Österreich ist ein Land der Poesie und der Musik

7. Juli 2020 in Interview


Ein Interview aus dem Jahr 2007 von Christoph Hurnaus und Johanna Hulatsch anlässlich des Besuchs von Papst Benedikt XVI. in Österreich


Regensburg (kath.net)

Frage: Herr Domkapellmeister, sie haben gemeinsam mit Ihrem Bruder Joseph und Ihrer Schwester Maria viele Urlaube in Österreich verbracht. Was waren Ihre beliebtesten Urlaubsziele?

 

Ratzinger. Wir waren sehr oft in Brixen in Südtirol und in Bad Hofgastein, zwischendurch dann auch einmal in St. Georgen am Längsee in Kärnten.  In Linz waren wir auch sehr gerne, im Petrinium, auf Einladung der beiden Kirchenmusiker Hermann und Josef Kronsteiner. Die beiden Kronsteiner-Brüder waren sehr ungleich. Hermann war sehr nach außen orientiert, fröhlich, wortgewandt und humorvoll, sein Bruder Josef, sehr in sich gekehrt und eher wortkarg. Wir haben im Petrinium  jedenfalls sehr schöne Urlaube verbracht.

 

Frage: Ihre ersten Erinnerungen an Österreich stammen aus der Zeit der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, als Sie mit Ihrer Familie in Tittmoning an der Salzach lebten, eine Stadt die mit einer Brücke nach Österreich verbunden ist.

 

Ratzinger: Von Tittmoning aus haben wir mit der Mutter öfter Spaziergänge nach Österreich gemacht. Um die Grenze zu passieren, musste man damals 10 Pfenning zahlen. Ostermiething war der Ort in der Nähe der Grenze, da sind wir öfter rübergegangen. Ich erinnere mich an das  Jahr 1931. Mein Bruder war damals vier Jahre alt. In Ostermiething gab es einen Schmied. Als wir dorthin kamen, fragte mein Bruder: „Ist das ein Schmied“, als dieser aus dem Hause rief: „Nein, ein Lebzelter.“ In der Nähe lag St. Radegund. Da fand ich einmal ein herrenloses Taschentuch, das niemand gehörte. Ich nahm es mit, habe es lange Zeit benützt und nannte es das „St. Radegunder Taschentuch.“ Von dort kam auch Franz Jägerstätter, ein aufrechter Antinazi, der demnächst seliggesprochen werden wird.

 

Frage: Herr Domkapellmeister, Sie sind von Österreich mit dem Bundesverdienstkreuz für Wissenschaft und Kunst Erster Klasse ausgezeichnet worden. Diese Feier fand am 21. Mai 2005 in Anwesenheit Ihres Bruders im Vatikan statt. Als Kirchenmusiker haben Sie  im Laufe der Jahre viele Auszeichnungen für Ihr verdienstvolles Wirken erhalten. Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung Ihres Nachbarlandes Österreich?

 

Ratzinger: Ich bin fast ein Bisschen beschämt. Ich glaube nicht, dass ich so viele Verdienste um Österreich habe, um eine Auszeichnung verdient zu haben. Aber ich freue mich natürlich, weil ich Österreich in vieler Hinsicht sehr liebe. Es ist ein Land der Poesie und der Musik, wo die Musik lebendig ist. Wir sind musikalisch groß geworden in Traunstein, im Raum Salzburg. Hadyn, Mozart, Beethoven, Brahms und Bruckner, das ist die musikalische Welt Österreichs. Österreich ist ein Land, in dem solche Begabungen, solche Größen leben, wachsen, gedeihen, und sich zuhause fühlen konnten. Aber dann auch die landschaftliche Schönheit Österreichs, die der bayrischen verwandt ist. Dann ist Österreich natürlich auch „Klöster-reich“, die vielen Stifte mit ihren wunderbaren barocken Kirchenräumen. Die Schönheiten des Lebens sind in Österreich in besonderer Weise beheimatet.

 

Frage: Sie haben von Klöster-reich gesprochen. Welche Stifte haben Sie im Laufe der Jahre besucht.

 

Ratzinger. Wir waren in natürlich in Melk. Melk ist ja ganz großartig. Es ist ja ein Jammer, dass diese Klöster an Nachwuchsmagel leiden. Dann natürlich St. Florian, Kremsmünster oder das Stift Heiligenkreuz. Mein Bruder und meine Schwester haben zusammen auch einmal das  Stift Schlägl besucht.

 

Frage: Sie haben auch die österreichische Bundeshauptstadt Wien durch gemeinsame Besuche kennengelernt. Was ist das typische an Wien, was macht den Charme dieser Stadt aus?

 

Ratzinger: Ein befreundetes Ehepaar hat uns nach Wien eingeladen. In Wien haben wir uns wirklich sehr wohl gefühlt. Die freundliche Mentalität der Menschen, die nicht so spitz wie das Norddeutsche ist. Österreich ist einladend, freundlich, menschlich. Ein Bekannter, der Wien besuchte,  erzählte mir, dass er dort mit Herr Doktor angesprochen wurde, worauf dieser entgegnete: „Ich bin kein Doktor.“ Daraufhin der Gesprächspartner: „Herr Professor“, „Herr Hofrat“, „Herr Kammersänger.“ (…) Dann liebe ich natürlich die österreichische Küche. In Wien besuchten wir ein Restaurant, wo nur Rindfleisch serviert wird. Ich denke natürlich auch an die vielen schönen Kirchen Wiens. Ich persönlich bin ein Fan von Barockkirchen, habe aber auch den Stephansdom sehr gerne, der ja nicht nur einen gotischen Eindruck macht, sondern auch viele Ornamente aus späterer Zeit enthält.

Frage: Gibt es einen Ort in Österreich, den Sie noch einmal besuchen möchten?

 

Ratzinger: Ich bin an sich kein großer Reisender. Mit dem Chor (Regensburger Domspatzen) bin ich schon viel fortgefahren. Alleine reise ich nicht so gerne. Stift St. Florian  beispielsweise ist sehr beeindruckend, wirklich wunderbar. Es gibt überhaupt so viele „lauschige Fleckerl“ in Österreich. Das Stift Kremsmünster liegt auch in einer sehr schönen Gegend. Der Mattsee ist auch ein ganz „lauschiges Fleckerl“. Ich habe in Rom Botschafter Türk kennengelernt, der schwärmt immer sehr vom Attersee. Da war ich noch nie. Er hat mir den Attersee aber so anschaulich geschildert, dass ich glaub, das wäre auch so ein „Fleckerl“, wo man gerne sein möchte. Am Wörthersee hatten wir einmal ein Konzert, da war es auch  sehr schön.

 

Frage: Wolfgang Fronhöfer, ein Mitarbeiter im Archiv des Bistums Passau, hat den Stammbaum der Familie Ratzinger bis etwa zum Jahr 1600 zurückverfolgt. Dabei stieß er auf äußerst interessante Details. So führt der Weg Ihrer Familie nach Oberösterreich, in die Gemeinde Freinberg bei Passau. Dort soll es noch heute den „Ratzingerhof“ in Ratzing geben, der von Ihren väterlichen Vorfahren bewohnt wurde. Haben Sie von diesen Forschungsergebnissen gehört und wie kommentieren Sie diese?

 

Ratzinger: Ich hab davon gehört. Mein Vater wusste noch, dass seine Vorfahren aus dem oberösterreichischen Bereich kamen. Das dürfte also stimmen. Seine Mutter stammte aus dem Böhmerwald. Die Großmutter mütterlicherseits kommt aus Mühlbach, bei Brixen in Südtirol. Mein Großvater war ein bayrischer Schwabe, aus Felden. Sie haben dann geheiratet,  Tirol verlassen und sind in ein anderes Mühlbach, nach Mühlbach bei Obderaudorf gezogen, wo meine Mutter geboren wurde.

 

Frage: Ein großer Erfolg war der Heimatbesuch Ihres Bruders Papst Benedikt XVI. in Bayern im vergangenen Jahr. Was bleibt ein Jahr danach neben schönen Erinnerungen, was der Erneuerung des Glaubens dient?

 

Ratzinger: Viele Menschen waren emotionell sehr beeindruckt. Ich glaube, dass dies bei vielen nicht nur ein momentaner Eindruck war, sondern wirklich auch anhält. Ich war selber in Altötting und Regensburg mit dabei, wo es wirklich auch sehr eindrucksvoll war. Der Papst hat hier (in diesem Zimmer) Mittag gegessen und so wie eh und je seine Siesta gemacht. Dann waren wir noch am Friedhof, am Elterngrab, und im Haus meines Bruders in Pentling, wo er nochmals eine Ruhepause einlegen konnte. Das hatte natürlich für uns eher privaten Charakter und ist religiös oder heilsgeschichtlich nicht von Bedeutung.

 

Frage: Wäre eigentlich ein Sommerurlaub des Heiligen Vaters in Bayern oder Österreich denkbar?

 

Ratzinger: Unsere Fürstin (Gloria von Thurn und Taxis) besitzt ein Haus mit Kapelle, wohin sie den Heiligen Vater  einladen möchte. Der Vatikan meint, das Haus wäre durchaus geeignet. Aber Deutschland ist ein anderes Land. Als Staatsoberhaupt des Vatikans würde das mindestens politische Formalitäten mit sich bringen, die nicht leicht zu lösen wären.

 

Frage: Ihre große Leidenschaft ist bekanntlich die Musik. Betreiben Sie gelegentlich auch heute noch Musik?

 

Ratzinger: Ich kann leider keine Noten mehr lesen. Der Schatz an Gedächtnis, den ich noch habe, schmilzt von Tag zu Tag. Mit dem Alter wächst die Vergesslichkeit. Drei Dinge vergisst man im Alter, erstens die Namen, zweitens die Zahlen, „und das Dritte, das hab ich jetzt vergessen …“ (schmunzelt). Also, ich liebe die Musik nach wie vor noch sehr, das ist klar.

 

Frage: Können Sie uns etwas über Ihren Weg zum Priestertum erzählen?

 

Ratzinger: In unserer Familie war der Gottesdienstbesuch eine Selbstverständlichkeit. Das Kirchenjahr bestimmte den Ablauf des Lebens. Wir sind jeden Tag in die Schulmesse gegangen, am Sonntag sowieso. Die Berufung ist eigentlich von selber gewachsen. Ich war dann auch bald Ministrant und hatte dabei immer das Empfinden: „Da ist dein Platz.“ Ich bin dann so organisch hineingewachsen. Ich hatte auch niemals große innere Kämpfe. Auch in der schwierigen Zeit des Krieges gab es für mich keinen Zweifel, dass dies für mich die richtige Berufung und die Lebensrichtung ist, zu der ich gerufen bin. Ich hatte für meinen Bruder, der ja drei Jahre jünger war und mir bald gefolgt war, auch eine gewisse Vorbildfunktion. Ich hab immer den lieben Gott gebeten: „Gib mir eine Aufgabe, wo ich musikalisch tätig sein kann, eine Verbindung zwischen meinem geistlichen Beruf und der musikalischen Arbeit.“

 

Frage: Sie waren langjähriger Leiter der berühmten Regensburger Domspatzen und leben nun schon viele Jahre in Regensburg. Sie haben hier auch einige gemeinsame Jahre mit ihrem Bruder verbracht.

 

Ratzinger: Seit 64 Jahren lebe ich nun in Regensburg, mit 40 Jahren bin ich angekommen, heute bin ich 83. Also, mehr als die Hälfte meines Lebens lebe ich nun hier. Ich habe mich immer als Oberbayer gefühlt, jetzt bin ich Oberpfälzer geworden, obwohl Regensburg ja immer eine freie Reichsstadt war. Aber ich bin hier heimisch geworden. Später ist mir dann mein Bruder als Dogmatikprofessor nach Regensburg gefolgt. Er hat dann den Bau seines Hauses in Pentling in Angriff genommen, und so konnten wir einige schöne gemeinsame Jahre zusammen verbringen. Meine Geschwister haben mich oftmals am Sonntag in meiner „Domspatzenwohung“ besucht und hier Mittag gegessen.

 

Frage: Hätten Sie damit gerechnet, dass Ihr Bruder Papst werden könnte?

 

Ratzinger:  Dass die Kardinäle sich für meinen Bruder als Papst entschieden, war für mich im ersten Moment wegen seines Alters eigentlich unverständlich. Es benötigt schon einen intensiven geistlichen Vollzug, um zu verstehen, dass mein Bruder nun Papst geworden ist. Aber persönlich hat sich zwischen uns natürlich nichts verändert, auch nach dem Motto, was natürlich gewachsen ist, bleibt erhalten. Er ist ja nicht nur Papst, er ist auch Mensch, mein Bruder eben.

 

Frage: Haben Sie manchmal daran gedacht, was Ihre Eltern sagen würden, wenn Sie die Wahl Ihres Bruders zum Papst  erlebt hätten?

 

Ratzinger:  Die Eltern würden sich einerseits sicherlich freuen, aber andererseits wäre dies auch eine Sorge. Man muss die Verantwortung sehen, die hinter so einem hohen Amt steht, die Erwartungen, die in ihn gesetzt werden.

 

Frage: Man sagt, dass ihr Bruder als Leiter der Römischen Glaubenskongregation ein sehr nahes Verhältnis zu Papst Johannes Paul II. hatte. Wie würden Sie dieses Verhältnis beschreiben, war es Freundschaft oder  einfach nur eine kongeniale Partnerschaft?

 

Ratzinger: Ja, so kann man es sagen. Der Papst hat sehr viel auf ihn gehalten und gewusst, dass er in ihm einen verlässlichen und jederzeit bereiten Mitarbeiter hat, der auch qualifiziert ist. Der Heilige Vater wusste, dass Kardinal Ratzinger eine sehr intensive und umfassende Kenntnis vieler Details hatte. Mein Bruder hatte nie einen besonderen Ergeiz. Er wollte seine Aufgabe gut machen.

 

Frage: Als Leiter der Glaubenskongregation wurde von Kardinal Joseph Ratzinger in manchen Medien oftmals ein verzerrtes Bild gezeichnet. Als Papst wird er nun doch ganz anders wahrgenommen. Freuen Sie sich eigentlich, dass sich die Stimmung nun so gewandelt hat?

 

Ratzinger: Man sieht, dass solche Vorurteile nie auf originärer Erfahrung beruhen. Jemand sagt etwas, es wird in die Welt gesetzt, und die Welt besteht halt weitgehend aus Gerüchten. Dass da jetzt ein falsches Bild von meinem Bruder korrigiert wird, das halte ich schon für gut. Aber man darf nicht, um ein falsches Bild zu vermeiden,  etwas gegen seine Überzeugung tun.

 

Frage: Ist Standfestigkeit  eine besondere familiäre Tugend?


Ratzinger: Ich denke schon, dass da eine natürliche Veranlagung da ist. Wir Bayern haben einen gewissen „Dickschädl.“ Das ist zuerst der negative Aspekt. Der positive Aspekt ist, dass etwas, was der eigenen Überzeugung entspricht, nicht einfach leichtfertig aufgegeben wird. Mein Vater war in seiner Opposition gegen das Naziregime da sicherlich für uns ein Vorbild.

 

Frage: Wie sehen Sie die Zukunft der Kirche. Papst Johannes Paul II. sagte einmal, die Kirche wandle sich von einem quantitativen Modell in ein qualitatives. Es gibt heute viele neue Gruppen und Bewegungen, die das Leben der Kirche befruchten?

 

Ratzinger: Wir müssen uns bemühen, dass ein Kern da ist, der die Überzeugung an Christus wachhält, und die Botschaft des Evangeliums lebt. Die vielen neuen Gruppen und Bewegungen die entstehen, sind in sich gefestigt und wirken nach außen ungemein positiv und befruchtend. Dass die Kirche nicht in der Sakristei bleibt, sondern einen gewissen Öffentlichkeitsraum erreicht. Man soll aber auch die Tradition nicht ganz unterschätzen. Sie ist schon eine gewisse Hilfe.

 

Foto: (c) Michael Hesemann


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