Homeschooling? – „Das selbständige Lernen kam mir sehr entgegen“

24. April 2020 in Interview


Angesichts des unfreiwilligen Homeschoolings im Corona-Lockdown berichtet Hedwig Hageböck im Interview mit Martin Bürger über ihre Erfahrungen mit der „Schule zuhause“.


Straßburg (kath.net) Im Corona-Lockdown „macht ganz Deutschland Homeschooling. Doch das ist etwas anderes: Weder Kinder noch Eltern machen es freiwillig; sie wurden völlig unvorbereitet ins kalte Wasser geschmissen, genauso wie ihre Lehrer.“ Dazu kommt die soziale Isolation. Hedwig Hageböck berichtet über ihre eigenen Erfahrungen im freiwilligen Homeschooling.

Martin Bürger: Wann haben Sie mit Homeschooling angefangen? Und falls Sie zuvor auf eine Schule gegangen sind, wie war der Wechsel?

Hageböck:
Unsere Familie zog 2009 ins Elsass, um dort legal Homeschooling zu machen. Ich kam damals gerade in die neunte Klasse. Weil meinen Eltern bereits in Deutschland die Bildung ihrer Kinder ein großes Anliegen war, musste ich damals von einer sehr guten Schule mit netten Klassenkameraden Abschied nehmen. Was die persönlichen Beziehungen anbelangt, war dies natürlich schmerzlich. Aber ich freute mich auch darauf, nun mehr Zeit bei meiner Familie verbringen zu können.

Die Art des selbstständigen Lernens kam mir sehr entgegen. Bereits in meiner Schulzeit liebte ich es, frei zu lernen und mir selbst Dinge zu erarbeiten. Plötzlich konnte ich meinen eigenen Stundenplan erstellen, mir für die Dinge, die mir wichtiger waren, mehr Zeit nehmen und mich über eine längere Spanne in ein Thema vertiefen.

Bürger: Gibt es überhaupt deutsche Ressourcen für den Unterricht zu Hause, wie man das in den USA kennt, oder muss man sich da anderweitig organisieren?

Hageböck:
Im ersten Jahr nach dem Umzug lief in meiner Familie schulisch gesehen erst einmal nicht so viel. Da in Deutschland Homeschooling keine Option ist, gibt es auch keine fertigen Programme. Wir mussten uns ganz neu organisieren und für jedes Fach mögliche Lernwege finden. Dieser Prozess ist auch jetzt noch nicht abgeschlossen, weil wir immer wieder auf neue Dinge stoßen oder merken, dass etwas noch verbesserungsfähig ist.

In manchen Fächern, wie z.B. Mathematik, sind die deutschen Schulbücher gut aufbereitet und selbsterklärend, sodass sie sich für Autodidakten ausgezeichnet eignen.

Die Sprachen lernten wir hauptsächlich in längeren Aufenthalten bei muttersprachlichen Familien.

Ansonsten lieferte der Lehrplan für Baden-Württemberg das grobe Gerüst, konkret sieht das bei jeder Familie, ja sogar bei jedem Kind ganz verschieden aus. Das bedeutet natürlich mehr Arbeit, ist aber auch sehr spannend und hilft, auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen.

Bürger: Soziale Isolation wird immer wieder als Argument gegen Homeschooling gebracht. Stimmt das in Ihrem Umfeld?

Hageböck:
Die Gefahr der sozialen Isolation ist bei Homeschool-Familien selbstverständlich größer, da der alltägliche Umgang mit den Klassenkameraden wegfällt.

Doch fast alle Familien, die ich kenne, bemühen sich intensiv, ihren Kindern viele verschiedene Kontakte zu bieten, nicht nur mit Gleichaltrigen. Dies geschieht in Sport- und Musikvereinen (für die mehr Zeit ist), bei den Pfadfindern, in der Pfarrei, bei Nachbarn und Freunden, die das Projekt als Lehrer in irgendeiner Form unterstützen, und natürlich untereinander.

Wir waren immer sehr frei, hatten viel Besuch, gingen selber auf Reisen, führten Exkursionen durch und machten Kooperationen.

Mittlerweile wohnen im Umfeld meiner Eltern etwa 15 Familien, die ihre Kinder zuhause unterrichten; es gibt verschiedene Kooperationen und sehr gute Freundschaften.

Bürger: Ist man als Homeschooler überhaupt auf das richtige Leben vorbereitet?

Hageböck:
Wenn „richtiges Leben“ bedeutet, dass man im Leben klar kommt, dass man in der Lage ist, einen Beruf zu erlernen und zu ergreifen, dass man eine Familie gründen und sich in der Gesellschaft einbringen kann, so kann ich die Frage nur mit „Ja“ beantworten. Ich kenne Homeschooler, die in den verschiedensten Berufssparten erfolgreich Fuß gefasst haben. Eine Person aus meiner Familie hat sogar ein Stipendium für ihr Studium bekommen. Ich selbst stehe kurz vor dem Staatsexamen zur Gymnasiallehrerin.

Da ich in meiner Homeschool-Zeit den Schwerpunkt auf die Fremdsprachen gelegt hatte, arbeite ich zudem von Zeit zu Zeit als Übersetzerin.

Natürlich gibt es Dinge, die „normale Leute“ in der Schule gelernt haben, welche ich nicht kann oder weiß. Aber umgekehrt hatte ich auch viel Zeit, mir Dinge anzueignen, die mich persönlich mehr interessieren und die man in der Schule nicht hört.

Auch im praktischen Leben hatte ich Vorteile gegenüber regulären Schülern. So war zum Beispiel die Selbstorganisation und das eigenverantwortliche Lernen an der Uni für mich nichts Neues mehr. In der intensiven Zeit zuhause lernte ich auch sämtliche Aufgaben, die im Haushalt anfallen. In wechselnden Rollen übernahm jedes Kind einmal die Verantwortung für Kochen, Wäsche, Putzen, Garten, Einkaufen etc.

Bürger: Werden Sie auch selbst Homeschooling betreiben, wenn Sie eine Familie gründen?

Hageböck:
Das hängt natürlich von vielen Faktoren ab! Grundsätzlich bin ich nicht gegen Schule und halte diese auch für eine Option, wenn es sich um eine gute, christliche Institution handelt. Gleichzeitig hängt es sehr von den Kindern und ihren Bedürfnissen ab; ich würde nie ein Kind von mir zwingen, Homeschooling zu machen, wenn es dies partout nicht möchte. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Homeschooling nur funktionieren kann, wenn beide Eltern voll und ganz dahinter stehen.

Die Mutter muss bereit sein, rund um die Uhr mit den Kindern zuhause zu sein, und es sich zutrauen, die Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder selbst in die Hand zu nehmen.

Für den Vater kann dies als Alleinverdiener eine höhere Belastung bedeuten und er muss seiner Frau das Vertrauen schenken können, das er sonst Schulleitern und Lehrern entgegenbringt, die ihr Fach studiert haben und vieljährige Erfahrung haben.

Persönlich kann ich mir sehr gut vorstellen, mit meinen Kindern später zuhause zu lernen, auch wenn ich nach Möglichkeit lieber wieder in Deutschland wohnen möchte, was zumindest derzeit legal leider nicht gleichzeitig möglich ist. Aber vielleicht ändert sich die Situation durch Corona.

Bürger: Wenn Sie eine Sache ändern könnten am Konzept von Homeschooling, wie es oft praktiziert wird, was wäre das?

Hageböck:
Das verschulte Denken. Homeschooling sollte gerade nicht darin bestehen, Arbeitsblätter auszufüllen, Vokabeln zu lernen und auf Tests zu büffeln. Das ist „Schule zu Hause“. Ich bin stattdessen für „Lernen zu Hause“. Und Lernen kann sehr vielgestaltig sein.

Natürlich meine ich nicht, die Kinder machen zu lassen, was sie wollen. Aber ich sehe einen großen Vorteil von Homeschooling gerade darin, dass es nicht ständig irgendwelche Tests und Arbeiten gibt. Dieser Weg bietet ein großes Potential, wenn man es schafft, die Kinder zu einer intrinsischen Motivation für die Lerninhalte, zumindest für ihre Schwerpunktfächer, zu führen; sie so zu begeistern, dass sie aus Interesse lernen und nicht nur für die Klassenarbeiten; sie dahin zu bringen, dass Lernen Spaß macht und nicht nach der sechsten Stunde aufhört.

Gerade in den unteren Klassenstufen kann man so viele Dinge lernen, indem man einfach raus geht, gemeinsam Museen besucht, sich von älteren Menschen etwas erzählen lässt, altersübergreifende Projekte macht, viele Bücher liest … Alle meine Geschwister haben auf diese Weise ganz eigene Schwerpunkte für sich gesetzt. Die vielseitigen Möglichkeiten könnten aber noch effektiver ausgenutzt werden. Dies geht natürlich umso leichter, je mehr Familien zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen.

Bürger: Was empfehlen Sie zu tun, dass Homeschooling in Deutschland legalisiert wird? Ist die gegenwärtige Situation (Coronavirus) ein guter Startpunkt? Ist ziviler Ungehorsam empfehlenswert?

Hageböck:
Ich möchte niemandem empfehlen, etwas Illegales zu machen. Ich weiß von einzelnen Fällen, wo Homeschooling in Deutschland geglückt ist, doch gibt es auch zu viele negative Beispiele. Mit meiner Familie haben wir erst in Frankreich damit begonnen und das finde ich gut so. So waren wir stets ganz frei, mussten nichts verheimlichen und hatten nichts zu befürchten.

Momentan hingegen macht ganz Deutschland Homeschooling.

Doch das ist etwas anderes: Weder Kinder noch Eltern machen es freiwillig; sie wurden völlig unvorbereitet ins kalte Wasser geschmissen, genauso wie ihre Lehrer. Hinzu kommen die anderen Umstände der gegenwärtigen Situation, welche das Leben der Familien ohnehin schon genügend erschweren und beeinträchtigen, um beispielsweise noch einmal auf die soziale Isolation zurückzukommen, die nichts mit Homeschooling zu tun hat.

Die Plötzlichkeit der jetzigen Situation, die fachliche Überforderung, Spannungen in Familien, die Isolation und die Ungewissheit, wie die Pandemie ausgeht, werden bei etlichen Familien dazu führen, die aktuelle Möglichkeit, Homeschooling zu machen, eher negativ zu bewerten. Bei uns hat es damals mehrere Monate, teils Jahre gedauert, bis wir richtig im Freilernen drin waren. Doch dann war es eine super Sache und ich denke, dass alle auf ihre Weise sehr davon profitiert haben.

Trotzdem sehe ich auch die Chancen dieser Krise: Die Eltern sind nun verpflichtet, sich für die Bildung ihrer Kinder zu interessieren. Gleichzeitig können sie einen besseren Einblick in die schulischen Stärken und Schwächen ihrer Kinder bekommen und ihnen individuell helfen.

Vielleicht ist gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, um mit diesen Erfahrungen seine Stimme in Deutschland zu erheben, sei es als Lehrer, als Eltern oder als Schüler, und die Möglichkeit des Homeschooling zu fordern. Bei einer schrittweise nWiedereröffnung der Schulen kann man sicher argumentieren, man möchte seine Kinder aus gesundheitlicher Fürsorge noch länger Zuhause lassen.

Aber selbst wenn es zu einer Legalisierung käme, müssten ja noch lange nicht alle Familien Homeschooling machen. Es wäre lediglich eine Erweiterung der Freiheit, indem Eltern selbst entscheiden können, wo und wie ihre Kinder zu Bildung gelangen. Ich sehe keinen triftigen Grund, diese Freiheit den Menschen in Deutschland vorzuenthalten.


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