Türkei: Wird die Hagia Sophia wieder zur Moschee?

20. Mai 2020 in Interview


Über die Hintergründe hat Christophe Lafontaine vom weltweiten päpstlichen Hilfswerk „Kirche in Not“ mit dem französischen Historiker und Türkei-Experten Etienne Copeaux gesprochen.


München (kath.net/KIN)

Die Hagia Sophia in Istanbul war einst das Zentrum des byzantinischen Christentums, bevor sie in eine Moschee und dann in ein Museum umgewandelt wurde. In dieser ehemaligen Kathedrale erklang Ende März erneut der Ruf des Muezzins zum Gebet. Dies war bereits das zweite Mal in der jüngeren Vergangenheit: 2016 war nach 85-jähriger Unterbrechung der islamische Gebetsruf in der Basilika zu hören.

 

Über die Hintergründe hat Christophe Lafontaine vom weltweiten päpstlichen Hilfswerk „Kirche in Not“ mit dem französischen Historiker und Türkei-Experten Etienne Copeaux gesprochen. Copeaux war unter anderem Mitarbeiter des Französischen Instituts für anatolische Studien in Istanbul und setzt sich in einem Blog mit den Entwicklungen in der Türkei auseinander.

 

Christophe Lafontaine: Wie ist die Forderung der Muslime zu erklären, in der Hagia Sophia zu beten?

 

Etienne Copeaux: Die Forderung ist bereits seit den Feierlichkeiten zur 500. Jahrestag der Einnahme von Konstantinopel im Jahr 1953 stark gegenwärtig. Anlässlich der Einnahme der Stadt im Jahr 1453 feierte der Sultan den Sieg in der Hagia Sophia und wandelte diese in eine Moschee um. Diese Geste machte die Basilika zu einem Symbol des Islam. Atatürk, der Gründer und erste Präsident der türkischen Republik, hat 1934 entschieden, die Hagia Sophia zu säkularisieren und sie in ein Museum zu umzuwandeln.

 

Stellt die Frage des muslimischen Gebetes in der Hagia Sophia eine Zurückweisung der von Atatürk gewollten Laizität dar?

 

Etienne Copeaux: Das Gedenken im Jahr 1953 fand in einer anti-laizistischen Periode statt, unter der Regierung von Adnan Menderes, der erklärte: „Die türkische Nation ist muslimisch.“ Diese Aussage wurde zum Lieblingsslogan der extremen Rechten in der Türkei.

 

Als der politische Islam von 1996 bis 1997 wieder an die Macht kam, versprach Premierminister Necmettin Erbakan, die Basilika dem Islam zurückzugeben. Er blieb nicht lange genug an der Macht, um diesen Plan zu verwirklichen. Zur selben Zeit war Recep Tayyip Erdogan Bürgermeister von Istanbul und formulierte dieselben Absichten. Doch er wurde 1998 durch die Armee abgesetzt und sogar wegen „Verletzung der Laizität“ inhaftiert.

 

2018 rezitierte Präsident Erdogan Koranverse in der Hagia Sophia und erklärte im März 2019, er wolle sie wieder in eine Moschee umwandeln. Steht der erneute Gebetsruf vom März dieses Jahres damit im Zusammenhang?

 

Etienne Copeaux: Ich meine, dass viele Maßnahmen, die Erdogan seit 2002 getroffen hat, zum einen ein politisches Ziel haben, das 50 Jahre zurückreicht, und zum anderen als eine Rache für die Verletzung angesehen werden können, die ihm seine Absetzung 1998 zugefügt hat. So ist auch das Gebet vom vergangenen März in meinen Augen ein (für den Augenblick) bescheidenes Ergebnis eines langen Prozesses. Vor allem darf man das Regime von Erdogan nicht als einen Bruch betrachten, sondern es ist Teil einer langen national-islamischen Geschichte.

 

Wie können die Christen in der Türkei reagieren?

 

Etienne Copeaux: Die Christen in der Türkei, und vor allem die orthodoxe Bevölkerung, deren größter Teil 1914, 1955 und 1964 in Wellen ausgewiesen wurde, ist angesichts des von ihnen Erlebten extrem zurückhaltend. Die Reaktionen der Orthodoxie können in der Türkei nur über den offiziellen Weg des Ökumenischen Patriarchates von Konstantinopel laufen. Aber der Erfahrung nach sind die Treffen zwischen dem Patriarchen und den türkischen Behörden oft sehr diplomatisch. Wird die griechische und russische Orthodoxie passiv bleiben, wenn die Basilika wie im Jahr 1453 der muslimischen Religionsausübung überlassen werden sollte? Angesichts des komplizierten Kontextes der Beziehungen mit Russland aufgrund des Syrienkonflikts ist das ziemlich unwahrscheinlich.

 

Foto: (c) pixabay


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