Grazie, Santo!

18. Mai 2020 in Weltkirche


Erinnerungen an Johannes Paul II. - Von Arturo Mari, seinem Leibfotografen


Rom (kath.net) Der 16. Oktober 1978 war ein großer Tag, jener magische Augenblick, an dem Kardinal Karol Wojtyla zum Papst gewählt wurde und sich Johannes Paul II. nannte.

 

Mein Herz spielte in diesem Moment verrückt. Warum? Ich hatte das Glück, dass ich Seine Exzellenz, Monsignor Karol Wojtyla, Erzbischof von Krakau, noch aus den Tagen des Zweiten Vatikanischen Konzils kannte, rein beruflich natürlich. Schließlich stand ich seit 1957 als Fotograf im Dienst des Heiligen Stuhls. Damals nutzte ich die Gelegenheit, mit ihm über die akuten Probleme der polnischen Kirche unter dem damaligen Regime und andere Themen zu sprechen. In der persönlichen Begegnung begriff ich, welche innere Stärke von diesem Mann ausging, der mich mit seinen einfachen, aber kraftvollen Worten von seinem großen Intellekt und seiner tiefen Spiritualität überzeugte.

 

Die ersten Worte des Heiligen Vaters nach seiner Wahl lauteten „Gelobt sei Jesus Christus“; seit Jahren hatte ich diesen schönen Gruß nicht mehr gehört. Doch gleich darauf bat er: „Wenn ich etwas falsch mache, bitte korrigiert mich!“

 

Mit diesen Worten kam seine ganze Demut zum Ausdruck, weit mehr, als seine Unsicherheit, was die italienische Sprache betraf. Er machte uns allen klar, dass der Herr die Führung Seiner Kirche in die Hände von Menschen gelegt hat, die nun mal fehlbar sind, und so vertraute er darauf, dass andere Menschen ihm auf seinem künftigen Weg helfen würden. Seine Worte bei der Amtseinführung aber, „Fürchtet euch nicht! Reißt die Tore auf für Christus“, wurden für mich zum Motto seines Pontifikats.

 

Meine erste Begegnung mit ihm als Papst fand in der Sala Regia statt. Auf mein erstes Foto folgte eine Geste, die ich nie vergessen werde: seine Hand streifte väterlich über mein Gesicht und ein von Herzen kommendes Lächeln nahm mir alle Scheu. Von diesem Moment an durfte ich 27 Jahre lang in der Nähe eines Heiligen leben; eines Heiligen, der auf vielerlei Weisen, die meine Augen nicht erfassen und meine Ohren nicht vernehmen konnten, durch Worte und Taten, die ich oft bis heute nicht verstehe, sowie durch Augenblicke und Ereignisse, die man als wahre Wunder bezeichnen kann, mein Leben grundlegend veränderte: meine Art zu beten, meinen Respekt vor dem Nächsten, meine Demut.

 

Er nahm mich mit auf seine 104 Auslandsreisen sowie auf weitere 170 Reisen innerhalb Italiens und nie erlebte ich, dass er auf diesen Reisen auch nur einen Augenblick für sich selbst in Anspruch nahm, etwa um sich auszuruhen. Er gab alles, er verwendete seine ganze Kraft darauf, so viele Orte wie möglich zu besuchen, er scheute keine Mühe und keine Gefahren, wenn es darum ging, Menschen zu begegnen – gleich, ob es sich dabei um die Ärmsten oder die Großen dieser Welt handelte, ob im Norden oder im Süden, im Osten oder im Westen. Nie hat er sich gescheut, ein Problem beim Namen zu nennen, immer hat er das Leben verteidigt und die Achtung vor dem Menschen, der Familie, der Arbeit und der Freiheit des religiösen Bekenntnisses gefordert. Selbst vor den wichtigsten Weltorganisationen, etwa den Vereinten Nationen und oft genug im Namen jener, die nicht die Kraft oder den Mut hatten, selbst ihre Stimme zu erheben, plädierte er für die Menschenrechte und die Achtung vor dem Leben.

 

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch immer die Millionen von Menschen, die, gleich, in welchem Land der Erde, stets auf den Papst warteten und auf seinen Segen hofften. Ich höre noch immer seine Worte des Trostes, mit denen er ihnen den besten Weg zeigte, Frieden zu schaffen und ihr Leben in die Hände Christi zu legen. Ich werde nie die Momente vergessen, die mich damals wie heute am tiefsten berührten: Etwa als sich Johannes Paul II. beim Besuch einer Lepra-Kolonie zu den Kranken herunterbeugte, sie küsste, berührte, sie sogar säuberte – das waren für mich Augenblicke großer Kraft. In Afrika besuchten wir Krankenhäuser voller Kinder, die an AIDS erkrankt und dem Tode geweiht waren oder dem Hungertod nahe waren. Nie werde ich die Gesichter dieser Kinder vergessen, diesen Schimmer der Freude und Hoffnung in ihren traurigen Augen, ihr Elend, ihre aufgeblähten Bäuche. Ihnen wollte er nahe sein, sie wollte er trösten und gleichzeitig jene stärken, die im Namen der Göttlichen Barmherzigkeit dafür arbeiteten, dass sie vielleicht eine Zukunft haben, zumindest aber ihr Leiden gemindert wurde – all die Nonnen, Priester, Ärzte und Krankenschwestern, deren einziger Lohn oft ein dankbares Nicken oder ein freudiges Lächeln ist. In Afrika besuchte er selbst die entlegensten Hütten im Urwald, um im Gespräch mehr über die Menschen dort und ihre Probleme zu erfahren, um mit der Realität ihres Lebens in Kontakt zu kommen und zu sehen, wie man ihnen helfen kann. So führte sein Weg auch in verschiedene Gefängnisse der Welt, um den Häftlingen ein Wort des Friedens und des Trostes zu bringen, und oft genug sah ich danach Tränen in ihren Gesichtern. Immer waren es spontane Berührungen, war es das Lächeln des Papstes, die ihnen Mut, Hoffnung und Kraft gaben, ein besseres Leben zu beginnen und ihre Würde zu bewahren, gleich, welche Probleme sich ihnen in ihrer ganz speziellen Situation in den Weg stellten.

 

Indien, Kalkutta, Mutter Teresa, die Begegnung der beiden Heiligen und auch hier, in der Wärme des Mutterhauses der Missionarinnen der Nächstenliebe, das wir besichtigten, ein Schock, als „eine Begegnung“ angesetzt war und wir sahen, wie der Papst die Kranken fütterte, lange und ohne jede Eile bei ihnen blieb, die Hände dieser Ärmsten hielt, ohne auch nur ein einziges Mal zu fragen, welcher Religionsgemeinschaft oder Sekte sie angehörten – denn für den Papst waren sie alle Kinder Gottes. All dies geschah fernab von Europa und der westlichen Welt.

 

In seinem privaten Leben waren die bewegendsten und schönsten Momente, ihn in seiner Kapelle zu erleben, mit Jesus allein im Gebet, im Gespräch mit Christus. Die tägliche Feier der Heiligen Messe war für ihn der wichtigste Teil des Tages und ich werde nie den Ausdruck in seinem Gesicht vergessen, wenn er die Wandlung vollzog oder mit den Gläubigen den Kreuzweg betete und sich für Augenblicke mit dem Herrn vereinte – Erinnerungen, die tief in meinem Herzen eingeschlossen sind.

 

Wie könnte ich die Kinder vergessen, die er so sehr liebte, deren Hände er so gerne ergriff, die sich an ihn klammern und mit seinem Brustkreuz spielen durften oder staunend zu ihm aufblickten; wenn man ihm in einem solchen Augenblick in die Augen schaute, dann spürte man, wie glücklich er war.

 

Seine Freude waren die Jugendlichen, die Begegnungen mit Millionen von Menschen aller Völker, Kontinente und Rassen. Bei diesen Treffen ging es immer wieder um die gleichen Fragen: „Heiliger Vater, was wird aus meinem Leben, welchen Weg soll ich gehen?“, „Welchen Problemen werden wir auf unserem Weg durch das Leben begegnen?“, „Welche Gefahren drohen uns und wie sollen wir damit umgehen?“, „Welche Verantwortung haben wir als Väter oder Mütter, wie zeigen wir unseren Kindern den richtigen Weg?“, „Wie gehen wir mit all diesen Risiken unserer Zeit um, mit Drogen, Alkohol, der Abwendung von der Kirche?“ Da war er stets bereit mit seinem Charisma, dem Zeichen seiner Demut und Liebe, so vielen den richtigen Weg zu zeigen.

 

Ich werde aber auch nie seine vielen Begegnungen mit den Alten und Kranken vergessen, die tröstenden Worte, die er zu ihnen sprach, obwohl er oft der Krankeste war. Doch soviel er selbst auch litt, er beklagte sich nie und obwohl jeder wusste, wie stark seine Schmerzen sein mussten, hörte ich von ihm nie eine Klage.

 

Der ergreifendste und schwerste Moment in meinem Leben war jener, als es an der Zeit war, mich von ihm zu verabschieden. Acht Stunden vor seinem Tod rief mich sein Sekretär, Don Stanislao (wie wir ihn damals nannten; heute Kardinal Stanislaw Dziwisz, Erzbischof von Krakau), und so begab ich mich schnell in das Päpstliche Appartement. Dort gerade angekommen, wurde ich sofort in das Schlafzimmer des Heiligen Vaters geführt. Als ich vor seinem Bett stand und Don Stanislao ihm sagte: „Heiliger Vater, Arturo ist hier“, begannen meine Beine zu zittern, schien mein Kopf zu explodieren, überwältigten mich meine Gefühle, als er langsam seinen Kopf in meine Richtung drehte. Er war an keine Maschinen angeschlossen, doch auf seinem Kissen ruhte eine Sauerstoffmaske. Dann sah ich sein Gesicht, sein Lächeln, zwei Augen, die so strahlend leuchteten wie lange nicht mehr und fiel unwillkürlich vor ihm auf die Knie. In diesem Augenblick griffen seine Hände nach mir und streichelten mich zärtlich, wie die eines Vaters, der sich von seinem Sohn verabschiedet. Noch einmal segnete er mich, dann sagte er mit schwacher Stimme drei Worte: „Arturo, grazie, grazie“ (Arturo, danke, danke) und zauberte, bevor er sich auf die linke Seite drehte, ein Lächeln auf sein Gesicht, das ich nie mehr vergessen werde.

 

Das sind nur einige Gedanken, ein paar Notizen aus den vielen Erinnerungen, die ich in diesen 27 Jahren an seiner Seite sammeln konnte. Es gäbe so viele Geschichten zu erzählen, historische Fakten aufzuzählen, die ganze Bände füllen würden, doch ich denke, diese wenigen Eindrücke, die ich hier schilderte, machen verständlich, weshalb die Menge, die von ihm und seinen Worten berührt war und deren Leben er verändert hatte, Santo Subito auf Plakate und Spruchbänder schrieb, als sie von ihm Abschied nahm. Es war ihr spontaner Wunsch, ihn, der die Menschen so sehr geliebt und der ihnen so viel gegeben hat, zur Ehre der Altäre zu erheben.


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