12. Mai 2020 in Interview
Michael Hesemann interviewte die zwischenzeitlich verstorbene Alma von Stockhausen
Freiburg (kath.net) Am Montag verstarb die große deutsche Philosophin Alma von Stockhausen (1927-2020) im fränkischen Heroldsbach, am Samstag wurde sie im emsländischen Aschenberg im engsten Familienkreis beigesetzt. In einem letzten Interview mit Historiker Michael Hesemann schilderte sie die wichtigsten Stationen ihres bewegten Lebens.
Hesemann: Frau Professor von Stockhausen, im Zentrum ihres Lebens und Ihrer wissenschaftlichen Arbeit steht die Auseinandersetzung mit Luther und dem Protestantismus. Wie kam es dazu?
Wir hörten als Kinder von unserer Mutter, dass unsere Großmutter katholisch geworden sei, obwohl ihre Familie, die Grafen Bernsdorff betont evangelisch waren. Mein Großvater machte die Politik für den König von Hannover, einen überzeugten Protestanten. Eines Tages sagte meine Großmutter: „Jetzt will ich doch einmal unseren Vater im Glauben kennenlernen, Martin Luther. Ich werde mir seine Schriften kommen lassen und sie lesen.“ Das tat sie. Und dann sagte sie zu ihrem Mann: „Was für einen Wahnsinn glauben wir? Ich muss sofort katholisch werden“. Großvater hat darauf geantwortet: „Dann lasse ich mich scheiden. Wenn die Religion nicht das Verbindende zwischen uns ist, wie soll dann ein gemeinsames Leben möglich sein?“ Großmutter antwortete: „Die Wahrheit ist die Wahrheit, ich werde katholisch.“
Mein Großvater ließ sich nicht scheiden, blieb aber überzeugter Protestant, während meine Großmutter katholisch wurde. Und meine Mutter fragte sich: wem soll ich glauben? Sie wollte selbst die Wahrheit herausfinden, aber dafür musste sie Theologie studieren und, um sie zu verstehen, zudem Philosophie. Außerdem Mathematik, um die objektive Wahrheit erkennen zu können. Das war ziemlich ehrgeizig, denn Mädchen konnten damals in der Regel kein Abitur machen. Also stellte meine Mutter zunächst eine Anfrage an die Badische Landesregierung, sie zum Abitur zuzulassen. Das wurde genehmigt, allerdings durfte sie keine Bubenschule besuchen. Sie musste Privatunterricht nehmen, um dann das Abitur an der Schule abzulegen. So geschah es. Mutter studierte Philosophie, Mathematik, katholische und evangelische Theologie und promovierte in diesen Fächern. Nach einer gründlichen wissenschaftlichen Überprüfung der evangelischen Theologie wurde sie bewusst katholisch. Bei diesen Studiengängen hatte sie meinen Vater kennengelernt, der auch Philosophie studierte, um zu wissen, ob die katholische Religion die wahre sei. Da sie beide in ihrem Urteil übereinstimmten, wurde der gemeinsame Glaube zur Grundlage ihrer Ehe. Sie waren geradezu heiligmäßige Eltern, tief im Glauben verankert. Sie schenkten sechs Kindern das Leben, zwei Mädchen und vier Buben, von denen drei Priester wurden und einer Arzt. Persönlich habe ich ein Ordensgelübde beim Bischof abgelegt und auf dieser Grundlage dann Wissenschaft betrieben.
Hesemann: Wo haben Sie Ihre Kindheit verbracht?
Ich wurde in Münster geboren, bin aber In Aschendorf im Emsland aufgewachsen, nur vier Kilometer von der holländischen Grenze entfernt, wo mein Vater als Rechtsanwalt tätig war.
Hesemann: Sie wurden 1927 geboren. Ihre Kindheit fiel also in die NS-Zeit. Was haben Sie für Erinnerungen an die dunkelste Epoche unserer Geschichte?
Den Nationalsozialismus habe ich dadurch erlebt, dass einige meiner Lehrer in der Schule überzeugte Nazis waren. Denen konnte ich nur widersprechen. Als ich 16 war, wurden wir aufgefordert, in die Partei einzutreten; das sei die Bedingung, um Abitur machen zu dürfen. Ich habe mich geweigert und erklärt, dass ich nicht in die Partei eintreten könne, da ich sehen würde, welches Unrecht Hitler tut. Der Rektor erwiderte, ich könne dann kein Abitur machen. Das habe ich natürlich zu Hause erzählt, und mein Vater meinte: „Das werden wir sehen“. Wir gingen daraufhin zum Kreisleiter, dem obersten Nazi, der in Aschendorf residierte. Der Kreisleiter begrüßte uns mit „Heil Hitler“, mein Vater erwiderte: „Grüß Sie Gott, Herr Kreisleiter“ und erklärte, warum wir gekommen seien. Der Kreisleiter wollte diskutieren, mein Vater meinte, er habe keine Zeit und verabschiedete sich: „Grüß Sie Gott, Herr Kreisleiter!“
Ich habe meiner Mutter nachher kein Wort davon erzählt, weil sie in der Nacht kein Auge mehr zubekommen hätte. Ich rechnete fest damit, dass am nächsten Morgen die Gestapo kam und meinen Vater verhaften würde, doch nichts davon geschah. Stattdessen erfuhr ich, dass der Kreisleiter bei meinem Rektor angerufen hatte, er solle mich zum Abitur zulassen. Bald nach dem Krieg kam der Kreisleiter zu meinem Vater und sagte: „Sie wissen, dass Ihre Tochter mir ihr Abitur verdankt, jetzt helfen Sie mir bitte bei der Entnazifizierung.“ Das hat Vater natürlich getan.
Adolf Hitler schenkte uns dann das Abitur, wie es hieß; wir wurden ohne Abitur in den Reichsarbeitsdienst entlassen. Als ich nach dem Krieg studieren wollte, wollte natürlich niemand dieses „Geschenk“ annehmen. Es gab aber Übergangskurse von der Schule zum Studium. Solche habe ich dann besucht.
Hesemann: Wo haben Sie dann studiert?
Mein Studium begann ich im westfälischen Münster. Münster ist eigentlich meine Heimatstadt, da bin ich geboren. Da hatten wir auch einmal einige Häuser, die waren aber inzwischen alles zerbombt, da war nichts mehr. Ich habe dann ein Zimmer bekommen, eine Besenbutze ohne Fenster. Außer den Besen gab es zwei Hocker und ein langes Brett, das mir als Bett diente. Auf dem einen Hocker saß ich, der andere war mein Schreibtisch. Für uns Studenten hatte die englische Besatzungsmacht eine Quäkerspeisung organisiert, in der Regel eine Suppe, einmal in der Woche ein Stück Speck. Diese Speckstücke habe ich gesammelt, bin zu einem Maurer gegangen und habe gefragt, ob er mir nicht dafür ein Fenster einbauen könnte. Das hat er getan und ich hatte in meiner Besenbutze zumindest ein Fenster.
Ich konnte in Münster erst einmal bleiben und anfangen zu studieren. Das war 1946. Die Uni hatte mit allen Fakultäten 900 Studenten, es gab einen Hörsaal und die Chirurgie, sonst war alles zerbombt. In dem einen Hörsaal fanden nacheinander alle Vorlesungen aller fünf Fakultäten der Uni Münster statt. Die wichtigste Vorlesung war die von Prof. (Hermann) Volk, dem späteren Dogmatik-Professor und auch Bischof (und Kardinal, MH). Das war die große Stunde von Prof. Volk. Bücher gab es nicht. Ein Teil der Uni-Bibliothek war in einem Bergwerk gelagert und gerettet worden, doch niemand besaß ein Auto, um sie dort wieder herauszuholen und es hätte ohnehin keine Räumlichkeiten für sie gegeben. Es gab eine Bretterbude auf dem Schlossplatz in Münster, und da wurde das philosophische Institut gegründet. Ich sehe noch Joachim Ritter, einen berühmten Philosophie-Historiker, in der Bretterbude sitzen, als ich mich ihm vorstellte. Er sagte: „Sie kommen an einem denkwürdigen Tag. Stellen Sie sich vor, unser Institut hat ab heute ein Buch, und zwar die ‚Nikomachische Ethik‘ von Aristoteles. Aber wenn Sie meinen, dass ich noch griechisch kann, dann irren Sie sich. Ich komme aus dem Krieg, ich habe alles vergessen. Ich muss genauso anfangen wie Sie.“
Hesemann: Aber das hat Sie nicht abgeschreckt, denke ich mal…
Nein, für mich stand trotzdem fest, dass ich Philosophie studieren wollte. Meine Eltern waren beide Philosophen. Meine Mutter sagte mir immer, mein Philosophie-Unterricht habe begonnen, als ich zwei Jahre alt war, bei meinem Vater. Auch ich hatte mich sehr früh gefragt, ob denn nun katholische oder der evangelische Glaube der richtige sei, aber auch, ob überhaupt Religion nötig ist und nicht Vernunft allein genüge, oder ob sich Glaube und Vernunft vereinbaren lassen. Meine wichtigsten Bücher in der Schulzeit waren von Emmanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“ und „Religion, innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Zuhause erlebte ich den Glauben meiner Eltern: Papa war jeden Tag in drei heiligen Messen, Mutter jeden Tag in einer heiligen Messe. Ich zog die Konsequenz und ging jeden Tag auch in die heilige Messe, bewusst ohne Sakramentenempfang, um dort meine Entscheidung zu treffen. Schließlich beschloss ich, Philosophie und katholische Theologie zu studieren, mit den Schwerpunkten Dogmatik und Religionsphilosophie.
Hesemann: Wer waren denn Ihre wichtigsten Lehrer?
Meine Eltern! Nach meinen Eltern war mein Bruder Armin mein dritter großer Lehrer. Er war drei Jahre jünger als ich. Wir haben zu Hause jeden Abend zusammengesessen bei einem lodernden Kaminfeuer und konnten mit den Eltern unsere Fragen besprechen. Und als Älteste habe ich natürlich das Wort geführt. Ich sehe noch meinen Bruder Armin, wie er sich zu mir hinüberbeugte und meinte: „Was hast Du für dumme, dumme Fragen!“ Ich musste ihm rechtgeben: „Wenn ich deinen strahlenden Glauben sehe, dann sind meine Fragen die dümmsten, die man sich vorstellen kann.“ Mit drei Jahren bekamen wir unsere eigenen Zimmer im Haus, und die durften wir einrichten, wie wir wollten. Es stand ein Bett und ein Schrank darin, aber das übrige Mobiliar wünschten wir uns zu Weihnachten und zum Geburtstag. Armin wünschte sich mit drei Jahren einen großen Altar, der sein Zimmer fast völlig füllte. Später bekam er Spielzeug-Messgerät und Messgewänder geschenkt. Dann schloss er jeden Morgen von zehn bis zwölf Uhr sein Zimmer ab, und wir durften nur leise an seinem Zimmer vorbeigehen, weil er „zelebrierte“. Mutter war das unheimlich und sie wollte einmal dabei sein. Er erlaubte das gnädigst. Mutter sagte mir dann: „Ich bin alle Sorgen los, ich habe erlebt, dass er mit tiefster Ehrfurcht dasteht und schließlich sagte: Mama, ich weiß doch, dass ich noch kein Priester bin. Der Heiland muss nicht zu mir kommen, ich bin noch kein Priester. Aber er könnte es doch, wenn er wollte.“ Das hat er durchgehalten sein ganzes Leben lang. Er ist ein guter Priester geworden. Die Leute in seinen Pfarreien sagten immer: „Dieser Pfarrer, der glaubt wirklich!“ Den Glauben meiner Eltern hatte er in sich, das war er.
Hesemann: Und von Ihren universitären Lehrern, wer war da der Prägende?
Der wichtigste war wahrscheinlich Michael Schmaus, der Dogmatik-Professor, der den späteren Kardinal Ratzinger zum Schüler hatte. Mit Prof. Schmaus habe ich alle meine philosophischen Probleme besprochen, obwohl er Dogmatiker war. Ich habe in Münster, München, Göttingen und in Freiburg studiert. Von München bin ich nach Göttingen zu Nicolai Hartmann, und von Nicolai Hartmann dann nach Freiburg zu Martin Heidegger gegangen.
Hesemann: Was war der entscheidende Impuls, den Schmaus Ihnen gegeben hat?
Ich habe gesehen, dass die Aporien (Probleme, MH) der griechischen Philosophie durch die katholischen Dogmen widerlegt wurden. Das war mein Weg. Und die Dogmen habe ich kennengelernt durch Prof. Schmaus.
Hesemann: Und wo haben Sie Gustav Siewerth kennengelernt?
Gustav Siewerth habe ich kennengelernt durch sein Buch „Der Thomismus als Identitätssystem“. Ich suchte den Übergang von Thomas von Aquin, der als der führende Theologe des Mittelalters gilt, zur modernen Philosophie, zu Hegel, der das Gegenteil sagt. Dieses Buch, „Der Thomismus als Identitätssystem“, war sehr verlockend für mich. Das war dann auch sehr praktisch, denn inzwischen hatte ich promoviert über die analogia entis, den Versuch, Vernunft und Glaube in ein definiertes Verhältnis zu bringen. Ich habe dann allen deutschen Bischöfen geschrieben: An der Universität fehle eine Vermittlung von Glaube und Vernunft!
In Frankfurt war ich nach dem Studium Assistentin vom Studentenpfarrer, weil ich dachte, die Studentengemeinde muss die Vermittlung zwischen Philosophie und Theologie leisten. Ich heftete an das Schwarze Brett vom Studium Generale in der Frankfurter Universität einen Zettel mit der Aufschrift: „Emanuel Kant: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Seminar in meiner Wohnung in Frankfurt“. Es kamen über zwanzig Assistenten aller Fachrichtungen der Frankfurter Uni in meine kleine Wohnung. Das war das Thema, das sie interessierte: „Religion mit Kant, innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft!“
Hesemann: Nach Frankfurt kam Freiburg. Und nach Kant kam Marx, oder?
Als ich Dozentin in Freiburg war, war es für mich das Wichtigste, Karl Marx zu widerlegen. Das habe ich getan und dann passierte folgendes. Im Hörsaal waren 300 Studenten. Philosophie mussten alle hören, die auch Lehramtskandidaten waren; jeder Gymnasiallehrer musste ein Philosophicum nachweisen. Ich habe Marx dann an seinen Texten widerlegt, aber die Studenten ließen sich das nicht gefallen. Als erstes wurde mein Mikrofon heruntergetrampelt und dann wurde ich mit dem Lasso abgeführt. Sie riefen: „Die muss gebubackt werden!“ Buback war der Generalbundesanwalt, der damals von der „Roten Armee Fraktion“, einer linken Terrorzelle, ermordet worden war. Mein Assistent sprang mir zur Seite mit dem Regenschirm und hat das Lasso immer von meinem Hals abgehalten. Ich wurde dann zum Rektor geschleppt und der Rektor war nicht bereit, mich zu verteidigen. Zum Glück kam es nicht zu meiner Erschießung, sie ließen mich wieder gehen, aber eine Vorlesung konnte ich danach nicht mehr halten, das war ausgeschlossen. Da blieb mir nur noch übrig, eine private Universität zu gründen, und so habe ich dann die Gustav-Siewerth-Akademie in meinen Häusern im Schwarzwald gegründet.
Hesemann: Welche Rolle spielte dabei Professor Ratzinger?
Ihn habe ich als Dozenten eingeladen. Wir haben viele, Gespräche geführt, auch kritische über Karl Rahner usw. So wurde er ein enger Freund unserer Akademie. Wir stehen heute noch in regelmäßigem Kontakt. Ich habe ihn zusammen mit unserem Rektor, Graf Brandenstein, in Rom besucht, er hat mir eine Reihe sehr schöner Briefe geschrieben in denen er mich bat, die Priesterausbildung in Deutschland in die richtigen Wege zu leiten. Denn das ist doch das Wichtigste für die Zukunft der Kirche: Dass wir gute, gläubige Priester bekommen.
Hesemann: Danke, Frau Prof. von Stockhausen!
© 2020 www.kath.net