hakte nach und schrieb am 12. Oktober an das vatikanische Staatssekretariat: „Nach Informationen, deren Richtigkeit leider nicht bezweifelt werden kann, existiert ein Plan, die Konzentrationslager für Zivilisten (wie Auschwitz und Brzezinka) zu zerstören. Durch diese Zerstörung sollen alle Spuren der dort begangenen Gräueltaten beseitigt werden. Die Insassen – zehntausende Männer und Frauen – würden vorher getötet und ihre Leichen verbrannt.“

Diese Informationen sollten sich als wahr erweisen. Zwischen dem 7. Oktober und Anfang Dezember 1944 ließ Himmler die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz sprengen. Die vorrückende Rote Armee, aber auch britische Flugzeuge, die seit Sommer 1944 in der Nähe des Lagers gesichtet wurden, waren der Grund: Da sich eine Niederlage Deutschlands längst abzeichnete, sollten zumindest die Beweise für den größten Völkermord der Geschichte vernichtet werden, bevor die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden konnten.

Am 13. Oktober traf dann endlich eine Antwort aus Berlin ein. Nuntius Orsenigo hatte beim Auswärtigen Amt in der Wilhelmstraße vorgesprochen, wo man ihm „versicherte, diese Berichte seien Feindpropaganda und (zum Beweis) auf die Gefangenen der Lager verwies, die vom Internationalen Roten Kreuz besucht werden durften. Selbst wenn diese Auskunft des Außenministeriums ehrlich wäre, schließt das nicht aus, dass die berüchtigten SS-Einheiten geheime Anweisungen ganz anderen Inhalts erhielten.“ Darauf antwortete Tardini am 19. Oktober, Orsenigo solle bitte in Erfahrung bringen, wann das Konzentrationslager „Birchenau Hoss“ das letzte Mal vom Roten Kreuz besucht wurde.

Doch darauf wusste man in der Wilhelmstrasse keine Antwort. So dauerte es bis Januar 1945, dass der Name „Auschwitz“ erneut in den Vatikanakten erschien. Zu diesem Zeitpunkt war die Rote Armee bereits in Schlesien einmarschiert, während sich die Deutschen auf dem Rückzug befanden. Noch am 25. Januar 1945 telegraphierte Msgr. Tardini an den Nuntius Orsenigo, er solle bitte dringendst intervenieren, um zu verhindern, dass „die deutschen Truppen bei ihrem Rückzug die Insassen des Lagers Auschwitz massakrieren.“ Diese Demarche war nicht mehr nötig; nur zwei Tage später wurden das KZ Auschwitz und das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von den Russen befreit.

Michael Hesemann ist Historiker und Autor diverser Bücher zur Kirchengeschichte. Im letzten Jahr erschien „Der Papst und der Holocaust. Pius XII. und die geheimen Akten im Vatikan.“ Er recherchierte u.a. in den Akten der Seligsprechungskongregation und im Geheimarchiv des Vatikans.

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