Pius XII., der Vatikan und der neue Kulturkampf gegen die Kirche

21. Mai 2020 in Kommentar


Wie die ARD ihr Publikum belügt und Tatsachen verschweigt - Gastkommentar von Michael Hesemann


Düsseldorf (kath.net)

 

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt“, heißt es in Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, das in diesen Tagen 71 Jahre alt wird. Es ist tatsächlich schon ein wenig in die Jahre gekommen. Das mag erklären, weshalb es von der Politik und den Medien immer weniger beachtet wird. Manchmal wird es so sträflich vernachlässigt, als stünde es schon in der Rumpelkammer der Geschichte.

 

Deutschland entwickelt sich immer mehr zu einer Meinungs- und Gesinnungsdiktatur. Der öffentliche Diskurs wird ausgeschaltet, die öffentliche Meinung gleichgeschaltet. Alternative Sichtweisen, und seinen sie noch so gut begründet, werden bestenfalls ignoriert, oft auch dämonisiert. Wer sie vertritt, gilt dann als „Ewiggestriger“, „Rechter“ oder „Verschwörungstheoretiker“. Solche Etikettierungen sollen dem Mainstream signalisieren, dass man sich mit Vertretern dieser oder jener ungeliebten Meinung am besten gar nicht erst einlässt, da ansonsten die gesellschaftliche Stigmatisierung droht. In den meisten Fällen aber bedarf es nicht einmal einer solchen Diffamierung. Es ist einfacher und effizienter, die unerwünschte Stimme einfach totzuschweigen.

 

Das gilt nicht nur für „Klimaleugner“ und „Impfgegner“, „islamophobe“ oder gar „homophobe“ Positionen, sondern auch für solche, die eigentlich gut katholisch sind oder zumindest sein müssten. Denn die Kirche Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. ist in Deutschland längst zum Feindbild geworden. Das wird zwar nie offen zugegeben, aber Handlungen sagen mehr als Worte. Die Kirche hat jetzt zeitgeistkonform und weltoffen zu sein, hat sich mit der Gesellschaft zu ändern, soll sich gefälligst anpassen. Die Kirche der alten, weißen Männer hat ausgedient. Man braucht bestenfalls Seelsorgedienstleister/innen aus der Mitte des Lebens, die „neue Werte“ predigen, also dem zeitgeistkonformen Relativismus huldigen: Ja zu Klimaschutz und Flüchtlingshilfe, Toleranz und sexueller Vielfalt. Nein zu „alten Hüten“ wie Zölibat, Keuschheit, Tradition und Lehramtstreue. Um die Kirche geschmeidig zu halten und die vom sanften „Hardliner“ Benedikt XVI. geforderte „Entweltlichung“ zu verhindern, wird die Kirche nicht nur finanziell abhängig gemacht, so unter dem Motto „wes Brot ich ess, des Lied ich sing“.

 

Man oktroyiert ihr auch einen massiven Schuldkomplex auf; die Skandalisierung der tragischen Missbrauchsfälle reichte dazu längst nicht aus. Dadurch, dass unbequeme Bischöfe verleumdet und diffamiert werden, dass man so lange Rufmord betreibt, bis sie ihre Kathedra verlassen und bestenfalls außer Landes fliehen müssen, wurde ein Klima der Angst erzeugt, denn es kann plötzlich jeden Amts- und Würdenträger treffen. Der „Protzbischof“ von Limburg ist in Wirklichkeit ein bescheidener, ja demütiger Asket, der „Prügelbischof“ von Augsburg lammfromm. Doch die Wahrheit schützt vor medialer Prügel nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis eine medial inszenierte Welle der geheuchelten Empörung den nächsten Unschuldigen trifft. Man wird auch weiterhin alles daran setzen, das Vertrauen der Gläubigen in ihre Kirche zu erschüttern. Was am besten dadurch gelingt, dass man sie moralisch disqualifiziert. Und das geschieht in Deutschland am wirkungsvollsten, wenn man ihr eine Nähe zu den deutschen Verbrechen der Vergangenheit, zu den Nazis unterstellt.

 

DIE KIRCHE KÄMPFTE GEGEN HITLER UND HITLER GEGEN DIE KIRCHE

 

Natürlich ist das ebenso perfide wie historisch unhaltbar. Zwischen 1929 und 1931 hat ein deutsches Bistum nach dem anderen NSDAP-Mitgliedern die Sakramente verweigert, unter lautstarkem Beifall aus Rom. Der Nationalsozialismus sei „die gefährlichste Häresie unserer Zeit“, hieß es, seine Ideologie unvereinbar mit dem katholischen Glauben. Als Hitler an die Macht kam, herrschte nackte Panik im Klerus, bis es dem Vatikan gelang, durch ein Konkordat zumindest die Fortexistenz der Kirche im Dritten Reich zu sichern. Die zahlreichen Schikanen und direkten Angriffe der Nazis nötigten den Vatikan jeden Monat zu offenen Protesten und seitenlangen Auflistungen der Konkordatsverletzungen. 1937 versuchte Papst Pius XI., die Konsolidierung von Hitlers Macht durch seine Enzyklika „Mit brennender Sorge“ zu verhindern, der heftigsten Verurteilung eines Regimes und seiner Ideologie in der jüngeren Kirchengeschichte. Zehntausende mutiger Priester hatten Kopien in ihren Tabernakeln versteckt, um sie am Palmsonntag zu verlesen.

 

Als Reaktion beschlagnahmten die Nazis die kirchlichen Druckereien, lösten eine Lawine von Missbrauchsprozessen aus und unterstellten der Kirche Devisenvergehen. Als sich mutige Kleriker in der Kristallnacht auf die Seite der Juden stellten, zerschlugen Demonstranten am nächsten Tag auch die Scheiben bischöflicher Residenzen. Schließlich wurden fast 2800 katholische Priester in Konzentrationslager verschleppt, während Hitler für den Tag seines Endsiegs die Verhaftung und Hinrichtung der unbequemen Bischöfe plante. Während der neunmonatigen deutschen Besetzung Roms befahl er, auch den Vatikan zu stürmen und Papst Pius XII. zu verhaften, sollte dieser offen gegen die Ermordung der Juden protestieren. Nach Kriegsende war der Papst sich sicher, gegen „satanische Mächte“ gekämpft zu haben, und sagte dies offen. Das sind die historischen Fakten, das alles ist nachprüfbar.

 

2004 verfasste ich mein Buch „Hitlers Religion“, das minutiös den Wurzeln der NS-Ideologie auf den Grund ging und diese in neognostischen, neuheidnischen und okkulten Geheimlehren des 19. Jahrhunderts und antichristlichen Philosophien wie dem Sozialdarwinismus und der postmodernen Übermenschen-Lehre Friedrich Nietzsches verortete. Gemein haben sie alle ihre radikale Ablehnung des jüdisch-christlichen Welt- und Menschenbildes, und so erstaunte kaum, dass auch Hitler in seinen frühen Reden gleichermaßen gegen „Juden und Jesuiten“ wetterte. Erst als er auch bürgerliche Wähler zu gewinnen versuchte, mäßigte er seine Rhetorik und forderte stattdessen ein „positives Christentum“, befreit von der „jüdischen Mitleidsethik“. Ein Großteil der Protestanten wählte ihn daraufhin, die Katholiken blieben skeptisch und verweigerten ihm in der Mehrheit ihre Stimme. Erst 1938 wurde wieder offen Stimmung gegen „die Juden und ihre schwarzen und roten Bundesgenossen“ gemacht.

 

Das Buch erschien im Pattloch-Verlag, der damals zur Droemer-Weltbild-Gruppe gehörte, und wurde einer meiner größten Bestseller. Innerhalb von zwei Monaten war die Erstauflage von 30.000 Exemplaren (wie man mir damals sagte; in der Abrechnung war später „nur“ von 25.000 die Rede) verkauft, stand das Buch auf Platz 8 der SPIEGEL-Bestsellerliste. In einem solchen Fall wird der Autor gewöhnlich von seinem Verleger zum Champagnerfrühstück geladen, während man schleunigst die 2. Auflage ausliefert, solange noch das Weihnachtsgeschäft läuft. Nicht so in meinem Fall. „Hitlers Religion“ wurde als „vergriffen“ gemeldet, eine Neuauflage war nicht geplant, im Gegenteil: man signalisierte mir, dass man die Zusammenarbeit beenden wolle.

 

Was war geschehen? Kein einziger Rezensent konnte mir einen Fehler nachweisen oder stellte meine Recherchen infrage. Ich hatte jede Behauptung, jedes Zitat mit einer Fußnote ausgewiesen und damit nachprüfbar gemacht. Viele Leser, auch erfahrene Historiker, waren geradezu begeistert. Ich hatte sauber gearbeitet, ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Doch weshalb hat mein Verlag einen seiner erfolgreichsten Titel so schnell wieder eingestellt, statt ihn nachzudrucken und mit ihm gutes Geld zu verdienen?

 

Erst Jahre später erfuhr ich, was geschehen war. Beim Geschäftsführer der Droemer-Weltbild-Gruppe hatte das Telefon geklingelt. Am anderen Ende der Leitung war eine Persönlichkeit aus dem politischen Berlin, man verriet mir nie ihren Namen. „Wie können Sie nur einen solchen Titel verlegen?“, herrschte sie meinen Verleger an, „Dieses Buch exkulpiert ja die katholische Kirche! Dabei wissen wir doch alle, dass die Kirche mit Hitler gemeinsame Sache machte…“

 

Mein Fehler war also nicht, schlecht oder falsch recherchiert zu haben. Ich hatte lediglich gegen einen gesellschaftlichen Konsens, ein Dogma der Berliner Republik, verstoßen. „Sie machen einen Fehler“, hatte mir derselbe Verleger schon auf der Frankfurter Buchmesse erklärt, „sie verteidigen immer die Kirche. Damit werden Sie nie erfolgreich sein. Schreiben Sie doch mal ein Buch gegen die Kirche.“ „Lieber Herr Doktor“, erwiderte ich, „ich habe ein Problem. Ich habe zuhause einen Spiegel hängen. Und da muss ich morgens hineinschauen, ohne dass mir schlecht wird.“ „Dann werden Sie nie Geld verdienen!“, prophezeite er mir. Und, siehe da, er sollte recht behalten. Habe ich erwähnt, dass der Hauptanteilseigner des Droemer-Weltbild-Konzerns damals … die DBK war?

 

DIE ARD UND EIN WOLF IM VATIKANARCHIV

 

Heute erlebte ich eine ähnliche Situation, die meine Sorge um die Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland zu bestätigen scheint. Am 2. März war ich einer von 25 Historikern, die erstmals Zugang zu den Akten Pius XII. im vatikanischen Geheimarchiv bekamen. Genau fünf Tage lang konnten wir die Aktenbestände durchforschen, dann wurden die Archive wegen der Coronakrise wieder geschlossen. Außer mir war auch ein siebenköpfiges Team angereist, das unter Leitung des Münsteraner Kirchengeschichtlers Prof. Hubert Wolf stand. Wolf hatte schon im Vorfeld gefordert, den Seligsprechungsprozess Pius XII. zu stoppen, bis er und sein Team die 15 Millionen freigegebenen Seiten nach kompromittierendem Material durchforscht hätten. Schon diese Forderung war anmaßend und unverschämt, denn der Seligsprechungsprozess ist seit elf Jahren abgeschlossen.

 

Damals, im Dezember 2009, promulgierte Papst Benedikt XVI., der einstimmigen Empfehlung der Kongregation für Selig- und Heiligsprechungen folgend, den „heroischen Tugendgrad“ des Weltkriegspapstes; seitdem muss nur noch ein durch seine Anrufung bewirktes Wunder wissenschaftlich beglaubigt werden. Trotzdem (oder gerade deshalb) wurde Wolfs Suche in Rom nicht nur von der Bohlen-und-Halbach-Stiftung, sondern auch von der DBK mit EUR 50.000,-- finanziert. Gleich am ersten Tag im Archiv, am 2. März, vermeldete der umtriebige Professor seine erste „Entdeckung“ im „Focus“: Drei Fotos im Archiv der Nuntiatur in Bern würden beweisen, dass Pius XII. besser über den Holocaust informiert sei, als man bisher geglaubt hätte. Tatsächlich blieben die Bilder damals in Bern und haben erst zehn Jahre später, mit der Abberufung des Nuntius Bernardini, ihren Weg nach Rom genommen. Der Papst hat sie mit Sicherheit nie zu Augen bekommen.

 

Am Nachmittag des 2. März war ich mit Pater Prof. Dr. Peter Gumpel SJ verabredet, meinem väterlichen Freund und Lehrer, der als „Relator“ (Untersuchungsrichter) den Seligsprechungsprozess Pius XII. geleitet hatte und als weltbester Kenner seines Pontifikats gilt. Pater Gumpel erzählte mir, dass er am Donnerstag von einem TV-Team des Bayerischen Rundfunks zur Archivöffnung interviewt werden sollte und fragte mich, ob ich denn auch für ein Interview zur Verfügung stünde. Dazu war ich gerne bereit und hinterließ gleich ein Exemplar meines Buches „Der Papst und der Holocaust“ zur vorbereitenden Lektüre. Tatsächlich rief mich der Produzent, Dr. Luigi Perotti, am nächsten Tag an und bat mich um ein Interview. Am Samstag trafen wir uns zum Vorgespräch, am Dienstag, dem 10. März, am späten Nachmittag wollte er mich interviewen.

 

Obwohl die Archive aufgrund der Corona-Pandemie bereits am Freitag geschlossen hatten, obwohl im ganzen Land der totale Lockdown drohte und ab Montag auch die Restaurants schlossen, meine Versorgung also schwierig wurde, blieb ich in Rom. Wenn der 96jährige Pater Gumpel buchstäblich sein Leben riskierte und inmitten der Pandemie ein sechsköpfiges Fernsehteam empfing, würde ich ganz bestimmt nicht wegen einiger Unbequemlichkeiten das Feld räumen. Eigentlich hatte Perotti mich in einer Bibliothek interviewen wollen, aber wegen des Lockdowns blieb nur ein Filmstudio in Prati übrig, wo das Interview in freundlich-professioneller Atmosphäre stattfinden konnte. Nach gut einer Stunde wurde ich in die römische Nacht entlassen, um mich ziemlich hungrig auf den Weg in meine Wohnung zu machen. Die Wahrheit über Pius XII. ist mir jedes Opfer wert.

 

„DAS GEHEIMNIS DER AKTEN“ UND DIE FORTSETZUNG DER SCHWARZEN LEGENDE

 

Umso erstaunter war ich, als die damals gedrehte Dokumentation „Das Geheimnis der Akten“ am 18. Mai um 23.55 Uhr im ARD-Nachtprogramm gezeigt wurde. Denn statt das ganze Spektrum der Meinungen und Forschungen aufzuzeigen, hatte sich die BR-Redaktion offenbar entschieden, Prof. Wolf praktisch im Endlos-Monolog zu zeigen. Pater Gumpel durfte gerade noch von seinen persönlichen Begegnungen mit Pius XII. erzählen, mein italienischer Kollege Prof. Luigi Napolitano, der mir am 10. März praktisch die Klinke in die Hand gegeben hatte, wurde ganze drei Mal eingeblendet. Die Absicht dahinter war unverkennbar: Man wollte die „schwarze Legende“ über Pius XII., der zum Holocaust geschwiegen habe, zementieren und Wolf zum alleinigen, unfehlbaren Interpreten seines Pontifikats küren. Dieser Deutungshoheit hätte ich im Wege gestanden, also wurde ich kurzerhand zensiert, verschwiegen und vertuscht.

 

Das Narrativ der ARD-Dokumentation war eindeutig: Papst Franziskus habe entschieden, nicht nur Finanz- und Mißbrauchsskandale der Kirche aufzuarbeiten, sondern auch die Archive zu diesem dunkelsten Kapitel der Kirchengeschichte zu öffnen, „auch wenn unbequeme Wahrheiten ans Licht kommen könnten“ und Wolf habe eben diese jetzt entdeckt: „Wir kannten die Anklagen durch Rolf Hochhuth, doch es war alles noch viel schlimmer.“ So klang das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland wie ein antikirchlicher Propagandakanal.

 

Kein Wort davon, dass es in Wirklichkeit Benedikt XVI. war, der schon 2006 die Öffnung der Archive anordnete, was freilich seine Zeit dauerte, da 15 Millionen Seiten erst einmal katalogisiert und inventarisiert werden mussten. Kein Wort davon, dass Hochhuths Fakenews-Kampagne ein Werk des sowjetischen Geheimdienstes KGB war, mit dem Ziel, den Pius XII-Vertrauten Montini als nächsten Papst zu verhindern. Kein Wort auch davon, dass wir bereits durch die 5500 im Auftrag Pauls VI. veröffentlichen Dokumente ein ziemlich genaues Bild der historischen Umstände haben, wie ich sie in meinem 2018 erschienenen Buch „Der Papst und der Holocaust“ sehr viel differenzierter darstelle als Wolf in seiner an den Haaren herbeigezogenen Polemik.

 

So blieb der Professor aus Münster, der zuletzt als unermüdlicher Streiter gegen den Zölibat aufgefallen war, unwidersprochen, wenn er Unwahrheiten über Pius XII. in die Welt setzte wie diese:

 

Wolf: „(Nuntius Pacelli) sieht Hitler in der Zeit (der 1920er Jahre) nicht als die große Gefahr“.

 

Wahr ist: Tatsächlich berichtete Pacelli schon 1923 vom „antikatholischen Charakter des Nazi-Aufstandes“ und bezeichnete den Nationalsozialismus zwei Jahre später als „die gefährlichste Irrlehre unserer Zeit“. Unterschätzen klingt anders.

 

Wolf: „Der erste internationale Vertrag, den Hitler macht, ist der Vertrag mit dem Heiligen Stuhl.“

 

Wahr ist: Das Reichskonkordat wurde am 30. Juli 1933 unterzeichnet, also exakt zwei Wochen später als der Viermächte-Pakt zwischen Frankreich, England, Italien und dem Reich vom 15. Juli 1933.

 

Wolf: Als die USA dem Papst im September 1942 einen Bericht der Jewish Agency vorlegten, der erstmals die Existenz von Todeslagern erwähnte, habe der Vatikan zwei Berichte vorliegen gehabt, die „genau diese Dinge, die die jüdische Organisation beim Namen nennt, bestätigen“ – und das bewusst den Amerikanern verschwiegen.

 

Wahr ist: In den beiden fraglichen Dokumenten, dem Brief des ukrainisch-katholischen Erzbischofs von Lemberg, Andrej Szeptyzkyj, und einem Bericht des italienischen Handelsreisenden Graf Malvezzi werden zwar die Massaker der Nazis an den Juden in den Ostgebieten erwähnt – von Todeslagern ist darin aber nicht die Rede.  

 

Wolf behauptet: Ein Sachbearbeiter des vatikanischen Staatssekretariats, Msgr. Dell’Acqua, habe in einer Aktennotiz diese Berichte „lächerlich“ gemacht: „Kann man Juden glauben? Sie übertreiben doch immer.“

 

Wahr ist, dass Msgr. Dell’Acqua etwas ganz anderes schrieb, nämlich: „Die Informationen im Schreiben von Sonderbotschafter Taylor sind schwerwiegend, daran besteht kein Zweifel. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass sie der Wahrheit entsprechen, da es auch unter Juden leicht zu Übertreibungen kommen kann.“ Das ist eine durchaus kluge Mahnung zu einem vorsichtigen Umgang mit Quellen, die sich auch deutsche Professoren zu Herzen nehmen sollten. Denn tatsächlich beinhaltete der Bericht der „Jewish Agency“ zahlreiche Übertreibungen, von der Behauptung, es sei (im September 1942, wohlbemerkt) in ganz Ostpolen und der Ukraine „kein einziger Jude mehr am Leben“ bis hin zu „Die Leichen der Ermordeten werden von den Deutschen zu Fett verarbeitet, die Knochen als Düngemittel verwendet.“

 

Dass Wolf sich durch seinen Sensationalismus in Fachkreisen unglaubwürdig gemacht hat, ja mancherorts bereits mit dem Scharlatan John Cornwell („Hitlers Papst“) verglichen wird, ist sein Problem. Doch was veranlasst das öffentlich-rechtliche Fernsehen, einer ziemlich einseitigen Stimme und ihren ziemlich fragwürdigen, manchmal sogar nachweisbar unwahren Behauptungen allein Gehör zu schenken und alle Gegenstimmen totzuschweigen? Unwissenheit kann nicht der Grund gewesen sein; mein Interview, ja sogar mein Buch lagen der Redaktion bekanntlich vor.

 

So kommt der schale Beigeschmack auf, dass es auch hier nicht um historische Wahrheitsfindung ging, sondern nach wie vor um eine politische Agenda in einem neuen Kulturkampf. Die Kirche darf nicht durch Fakten exkulpiert werden, ja als einzige ernsthafte Gegnerin des Nationalsozialismus und damit als Licht in der Finsternis erscheinen, denn das hieße, dass sie im Recht und die Welt, der Zeitgeist, im Unrecht waren. Deshalb muss sie um jeden Preis als schuldbeladen und vorbelastet dargestellt werden. Nur dann ist sie so schwach, so handzahm, wie die Politik sie gerne hätte. Kein Hindernis mehr bei der großen Umwertung der Werte, beim Aufbau einer globalen Gesellschaft, deren Paradigmen vielleicht die der französischen Revolution und der Aufklärung, nie aber die des Katechismus sind. Sie darf allenfalls geduldet, zum Seelsorgedienstleister degradiert werden, ganz ohne jede Systemrelevanz, verpflichtet dem humanistischen Zeitgeist, bloß nicht dem göttlichem Heiligen Geist. Doch müssen wir Katholiken uns das wirklich gefallen lassen?


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