„Rassismus ist ein direkter Widerspruch zu Gott“

9. Juni 2020 in Aktuelles


Kardinal Gerhard Ludwig Müller: „Ich bete und hoffe, dass gläubige und engagierte Christen in keiner Weise sich vom Rassismus verführen lassen.“ kath.net-Interview zum gewaltsamen Tod von George Floyd und den folgenden Unruhen. Von Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net) Der am 25. Mai 2020 von Polizisten verursachte gewaltsame Tod des Afro-Amerikaners George Floyd wirft die entscheidende Frage bezüglich der Geltung von Menschenrechten auf – die aus dem Staatsverständnis hervorgehende Frage, ob die Menschenrechte, deren unterschiedslose Geltung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte seitens der UNO im Jahre 1948 festgeschrieben worden ist, wirklich für alle Menschen – gerade auch in den Vereinigten Staaten – gelten. Zweifel sinderlaubt, wenn wir uns die immer wieder auftretende Gewalt gegenüber dem afro-amerikanischen Teil der Bevölkerung in den USA vor Augen führen. Zu diesen juristischen, aber vor allen Dingen theologischen Fragen haben wir den ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, befragt.

 

Rilinger: Ist nach Ihren Kenntnissen die Rassentrennung in den USA erfolgreich überwunden worden?

 

Kardinal Müller: Es ist ein großer Unterschied, ob die Menschen aller Hautfarben gleiche Rechte nur vor dem Gesetz oder auch in der Mentalität der Mehrheit und der tonangebenden Kreise haben. Es ist bekannt, dass in weiten Teilen der US-Gesellschaft das gute Zusammenleben der Bürger afrikanischer und europäischer Herkunft nicht ohne Spannungen abläuft. Allerdings gibt es auch Millionen, die sich um ein gutes Miteinander ehrlich und erfolgreich bemühen. Ich habe vor kurzem die tief beeindruckende Lebensgeschichte des ehemaligen Sklaven Augustus Tolton (1854-1897) von Harold Burke-Sivers (EWTN-Publishing 2018) gelesen. Trotz aller Hindernisse wurde der junge Tolton schließlich katholischer Priester, doch er musste auch in der Kirche mit vielen Vorurteilen kämpfen. Die Kirche ist durch Gottes Geist pfingstlich zusammengerufen aus den Menschen aller Sprachen und Kulturen. Aber dennoch müssen auch die Christen in ihren Köpfen und Herzen die überlieferten Vorurteile, die sie über die Erziehung und vorherrschende Mentalität einatmen, überwinden. Denn durch den Glauben und die Taufe sind alle trennenden Unterschiede aufgehoben. „Wir sind einer in Christus" (Galater 3, 28). Rassismus ist nicht nur ein intellektueller und moralischer Defekt, sondern auch eine schwere Sünde und damit ein direkter Widerspruch zu Gott, der uns alle in seine väterliche Liebe einschließt und uns zu Brüdern und Schwestern macht.

 

Rilinger: Haben die Afro-Amerikaner die gleichen Rechte wie die Weißen?

 

Kard. Müller: Die müssen sie haben, wenn die amerikanische Verfassung auf den in der Würde eines jeden Menschen begründeten Grundrechten basieren soll.

 

Rilinger: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Polizeigewalt gegenüber Afro-Amerikanern und der Negierung von Menschenrechten?

 

Kard. Müller: Theoretisch wird wohl kaum jemand in Amerika die Geltung der Menschenrechte für alle Personen in Frage stellen. Es geht aber um die Entwicklung eines Bewusstseins der Zusammengehörigkeit und Solidarität im ganzen Land, in den einzelnen Staaten sowie in den Städten und Gemeinden. Hier kann sich Amerika auf seine Wurzeln besinnen. Ursprünglich kamen die verfolgten dissenters aus England, dann im 19. Jahrhundert die Freiheitskämpfer aus Polen und Italien und danach die Auswanderer aus anderen europäischen Ländern. Sie alle suchten in Amerika eine würdige Existenz. Dass die Afroamerikaner von den „Sklaven“ abstammen, die durch furchtbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Nordamerika verschleppt wurden, ist eine Narbe, die unter Belastung wieder aufbrechen kann. Hier ist viel zu beten und zu tun im Blick auf eine Tiefenversöhnung. Gerade die überzeugten Christen sollten hier mit gutem Beispiel vorangehen. Rassistische Vorurteile, die es auch viceversa gibt, muss jeder aus seinem Herzen wie die sieben Wurzelsünden: Stolz, Neid, Habsucht, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, träger Überdruss ausreißen.

 

Rilinger: In der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ist festgestellt worden, dass durch den Allgemeinen Willen zugeteilt wird, wem Menschenrechte zustehen, so dass dann in einem Gesellschaftsvertag die Rechtszuteilung festgeschrieben wurde. Können Sie sich eine derartige Rechtsbegründung der Menschenrechte für allgemeinverbindlich vorstellen?

 

Kard. Müller: Der Bezug auf den Gesellschaftsvertrag und die Unterscheidung der volonté générale und der volonté de tous sind zu sehr an die spezifische Theorie von Rousseau gebunden als dass sie die Grundlage einer modernen Verfassung sein könnten. Es muss das Jakobinertum mit dem Tugendterror von vornherein ausgeschaltet sein. Die deutsche Verfassung beruht auf der unveräußerlichen Würde jedes Menschen und seiner Rechte, die in seiner Natur liegen, so dass alle staatliche Gesetzgebung hier ihr Maß und ihre Grenze vorfindet. Dahinter steht die furchtbare Erfahrung mit dem totalitären Willkürstaat, der vom Rechtspositivismus nicht aufgehalten werden konnte. Eine Verfassung kann nicht allein auf die wissenschaftliche Kompetenz von Juristen aufgebaut sein, sondern muss auch aus den positiven und negativen geschichtlichen Erfahrungen Lehren ziehen, ohne dabei das philosophische und theologische Menschenbild zu vergessen.

 

Rilinger: Können Menschenrechte durch Menschen, also durch den Staat oder durch die Partei, zugewiesen werden?

 

Kard. Müller: Wenn alle Menschen gleich sind der Würde nach und in der Gleichbehandlung vor dem Gesetz, kann unmöglich ein Mensch das Maß des andern Menschen sein. Historisch gesehen, stammt diese Vorstellung aus dem Missbrauch von Macht, die den legitimen Vertretern des Volkes immer zum Gemeinwohl und nicht zum Eigennutz anvertraut wurde.

 

In der Kirche ist den Aposteln und den Nachfolgern im Bischofs- und Priesteramt keine Macht über andere übergeben worden, sondern die geistliche Vollmacht, das Wort Gottes zu verkünden, die Sakramente der Gnade zu feiern und das Volk Gottes zu leiten wie der gute Hirte, der sein Leben hingibt für die Schafe und Lämmer Christi.

 

Rilinger: Wenn Sie die Zuteilung der Menschenrechte durch Menschen ablehnen, muss dann nicht die Geltung der Menschenrechte dadurch angenommen werden, dass jeder Mensch als imago Dei, als Ebenbild Gottes, anzusehen ist, so dass alle Menschen gleich sind und dass deshalb ausnahmslos alle Menschen Inhaber der Menschenrechte sind?

 

Kard. Müller: Die Gottesebenbildlichkeit seit unserer Erschaffung und die Gotteskindschaft, die uns durch die Taufe geschenkt wird, sind für uns Christen die Grundlagen der Menschenrechte, die in die Liebe Gottes zu jedem Menschen hineinreichen. Es gibt aber auch viele Menschen anderen religiösen Glaubens oder Agnostikern, die von der Existenz Gottes nicht überzeugt sind oder nicht an ihn glauben im Sinne des jüdischen und christlichen Bekenntnisses. Sie müssten aber im Sinne des Philosophen Immanuel Kant zu der Einsicht kommen, dass eine Gesellschaft ihr Ziel, nämlich das Handeln aller nach dem Moralgesetz (kategorischer Imperativ), nur erreichen kann, wenn der andere Mensch nicht Selbstzweck ist. Niemals darf ein Mensch Mittel zum Zweck sein.

 

Rilinger: Wenn also jeder Mensch Inhaber von Menschenrechten ist, stellt sich uns die Frage, warum eine Bevölkerungsgruppe schlechter als die anderen behandelt wird. Werden Afro-Amerikaner nicht in jedem Fall als Inhaber von Menschenrechten angesehen?

 

Kard. Müller: Die Verantwortlichen in der Politik, im Erziehungswesen und in der Bildung der öffentlichen Meinung müssen gemeinsam alles tun, um ein Klima der wechselseitigen Achtung vorzubereiten. Erzwingen kann man eine sittliche Haltung nicht. Propagandawellen und Gehirnwäsche mitDenk- und Sprechverboten, also mainstreaming zur political correctness, sind meist wirkungslos oder rufen die gegenteilige Wirkung hervor. Es geht darum, die Menschen zu überzeugen – am besten durch Vorbilder und das Anknüpfen von Freundschaften. Die Kirche, Priester, Ordensleute und Laien, muss beispielhaft vorangehen.

 

Rilinger: Sehen Sie in der partiellen Negierung der Menschenrechte einen Zusammenhang mit der späten Abschaffung der Sklaverei?

 

Kard. Müller: Der Skandal war die Einführung der Sklaverei in Ländern christlicher Tradition, die sich später auf die Aufklärung so viel einbildeten. Doch erst viele Jahrzehnte nach der amerikanischen Verfassung wurde im Jahre 1865 das Verbrechen der Versklavung von Menschen verboten. Auch im russischen Zarenreich ist die Leibeigenschaft erst 1861 abgeschafft worden, ohne dass es in der Folge zur echten Gleichbehandlung der entwürdigten und geknechteten bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit kam. Aber schauen wir auf den rassistischen Sozialdarwinismus im hochzivilisierten Deutschland zwischen 1933 und 1945, dann wissen wir zu welchen Exzessen falsches und unmoralisches Denken führt. „Denn aus dem Herzen kommen die bösen Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Lästerungen." (Mt, 15, 19)

 

Rilinger: Die Vereinigten Staaten gelten noch als ein christlich geprägtes Land. Gleichwohl können wir Diskriminierungen der schwarzen Bevölkerung feststellen. Was sind nach Ihrer Auffassung die Gründe für die teilweise schlechtere Behandlung und Diskriminierung der afro-amerikanischen Bevölkerung?

 

Kard. Müller: Ich bete und hoffe, dass gläubige und engagierte Christen in keiner Weise sich vom Rassismus verführen lassen. Das wäre ein Verrat an ihrer Berufung. Die Meinung, dass diese oder jene Ethnie der andern überlegen sei, hat weder eine naturwissenschaftliche, noch eine geschichtlich-kulturellen Begründung und Rechtfertigung. Wir sind in der Wurzel des Menschseins, d.h. in Adam, gleich, weil wir im Schöpfungsakt sowohl unmittelbar zu Gott hin geordnet sind und – auch durch die Generationenfolge – eine Schicksalsgemeinschaft bilden, wie Paulus den Athenern erklärte. (Apg 17, 25) Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Es gibt nur einen einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus (1 Timotheus 2, 4f). Der Sohn Gottes hat unsere menschliche Natur angenommen. Zu unserem Heil gab er am Kreuz sein Leben dahin. Und in seiner Auferstehung hat er für alle das Tor zum Himmel geöffnet, denn er hat „mit seinem Blut Menschen für Gott erworben aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern." (Offb 5, 9).

 

Lothar C. Rilinger ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht i.R., Stellvertretendes Mitglied des Niedersächischen Staatsgerichtshofes a.D.. Er veröffentlichte das Buch " VRBS AETERNA. Bd.3, Begegnungen mit der deutschsprachigen religiösen Kultur in Rom".

kath.net-Buchtipp:
VRBS AETERNA. Bd.3
Begegnungen mit der deutschsprachigen religiösen Kultur in Rom
Von Lothar C. Rilinger
Sonstiger Urheber: Gerhard Ludwig Müller
Taschenbuch
364 Seiten; 28 Abb.
2020 Bernardus
ISBN 978-3-8107-0310-1
Preis Österreich: 20.40 EUR

 



© 2020 www.kath.net