14. Mai 2020 in Prolife
... und andere ethische Dilemmas in der jetzigen #Corona-Pandemie - Ein Beitrag von Michael Wee
London (kath.net/CatholicHerald)
„The Catholic Herald“ hat mit Michael Wee gesprochen, einem katholischen Bio-Ethiker in Oxford. Es ging um die am meisten diskutierte ethischen Dilemmas in dieser jetzigen Pandemie.
Beginnen wir mit einer Frage, die sich viele Leute stellen. Wenn es in einem Gesundheitssystem z.B. zu wenige Beatmungsgeräte gibt wegen der großen Anzahl von Covid-19 Patienten, wie sollen die Ärzte entscheiden, wen sie zuerst behandeln?
Sogar unter normalen Umständen treffen Spitäler ständig Entscheidungen darüber, wen sie zuerst behandeln, denn Ressourcen sind immer begrenzt. Einfach ausgedrückt, um die meisten Leben zu retten priorisiert man diejenigen, die am schwersten erkrankt sind und die daher am dringendsten Hilfe benötigen.
Wenn aber das System aufgrund der großen Nachfrage nach lebenswichtiger Hilfe überlastet ist, dann verteilt man die Ressourcen des Gesundheitssystems anders, um so das Ziel, die meisten Leben zu retten, aufrecht zu erhalten. Also, zum Beispiel, wenn Patienten ein Beatmungsgerät brauchen, dann muss man diejenigen priorisieren, die sich am ehesten wieder erholen werden. Ein möglicher klinischer Vorteil wird zum Hauptkriterium für endgültige Entscheidungen.
In der Theorie würden viele das als ein faires Kriterium akzeptieren. Die Herausforderung besteht jedoch darin, dies in der Praxis umzusetzen. Bei Covid-19 achten die Ärzte also darauf, welche zusätzlichen Krankheiten da sind, und welche Risikofaktoren es gibt, wie z.B. das Alter, um den Erfolg der Behandlung abzuschätzen. Es ist jedoch sehr leicht, von einem klinischen Urteil über die Genesungschancen, in eine diskriminierende Haltung gewissen Patienten gegenüber, zu rutschen. Deshalb warnt das NHS vor strikt festgesetzten Richtlinien bei Alter, Beeinträchtigungen oder (Vor-)Erkrankungen, wenn es um die Frage geht, wer behandelt wird. Eine andere Gefahr wäre ein Punkte-System zum Abhaken, um Patienten einzuschätzen. Das wäre in einer sehr stressigen Situation, wo ein ganzheitliches und individuelles Assessment belastend scheint, viel zu einfach. Ein faktengestütztes Bewertungssystem ist hilfreich, aber darf nicht alles sein.
Es ist auch wichtig zu sehen, dass die Kriterien eines klinischen Vorteils nicht absolut sind. Sie sollten nicht auf eine kalte und rein nützliche Weise angewandt werden. Es ist nicht notwendig ständig Beatmungsgeräte von Patienten abzuziehen, nur weil neue Patienten da sind, die eine etwas größere Chance haben, gesund zu werden. Eine Behandlung zu beginnen ist, als ob man eine Beziehung beginnt und braucht Vertrauen. Es ist gut auch zu Ende zu bringen, was man begonnen hat.
Wenden wir uns jetzt einem Dilemma zu, dass die Gesellschaft allgemein betrifft. Welche ethischen Standpunkte gibt es bei der Frage, ob das Lockdown weitergehen oder gelockert werden soll? Wäre es möglich, dass wir einen zu hohen Preis zahlen, um Leben zu retten?
Zuerst einmal muss gesagt werden, dass Leben zu retten die höchste Priorität hat. Aber das ist auch nicht immer wichtiger, als alle anderen Überlegungen. Auf persönlicher Ebene ist die katholische Lehre eindeutig, dass niemand gezwungen ist, um jeden Preis sein Leben zu retten. Wenn die Behandlung zum Beispiel zu belastend ist und nur wenig Nutzen bringt, dann ist es moralisch erlaubt, die Behandlung zu verweigern oder zurückzuweisen. Hier kommt das Prinzip eines Doppeleffekts zur Anwendung, wo der Tod vorhersehbar, aber in keiner Weise gewollt ist. Die Absicht dahinter ist nämlich unverhältnismäßiges Leiden, das von der vorgeschlagenen Behandlung verursacht wird, zu verhindern. Der Tod ist dabei die Konsequenz der Grunderkrankung. Das ist nicht das Gleiche wie bei der Euthanasie, wo der Tod das gewollte Resultat einer Tat oder einer Unterlassung ist.
Auf der Ebene der Gesellschaft muss ein ähnlich umsichtiges Urteil darüber gefällt werden, ob die Mittel, um Leben zu retten, für die Gesellschaft unverhältnismäßig belastend sind. Das bedeutet, dass wir die möglichen Vorteile eines Lockdowns anerkennen müssen, wie z.B. die gemeinschaftliche Übertragung des Virus eindämmen zu können und den Druck auf das Gesundheitssystem zu verringern. Diese Vorteile und die Nachteile der Maßnahmen müssen abgewogen werden.
Hier ist es jedoch entscheidend, dass wir die Nachteile des Lockdowns nicht nur von der wirtschaftlichen Seite betrachten. Die wirtschaftlichen Nachteile sollten nicht ignoriert werden, aber es ist eine falsche Annahme dass wir letztendlich zwischen dem Leben und der Wirtschaft entscheiden müssen. Ein Lockdown kann auch zu einer erhöhten Anzahl an Toten und zu schlechter Gesundheit führen. Psychische Probleme aufgrund des Lockdowns können die Selbstmordrate erhöhen und Selbstschädigungen provozieren. Auch Arbeitslosigkeit kann das Selbstmordrisiko erhöhen und durch finanzielle Nachteile kann es auf langer Sicht zu schlechter Gesundheit kommen, wenn die Menschen Arzttermine und Kontrollen verschieben, die in denen z.B. Krebs früher erkannt worden wäre.
Ein anderer Faktor, den wir bedenken müssen, ist die genaue Todesrate des Virus, die noch nicht genau ermittelt werden kann. Milde und symptomlose Fälle sind weit mehr verbreitet als wir ursprünglich gedacht hatten. Es könnte sein, dass die Todesrate eher bei 0,5%, statt bei 1% oder 3% liegt. Das ist entscheidend, wenn wir die Vor- und Nachteile des Lockdowns abwägen und nach den besten Übergangslösungen für die Lockerung des Lockdowns suchen, die für jede Altersgruppe möglich sind.
Eine letzte Sache noch. Viele Menschen haben Bedenken, dass für ein mögliches Ende der Pandemie, für eine entwickelte Impfung, die Zelllinien von fötalem Gewebe verwendet werden. Ist das ein Dilemma für Katholiken oder andere Abtreibungsgegner?
Gewisse Impfungen werden von Zelllinien hergestellt, die aus dem Gewebe von abgetriebenen Föten stammen. Einige dieser Abtreibungen sind schon Jahrzehnte her und die Zelllinien werden regelmäßig in Laboren auf der ganzen Welt verwendet. Es scheint, dass eine „Komplizenschaft“ mit solchen „historischen“ Abtreibungen, bei der Verwendung dieser Zelllinien, ziemlich weit hergeholt ist.
Eine entfernte Komplizenschaft mit lang zurückliegenden Übeln ist weit üblicher, als wir es uns vorstellen können. Wir könnten vielleicht in Gebäuden arbeiten, die von Sklaven erbaut wurden, oder in Ländern leben, die unsere Vorfahren einst erobert und ausgebeutet haben. Je weiter wir von den Systemen entfernt sind, die solche Ungerechtigkeiten verbrochen haben, desto geringer ist unser Kontakt mit diesen Schandtaten und desto weniger skandalös unsere Verbindung mit ihnen. Aber stellen wir uns mal ein Szenario vor, in dem Impfungen von Zelllinien hergestellt werden, die von einem politischen Gefangenen stammen, der von einem totalitären Staat ermordet wurde. Wir würden uns zumindest unwohl fühlen, wenn die Forschung diese Zelllinien verwende, vor allem, wenn solche Hinrichtungen noch immer stattfänden und weiterhin so Gewebe gewonnen werden würde.
Genauso müssen Wissenschaftler, die fötale Zelllinien verwenden, den potentiellen Skandal berücksichtigen, der mit der Verwendung solchen biologischen Materials verbunden ist. Könnte das nicht den Eindruck erwecken, dass Abtreibungen akzeptiert werde, genauso wie die Idee, dass ein Leben vorsätzlich zerstört werden kann, wenn das anderen hilft. Das ist vor allem im momentanen Kontext wichtig, da Abtreibungen weit verbreitet sind, und neue Zelllinien aus abgetriebenen Föten hergestellt werden. Es wäre von großem Wert, wenn Wissenschaftler eine prinzipielle und standhafte Einstellung gegen die Verwendung von Ziellinien vertreten würden, egal ob diese nun neu oder schon alt sind. Das ist notwendig, um die Abhängigkeit von biologischem Materialen aus unethischen Quellen zu verringern und die Nachfrage nach ethisch-einwandfreien Zelllinien zu erhöhen.
Diese Verantwortung ist für Wissenschaftler moralisch fordernd, da sie direkt mit solchem Material zu tun haben. Aber im Dokument „Dignitas Personae“ erkennt die Kirche an, dass es bei diesem Problem „differenzierte Verantwortlichkeiten“ gibt und sie lehrt, dass „aus gewichtigen Gründen die Verwendung des genannten ‚biologischen Materials‘ sittlich angemessen und gerechtfertigt sein könnte“. Daher ist es für gewöhnliche Bürger, die ernsthafte Gründe haben, sich impfen zu lassen – und insbesondere angesichts der Tatsache, dass sie kein Mitspracherecht bei der Herstellung des Impfstoffes haben – moralisch erlaubt, eine Impfung zu akzeptieren, die aus fötalen Zelllinien hergestellt wurde, wenn keine leicht zugängliche Alternative existiert.
In Verbindung mit COVID-19 müssen wir nicht nur die individuellen Umstände eines jeden beachten, sondern auch das Allgemeingut. Auch wenn die Gefahr des Virus für uns, laut Statistik, nicht ungeheuer groß ist, müssen wir doch an die Gefahr denken, die es für diejenigen darstellt, die wir treffen – ältere oder schwächere Familienmitglieder und Freunde – und an die hohe Ansteckungsgefahr. Eine erfolgreiche Impfung wäre eine machbare Möglichkeit, um wieder zu einem relativ normalen Leben in der Gesellschaft zurückzukehren. Aber das funktioniert nur, wenn die meisten Menschen mitziehen. Alles zusammengenommen, wären das sicher genügende Gründe für jemanden eine Covid-19 Impfung zu erhalten, die mit unethischen Zelllinien entwickelt wurde, außer es gäbe eine annehmbare Alternative.
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