26. Juni 2020 in Aktuelles
Zu einer neu entstandenen Debatte über das II. Vatikanische Konzil. Dass es zu Meinungsverschiedenheiten bei der Interpretation von Konzilsdokumenten kommt, ist keineswegs etwas Neues in der Geschichte der Konzilien. Von Armin Schwibach
Rom (kath.net/as) Erstaunlich: der Beginn der Sommermonate 2020 zeichnet sich durch eine erneute intensiv geführte Debatte über das II. Vatikanische Konzil aus. Angestoßen wurde diese durch den mutigen und herausragenden Beitrag vom 9. Juni des ehemaligen Nuntius in den Vereinigten Staaten, Erzbischof Carlo Maria Viagnò. Dieser offenen Analyse, die, wie es so schön heißt, „Ross und Reiter“ nannte, folgte dann eine auf den 24. Juni 2020, Festtag der Geburt Johannes des Täufers, datierte weitere und umfassende Auseinandersetzung.
Auch Weihbischof Athanasius Schneider gab seinen ruhigen und ausgewogenen Beitrag. Schneider vertritt die These: wir müssen alles, was in den Texten des Konzils wirklich und wahrhaftig gut ist, in seinem Wert erkennen und wertschätzen, ohne irrational und unehrlich die Augen der Vernunft vor dem zu verschließen, was objektiv und offensichtlich zweideutig und in einigen der Texte sogar fehlerhaft ist.
Also: zum Glück ist diese Diskussion eines Kernthemas der jüngsten Kirchengeschichte wieder in Gange gekommen. Es ist zu sehen: man kann zwar den Deckel eines Dampfdruckkochtopfs verschlossen halten und diesen nicht von der Kochplatte nehmen, während man mit anderem herumspielt und sich mit Oberflächlichem begnügt. Doch es wird über kurz oder lang zu einem Überdruck kommen, und dann besteht die Gefahr, dass Sicherheitsventile wie z.B. die These der „Hermeneutik in Kontinuität“ nicht mehr reichen.
Bereits im Sommer 2019 hatte sich der bedeutende Kirchenhistoriker Walter Kardinal Brandmüller mit dem immer „heißen Eisen“ des II. Vatikanums in einem umfangreichen Vortrag auseinandergesetzt. Ich danke Seiner Eminenz für die Erlaubnis zu Veröffentlichung seines gerade in dieser Zeit hilfreichen Textes
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Das II. Vatikanische Konzil: Probleme der Interpretation. Von Walter Kardinal Brandmüller
Dass es zu Meinungsverschiedenheiten bei der Interpretation von Konzilsdokumenten kommt, ist keineswegs etwas Neues in der Geschichte der Konzilien. Bei der Formulierung von Glaubenswahrheiten geht es darum, das unsagbare Mysterium der göttlichen Wahrheit in menschlicher Sprache auszudrücken. Das aber ist und bleibt ein Unterfangen, das schon der hl. Augustinus mit dem Versuch eines Kindes, mit seinem Eimerchen das Meer auszuschöpfen, verglichen hat.
Auch ein Allgemeines Konzil vermag bei diesem Unterfangen nicht sehr viel mehr als jenes Kind.
Kein Wunder darum, dass selbst unfehlbare Lehraussagen eines Konzils oder eines Papstes die geoffenbarte Wahrheit zwar definieren – also: gegenüber dem Irrtum abgrenzen -, nie aber die Fülle der göttlichen Wahrheit fassen können.
Diese Grundtatsache gilt es im Auge zu behalten, wenn es nun um die Interpretationsprobleme geht, vor die uns das II. Vaticanum stellt. Bei deren Erörterung beschränken wir uns auf jene Konzilstexte, die von sogenannten traditionalistischen Kreisen als besonders anstößig empfunden werden.
Zunächst aber gilt es, einen Blick auf die Besonderheiten zu werden, die das II. Vaticanum von den vorhergehenden Allgemeinen Konzilien unterscheiden.
Dazu eine Vorbemerkung: Das II. Vaticanum erscheint dem Konzilienhistoriker zunächst in mehrfacher Hinsicht als ein Konzil der Superlative. Beginnen wir mit der Feststellung, dass noch niemals in der Kirchengeschichte ein Konzil so intensiv vorbereitet wurde wie das II. Vaticanum. Gewiss ist auch das Vorgängerkonzil sehr gut vorbereitet gewesen, als es am 8. Dezember 1869 begann. Vermutlich war die theologische Qualität der vorbereiteten Schemata sogar besser als die des nachfolgenden Konzils. Unübersehbar ist jedoch, dass die Zahl der eingesandten Anregungen und Vorschläge aus aller Welt und die Art ihrer Verarbeitung alles bisher Dagewesene übertraf.
Als Konzil der Superlative erwies sich das II. Vaticanum in augenfälliger Weise am 11. Oktober 1962, als die ungeheure Zahl von zweitausendvierhundertvierzig Bischöfen in die Basilika von Sankt Peter einzog. Hatte noch das I. Vaticanum mit seinen ca. 642 Vätern im rechten Querschiff von Sankt Peter Platz gefunden, so hatte man nun das gesamte Längsschiff zur Konzilsaula gemacht. In den hundert Jahren zwischen den beiden Konzilien war die Kirche, wie hier in beeindruckender Weise sichtbar wurde, nicht mehr nur dem Anspruch nach, sondern auch de facto zur Weltkirche geworden. Eine Tatsache, die sich nun in der Zahl der 2440 Väter und ihrer Herkunftsländer widerspiegelte. Hinzu kommt, dass erstmals in der Geschichte der Kirche ein Konzil seine Voten mit Hilfe elektronischer Technik abgab, und akustische Probleme, die noch die Teilnehmer des I. Vaticanums geärgert hatten, nunmehr nicht einmal erwähnt zu werden brauchten.
Da wir schon von modernen Kommunikationsmitteln sprechen: Es war bislang noch nie der Fall gewesen, dass, wie 1962 geschehen, etwa 1000 Journalisten aus aller Welt beim Konzil akkreditiert wurden. Damit wurde das II. Vaticanum auch zum bekanntesten Konzil aller Zeiten, zu einem weltweiten Medienereignis ersten Ranges.
Konzil der Superlative ist es aber in ganz besonderer Weise hinsichtlich seiner Ergebnisse. Von den 1135 Seiten, die die Ausgabe der Dekrete aller üblicherweise als ökumenisch betrachteten Konzilien umfasst, und das sind also etwa zwanzig, hat das II. Vaticanum allein 315 Seiten, das ist erheblich mehr als ein Viertel, hervorgebracht. So nimmt unser Konzil in der Reihe der übrigen allgemeinen Konzilien ohne jeden Zweifel eine besondere Stellung ein, allein nach eher materiellen, äußerlichen Kriterien.
Doch es gibt darüber hinaus noch andere Besonderheiten dieses Konzils, die es vom Hintergrund seiner Vorgänger abheben, so etwa in Bezug auf die Funktionen eines Allgemeinen Konzils. Konzilien sind oberste Lehrer, oberste Gesetzgeber und oberste Richter, unter und mit dem Papst, dem all dies natürlich auch ohne Konzil zukommt. Nicht jedes Konzil hat jede dieser Funktionen ausgeübt.
Hat etwa das 1. Konzil von Lyon im Jahre 1245 durch die Bannung und Absetzung Kaiser Friedrichs II. als Gerichtshof gehandelt und überdies Gesetze erlassen, so hat etwa das I. Vaticanum weder Gericht gehalten noch Gesetze erlassen, sondern ausschließlich Fragen der Lehre entschieden. Das Konzil von Vienne von 1311/12 hingegen hat sowohl Gericht gehalten als auch Gesetze erlassen und Glaubensfragen entschieden. Von den Konzilien von Konstanz 1414/18 und Basel-Ferrara-Florenz 1431/39 gilt das gleiche.
Das II. Vaticanum hingegen hat weder Gericht gehalten, noch eigentlich Gesetze erlassen, noch Glaubensfragen definitiv entschieden.
Es hat vielmehr geradezu einen neuen Typ von Konzil realisiert, indem es sich als ein pastorales, also seelsorgerliches Konzil verstand, das Lehre und Weisung des Evangeliums in eher gewinnender und wegweisender Art und Weise der damaligen Welt nahebringen wollte. Insbesondere hat es keine Lehrverurteilungen ausgesprochen. Johannes XXIII. hatte in seiner Eröffnungspredigt ausdrücklich davon gesprochen: „Die Kirche ist immer den Irrlehren entgegengetreten. Häufig hat sie sie mit der größten Strenge verurteilt.“ Heutzutage dagegen „zieht es die Kirche vor, von der Medizin der Gnade Gebrauch zu machen… Sie glaubt, dass sie den Bedürfnissen der heutigen Zeit entspricht, indem sie lieber die Gültigkeit ihrer Lehren demonstriert als Verurteilungen ausspricht.“ Nun, es wäre, wie wir fünfzig Jahre nach seinem Abschluss wissen, ein Ruhmesblatt für das Konzil gewesen, wenn es, den Fußstapfen Pius‘ XII. folgend, den Mut zu einer wiederholten und ausdrücklichen Verurteilung des Kommunismus gefunden hätte.
Indes hat die Scheu davor, ebenso lehrmäßige Verurteilungen wie dogmatische Definitionen auszusprechen, auch dazu geführt, dass am Ende konziliare Äußerungen standen, deren Grad von Authentizität und damit Verbindlichkeit durchaus verschieden war. So etwa besitzen die Konstitutionen Lumen gentium über die Kirche und Dei Verbum über die göttliche Offenbarung durchaus Charakter und Verbindlichkeit authentischer Lehrverkündigung – doch auch hier wurde nichts im strikten Sinne letztverbindlich definiert -, während andererseits etwa die Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae nach Klaus Mörsdorf „ohne ersichtlichen Normgehalt zu Fragen der Zeit Stellung nimmt“. Das gilt namentlich von den disziplinären, die pastorale Praxis regelnden Dokumenten. Den Konzilstexten kommt also ein durchaus unterschiedlicher Grad der Verbindlichkeit zu.
In einem weiteren Schritt ist nun die Frage nach dem Verhältnis des II. Vaticanums zur gesamten Überlieferung der Kirche zu stellen. Eine Antwort finden wir, wenn wir untersuchen, wie viel oder wie wenig die Texte des Konzils aus der Tradition schöpften. Es mag genügen, daraufhin exemplarisch die Konstitution Lumen gentium zu überprüfen. Dazu genügt ein Blick auf den Anmerkungsteil der Textausgabe. Dabei ist festzustellen, dass in diesem Text nicht weniger als zehn der vorausgegangenen Konzilien zitiert werden. Von ihnen wird das I. Vaticanum 12 und das Tridentinum 16 mal als Beleg angeführt. Man sieht schon daraus, dass z. B. von einem „Abschied von Trient“ durch Vat. II keine Rede sein kann.
Noch enger erscheint das Verhältnis zur Überlieferung, bedenkt man, dass von den Päpsten Pius XII. in 55 Fällen, Leo XIII. an 17 Stellen, Pius XI. 12 mal zitiert werden. Hinzu kommen Benedikt XIV., Benedikt XV., Pius IX., Pius X., Innozenz I. und Gelasius.
Am eindrucksvollsten erscheint jedoch die Präsenz der Väter in den Texten von Lumen gentium. Es sind nicht weniger als 44 Väter, auf deren Lehren sich das Konzil beruft. Unter ihnen ragen Augustinus, Ignatius von Antiochien, Cyprian, Johannes Chrysostomus und Irenäus hervor.
Ebenso sind auch die großen Theologen bzw. Kirchenlehrer zitiert worden. Thomas von Aquin an 12 Stellen, zusammen mit anderen sieben klingenden Namen.
Allein diese Aufzählung mag zeigen, wie sehr die Väter des II. Vaticanums sich im Strome der Überlieferung stehend verstanden, eingebunden in den Prozess des Empfangens und Weitergebens, der die raison d’être der Kirche ist: „Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch überliefert habe“, sagt der Apostel. Es ist evident, dass von einem Neuanfang der Kirche, also von einem neuen Pfingsten, auch in dieser Hinsicht keine Rede sein kann.
Daraus ergeben sich erhebliche Konsequenzen für die Interpretation des Konzils – und zwar nicht des „Ereignisses Konzil“, sondern seiner Texte. Es war das in vielen seiner Äußerungen greifbare zentrale Anliegen Benedikts XVI., den engen organischen Zusammenhang des Vat. II mit der Gesamtüberlieferung der Kirche aufzuzeigen und damit zu betonen, dass eine Hermeneutik, die im II. Vaticanum einen Bruch mit dieser zu erblicken glaubt, in die Irre geht.
Diese „Hermeneutik des Bruches“ vollziehen sowohl jene, die im II. Vaticanum Entfernung vom genuinen Glauben der Kirche, also Irrtum oder gar Häresie erblicken, als auch jene anderen, die mit einem solchen Bruch mit der Vergangenheit einen mutigen Aufbruch zu neuen Ufern wagen wollten.
Aber: die Annahme eines Bruches in der Lehre und im sakramentalen Handeln der Kirche ist schon aus theologischen Gründen unmöglich. Wenn wir den Verheißungen Jesu Christi, dass er bei seiner Kirche bis zum Ende der Zeit bleibt, dass er den Heiligen Geist senden werde, der uns in die Fülle der Wahrheit einführen werde, glauben, dann ist es geradezu absurd, anzunehmen, die authentisch überlieferte Lehre der Kirche könnte in dem einen oder anderen Punkt im Lauf der Zeit sich als falsch erweisen, oder ein seither zurückgewiesener Irrtum könnte sich irgendwann als Wahrheit herausstellen. Wer dies für möglich hält, wäre dem Relativismus verfallen, für den Wahrheit grundsätzlicher Veränderlichkeit unterliegt, d. h. eigentlich gar nicht existiert.
Zu dieser Überlieferung leistet nun jedes Konzil seinen spezifischen Beitrag. Dieser kann selbstverständlich nicht in einer Hinzufügung neuer Inhalte zum Glaubensgut der Kirche bestehen. Erst recht nicht in einer Ausscheidung bisher überlieferter Glaubenslehren. Es ist vielmehr ein Prozess von Entfaltung, Klärung, Unterscheidung, der sich hier vollzieht, und zwar unter dem Beistand des Heiligen Geistes, und der dazu führt, dass jedes Konzil mit seiner definitiven Lehrverkündigung als integrierender Bestandteil in die Gesamttradition der Kirche eingeht. Insofern sind Konzilien jeweils nach vorne, in Richtung auf umfassendere, klarere, aktuellere Lehrverkündigung offen, nie aber nach rückwärts. Ein Konzil kann seinen Vorgängern niemals widersprechen, es kann ergänzen, präzisieren, weiterführen.
Anders ist es freilich mit dem Konzil als Organ der Gesetzgebung. Diese kann, ja muss allemal, freilich wiederum im Rahmen, den der Glaube vorgibt, auf die konkreten Erfordernisse einer bestimmten historischen Situation eingehen und ist insofern dem Wandel grundsätzlich unterworfen.
Eines mag aus diesen Bemerkungen klar geworden sein: All das gilt auch für das II. Vaticanum. Auch dieses ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Konzil unter, neben, nach anderen. Es steht weder über, noch außerhalb, sondern in der Reihe der Allgemeinen Konzilien der Kirche. Dass dem so ist, ergibt sich nicht zuletzt aus dem Selbstverständnis nahezu aller Konzilien. Es genügt, deren entsprechende Äußerungen sowie die der frühen Väter über diese Frage anzuführen. Sie erblicken in der Überlieferung geradezu das Wesen der Konzilien.
Schon Vinzenz von Lerins († vor 450) reflektiert ausdrücklich darüber in seinem Commonitorium: „Was hat die Kirche anderes durch ihre Konzilsdekrete angestrebt, als dass dasselbe, was vor einem Konzil schlicht geglaubt wurde, von da an mit mehr Bestimmtheit geglaubt wurde; dasselbe, was vor ihm ohne Nachdruck verkündigt wurde, von da ab intensiver verkündigt wurde; dasselbe, was vor ihm in aller Sicherheit verehrt wurde, von da ab mit größerem Eifer verehrt wurde. Dies, so behaupte ich, und nichts anderes, hat die katholische Kirche immer, aufgeschreckt durch die Neuerungen der Häretiker, durch ihre Konzilsdekrete erreicht: Was sie zuvor von den „Vorfahren“ allein durch Überlieferung empfangen hatte, hat sie von nun an für die „Nachfahren“ auch schriftlich niedergelegt. Sie tat es, indem sie vieles in wenige Worte zusammenfasste und oft, zum Zwecke des klareren Verständnisses, den unveränderten Glaubensgehalt mit neuen Bezeichnungen ausdrückte“ (Comm. Kap. 36).
Diese genuin katholische Überzeugung findet ihren Niederschlag in der Definition des 2. Konzils von Nicaea von 787, das so formuliert: „Da dies sich so verhält, haben wir gewissermaßen den königlichen Weg eingeschlagen und sind der Lehre unserer von Gott inspirierten Väter und der Überlieferung der katholischen Kirche gefolgt, denn diese stammt, wie wir wissen, vom Heiligen Geist, der in ihr wohnt, und beschließen...“, und dann folgen die Kernsätze des Konzilsdekrets. Ganz besonders wichtig auch die letzte der vier Verurteilungen: „Wenn jemand die ganze kirchliche Überlieferung, geschrieben oder ungeschrieben, verwirft, so sei er im Banne“.
Indem sie also ein Konzil abhält, realisiert die Kirche ihr eigenstes Wesen. Die Kirche – und damit das Konzil – überliefert, indem sie lebt und sie lebt, indem sie überliefert. Überlieferung ist ihr eigentlicher Wesensvollzug.
Die authentische Überlieferung, nicht der Zeitgeist, ist das entscheidende Element des Interpretationshorizonts. Das kann nun keinesfalls Starre und Unbeweglichkeit bedeuten. Der Blick auf das Heute darf keinesfalls fehlen. Es sind die Fragen von heute, die beantwortet werden müssen. Aber die Elemente, aus denen diese Antwort besteht, können nirgendwo anders herkommen als aus der ein für allemal gegebenen göttlichen Offenbarung, die uns die Kirche unverfälscht durch die Jahrhunderte überliefert. Diese Überlieferung stellt dann auch das Kriterium dar, dem eine jede neue Antwort standhalten muss, wenn sie wahr und gültig sein soll.
Diese grundsätzlichen Erwägungen sind nun auch bei der Interpretation der am meisten umstrittenen Konzilstexte zu berücksichtigen.
Es sind in der Hauptsache die Erklärungen Nostra aetate und Dignitatis humanae, die Widerspruch seitens der Pius-Bruderschaft hervorgerufen haben. Von dort wird der Vorwurf erhoben, das Konzil habe im Glauben geirrt. Dem ist allerdings entschieden zu widersprechen.
Es ist doch offenkundig, dass ein im Jahre 1965 formulierter Konzilstext, der damals aus seiner Entstehungssituation und nach seiner Aussageintention zu verstehen war, in die heutige Welt hineingesprochen durchaus im Interpretationshorizont von heute zu betrachten ist.
Nehmen wir als Beispiel Nostra aetate. Wer dieser Erklärung heute religiösen Indifferentismus unterstellt, sollte doch diesen Text im Lichte von Dominus Jesus lesen, womit jedes Missverständnis im Sinne von Indifferentismus oder Synkretismus kategorisch ausgeschlossen ist. In immer neuen Anläufen hat das postkonziliare Lehramt mit seinen Klärungen irgendwelchen Missdeutungen der Konzilstexte im traditionalistischen wie im progressistischen Sinn den Boden entzogen.
Nach diesen grundsätzlichen Bemerkungen sei nun ein weiterer Auslegungsgrundsatz erläutert, der sich aus der Geschichtlichkeit eines jeden Textes ergibt. So, wie jeder Text – und darum auch jeder lehramtliche Text – aus einer bestimmten historischen Situation entsteht und von den konkreten Umständen seiner Entstehung mitbestimmt ist, so ist er auch mit bestimmter Absicht in diesen bestimmten historischen Augenblick hineingesprochen.
Das ist, wenn wir heute daran gehen, einen solchen Text zu interpretieren, im Auge zu behalten.
Nicht weniger ist jedoch zu bedenken, dass dieser solchermaßen bestimmte hermeneutische Horizont sich in dem Maße verschiebt, verändert, je weiter der heutige Interpret vom Entstehungszeitpunkt des Textes entfernt ist. D. h., dass frühere Interpretationen, je weiter sie zeitlich zurückliegen, mehr oder weniger nur noch historisches Interesse beanspruchen können. Diese Erkenntnis ist von besonderer Wichtigkeit, wenn es sich um Texte des kirchlichen Lehr- und Hirtenamtes handelt.
Dem mag man sofort entgegenhalten, dass die Wahrheit, besonders die Wahrheit der göttlichen Offenbarung, ewige und unveränderliche Wahrheit ist, die keinem Wandel unterliegen kann. Daran ist nun wirklich nicht zu zweifeln. „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“, sagt der Herr.
Ebenso wahr aber ist, dass das Erkennen dieser ewigen Wahrheit durch den dem geschichtlichen Wandel unterworfenen Menschen ebenso dem Wandel unterworfen ist wie der erkennende Mensch selbst. D. h., dass je nach dem historischen Augenblick der eine und dann wieder der andere Aspekt der ewigen Wahrheit erblickt, erkannt, neu und tiefer verstanden wird.
Eben darum kann auch ein Konzilstext im geistigen, kulturellen etc. Kontext unserer Zeit in deren Licht betrachtet, neu, tiefer, klarer verstanden werden.
In dem Maße, in dem wir diese Erkenntnis bei unserem Bemühen, die Lehren des II. Vaticanums heute und für heute zu verstehen, wird es uns gelingen, manchen diesbezüglichen Konflikt zu überwinden. Natürlich ist diese Konzilsinterpretation ein Auftrag an die theologische Diskussion, die seit Jahr und Tag damit beschäftigt ist. Nicht zuletzt sind es ihre Ergebnisse, die dann ihren Niederschlag in den Dokumenten des nachkonziliaren Lehramts gefunden haben.
Es wäre – im Lichte des Gesagten – ein schwerwiegender Fehler, bei der Interpretation des Konzils für heute, sie unberücksichtigt zu lassen und so zu tun, als ob seit dem Jahre 1965 die Zeit stillgestanden wäre. Dies sei nun an drei – wie mir scheint – besonders charakteristischen Beispielen dargestellt.
Dabei fallen die Erklärung „Nostra aetate“ über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen wie auch das Dekret “Unitatis redintegratio“ über den Ökumenismus ins Auge. Beide unterliegen seit längerem der Kritik durch sogenannte traditionalistische Kreise. Beiden Texten wird von dort mangelnde Klarheit und Entschiedenheit im Eintreten für die Wahrheit, d. h. Synkretismus, Relativismus und Indifferentismus vorgeworfen. Dass es für diese Kritik jemals Angriffsflächen würde geben können, war bei der Verabschiedung dieser Texte kaum vorauszusehen.
Es war die Erfahrung des Totalitarismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der gemeinsam erlittenen Verfolgung gewesen, die Juden und Christen, Katholiken, Protestanten und Orthodoxe an ihre fundamentalen Gemeinsamkeiten erinnerte. Das Bemühen um Überwindung alter Gegnerschaft und ein neues Miteinander wurde allgemein als vom Herrn selbst auferlegte Pflicht empfunden. In diesem Geist und vor diesem Hintergrund gelesen, haben beide Dokumente mächtige Impulse gegeben.
Nun aber wendete sich das Blatt. Schon wenige Jahrzehnte nach Konzilsende wurde namentlich im angelsächsischen Bereich eine theologische Sicht der nichtchristlichen Religionen entwickelt, die von mehreren mehr oder weniger gleichwertigen Heilswegen für den Menschen sprach, und die christliche Mission darum für fragwürdig erklärte. Kirchliche Verkündigung müsse, meinte man, darauf abzielen, dass aus einem Moslem ein besserer Moslem etc. werde. Es war der Brite John Hick, der seit etwa 1980 ähnliche Ideen propagierte. Vor diesem neu entstandenen Hintergrund konnte nun in der Tat die eine oder andere Formulierung in „Nostra aetate“ missverstanden werden. Überdies spricht „Nostra aetate“ „von Religion nur positiv und lässt dabei die kranken und gestörten Formen von Religion beiseite, die geschichtlich und theologisch von großer Tragweite sind“ (Benedikt XVI., Bd. VII/1, Vorwort).
Der besonderen Erwähnung bedarf an dieser Stelle der den Islam betreffende Passus in „Nostra aetate“. Diesem Text wird nun nicht selten Indifferentismus vorgeworfen. Dazu ist zunächst zu bemerken, dass das Dekret gewiss „cum aestimatione quoque muslimos respicit“, keineswegs aber den Islam. Nicht dessen Lehre ist gemeint, sondern die Menschen, die ihr anhängen. Dass hinter den folgenden Formulierungen sich im gleichen oder ähnlichen Wortlaut doch ein sehr unterschiedliches Verständnis verbirgt, ist dem heutigen Islamologen klar. An diese Stelle des Dokuments, das einem friedlichen Dialog den Weg bereiten soll, sollte man nicht die strenge Messlatte dogmatischer Begrifflichkeit anlegen – wiewohl ein entsprechendes Bemühen wünschenswert gewesen wäre. Indes wurde dieser Text im Jahre 1965 publiziert.
Für unser heutiges Verständnis stellt sich das Problem aber wesentlich anders dar: Der Islam ist es, der sich in dem vergangenen halben Jahrhundert gründlich gewandelt hat – wie das Ausmaß der islamischen Aggressivität und Feindschaft gegenüber dem „christlichen“ Westen zeigt. Vor dem Hintergrund der Erfahrung der Jahrzehnte seit dem „nine eleven“ müsste ein solches Dekret wesentlich Anderes sagen.
Es ist also aus Gründen einer seriösen Konzilshermeneutik geradezu unsinnig, sich an dem Text von 1965 festzubeißen und ständig dagegen zu polemisieren: Das Dekret hat nur noch historisches Interesse. Da nun war es das Lehramt, das mit der Erklärung „Dominus Jesus“ jedem Indifferentismus den Boden entzog, und Jesus Christus als den einzigen Weg zum ewigen Heil und die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche Jesu Christi als die einzige Heilsgemeinschaft für jeden Menschen unmissverständlich herausstellte.
Ähnliches geschah durch die mehrfache Klarstellung der Bedeutung des berühmten „subsistit in“. Waren im ökumenischen Diskurs Äußerungen gefallen, die den Eindruck erwecken konnten, die katholische Kirche sei nur eine von mehreren Erscheinungsformen der Kirche Jesu Christi, so hat die ebenfalls durch „Dominus Jesus“ bekräftigte Interpretation des subsistit in im Sinne „die katholische Kirche ist die Kirche Jesu Christi“, jedes Missverständnis ausgeräumt. Ein weiteres Scandalum stellt für manche die Erklärung „Dignitatis humanae“ über die Religionsfreiheit dar. Auch ihr wird Indifferentismus, Verrat an der Wahrheit des Glaubens und Widerspruch zum Syllabus errorum des sel. Pius IX. vorgeworfen.
Dass dem keineswegs so ist, wird einsichtig, wenn man nur die oben formulierten Interpretationsprinzipien anwendet: Beide Texte sind in einem verschiedenen historischen Kontext entstanden und sollen auf verschiedene Situationen antworten.
Der Syllabus errorum – wie schon vorher die Enzyklika „Mirari vos“ Gregors XVI. – zielte auf die philosophische Bestreitung des Absolutheitsanspruchs der Wahrheit, insbesondere der geoffenbarten Wahrheit durch den Indifferentismus und Relativismus. Pius IX. hatte betont, dass dem Irrtum kein Recht gegenüber der Wahrheit zukomme.
„Dignitatis humanae“ hingegen geht von einer ganz anderen Situation aus, die durch jene Totalitarismen des 20. Jahrhunderts geschaffen worden war, die durch ideologischen Zwang die Freiheit des Individuums, der Person missachtet hatten. Darüber hinaus hatten die Väter des II. Vaticanums die politische Realität ihrer Zeit im Blick, die zwar unter veränderten Bedingungen, doch nicht in geringerem Maße die Freiheit der Person bedrohte. Darum ging es „Dignitatis humanae“ nicht um die – unbestrittene – Unantastbarkeit der Wahrheit, sondern um die Freiheit des Menschen von jedem äußeren Zwang in Bezug auf religiöse Überzeugung.
In diesem Zusammenhang seien die Verfechter der „absoluten Ungeschichtlichkeit der Wahrheit“ dessen versichert, dass kein vernünftiger Theologe oder Philosoph von einer Veränderlichkeit, einer Wandelbarkeit der Wahrheit sprechen würde. Was sich aber in der Tat verändert, was dem Wandel unterworfen ist, ist das Erkennen, die Erkenntnis der Wahrheit durch den durchaus sich wandelnden Menschen. Dazu gehört an herausragender Stelle das Glaubensbekenntnis des Gottesvolkes, das Paul VI. auf dem Höhepunkt der nachkonziliaren Krise verkündet hat.
In summa: Der Syllabus verteidigte die Wahrheit, das II. Vaticanum die Freiheit der Person. Ein Widerspruch zwischen beiden ist schwer zu erkennen, wenn man beide Dokumente in ihrem historischen Kontext betrachtet und nach ihrer damaligen Aussageabsicht versteht. Dazu kommt, dass für eine zutreffende Interpretation heute das gesamte nachkonziliare Lehramt zu berücksichtigen ist. Schließlich ist auch von jenem weltfreudigen, offenbar etwas naiven Optimismus zu sprechen, den die Väter des Konzils bei der Abfassung von „Gaudium et spes“ beflügelt hatte.
Kaum war das Konzil zu Ende, zeigte es sich jedoch, dass diese „Welt“ sich in einem sich rapide beschleunigenden Säkularisationsprozess befand, der den christlichen Glauben, ja die Religion überhaupt, an den Rand der Gesellschaften drängt. Da war nun das Verhältnis der Kirche zu „deser Welt“ – wie Johannes sie nennt – in der Tat neu zu definieren – und der Konzilstext etwa im Sinne der Reden Benedikts XVI. bei seinem Besuch in Deutschland zu ergänzen, zu interpretieren.
Das aber bedeutet, dass eine heutige, den Kern der Konzilslehre herausstellende und für den Glauben und die Lehre der Kirche in der Gegenwart fruchtbar machende Interpretation des Konzils dessen Texte im Lichte des gesamten postkonziliaren Lehramts zu lesen, und dessen Dokumente als Aktualisierung des Konzils zu verstehen hat.
Wie schon eingangs betont: Auch das II. Vaticanum ist nicht das erste und nicht das letzte Konzil. Das bedeutet, dass seine lehramtlichen Aussagen im Lichte der Überlieferung betrachtet, d. h. in einer solchen Weise interpretiert werden müssen, dass im Vergleich zu dieser zwar Erweiterung oder Vertiefung oder auch Präzisierung erfolgen, nicht aber ein Widerspruch zur Tradition festgestellt werden kann.
Überlieferung, Tradition ist nicht das einfache Weiterreichen eines wohl verschnürten Pakets, sondern ein organischer, vitaler Prozess, den Vinzenz von Lerins mit der fortschreitenden Entfaltung des Menschen vom Kind zum Mann vergleicht: Es bleibt immer dieselbe Person, die die Stufen der Entwicklung durchläuft.
Dies gilt für den Bereich der Lehre und der sakramental-hierarchischen Struktur der Kirche – keineswegs aber für das praktische pastorale Wirken der Kirche, dessen Effizienz weiterhin von den Anforderungen der jeweiligen Situation der Umwelt bestimmt wird. Dabei ist natürlich jeder Widerspruch der Praxis zum Dogma ausgeschlossen.
Es ist ein „Prozess aktiver Rezeption“, der nun auch um der Einheit innerhalb der Kirche willen vollzogen werden muss.
Indes gibt es aber auch – nicht auf dem Gebiet der Glaubenswahrheiten, wohl aber auf dem der Moral Fälle, in denen heute geboten sein kann, was gestern verboten war. Hatte etwa das strikte Verbot der Leichenverbrennung vor dem II. Vaticanum die Exkommunikation eines Katholiken zur Folge, der sich für die Kremation entschieden hatte, so konnte dieses Verbot zu einer Zeit aufgehoben werden, da die Leichenverbrennung ihren Charakter als Protest gegen den Glauben an die Auferstehung der Toten längst verloren hatte.
In ähnlicher Weise gilt dies im Falle des Zins-Verbotes im 15./16. Jahrhundert, als sich Franziskaner und Dominikaner – namentlich in Florenz – erbitterte Kanzelduelle lieferten, in denen die Kontrahenten um die Höhe des erlaubten Zinssatzes einander der Häresie anklagten und dem Gegner das Höllenfeuer androhten. Es ging um ein moralisches Problem, das mit dem Wandel der Wirtschaftsformen etc. entstanden und dann wieder obsolet geworden war.
Gemach also auch beim Streit um das II. Vaticanum und dessen Interpretation, die gleichermaßen vor dem Hintergrund nunmehr gewandelter Zeitumstände zu geschehen hat. Hierzu hat das Lehramt der Nachkonzilspäpste bedeutende – jedoch nicht genügend beachtete – Beiträge geleistet. Sie sollten gerade in den gegenwärtigen Diskussionen zur Kenntnis genommen werden.
Alsdann wäre bei diesen Diskussionen die Mahnung des hl. Paulus an Timotheus (2 Tim 4,1f.) zu Geduld und Bescheidenheit erinnert. Leider nehmen solche Auseinandersetzungen immer wieder Formen an, die mit brüderlicher Liebe nicht vereinbar sind. Der Eifer für die Wahrheit lässt sich sehr wohl mit Fairness und Nächstenliebe in Einklang bringen. Insbesondere sollte jene „Hermeneutik des Verdachts“ gemieden werden, die dem Gesprächspartner von vornherein häretische Auffassungen unterstellt.
In summa: Probleme der Interpretation von Konzilstexten ergeben sich nicht nur, was den Inhalt betrifft. Es sollte vermehrt auch auf die Art und Weise geachtet werden, in der wir unser Gespräch darüber führen.
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