Bauchredner Gottes – Patrick Roths Inspiration aus Hollywood

4. August 2020 in Aktuelles


Wenn in der Coronakrise so wenige Hirten oder Theologen von Gott reden, bedient er sich vielleicht einiger Bauchredner oder Traumdeuter wie Patrick Roth, sogar mit einer Inspiration aus Hollywood? Gastbeitrag von Helmut Müller


Vallendar (kath.net) Der deutsche Schriftsteller Patrick Roth erzählt, dass er vor gut 30 Jahren eine Traumerfahrung hatte, die er dann in den folgenden Jahren zu seiner Christustrilogie ausgearbeitet hat. Er wohnte damals in Los Angeles und arbeitete für Hollywoodproduktionen. Seine Christustrilogie entführt den Leser sehr schnell in eine Welt gefühlter Bedeutsamkeit, gleichsam angefüllt mit Bildern biblischer Apokalyptik, von denen man zunächst noch nichts versteht, aber von allem Anfang an weiß: Hier befindet man sich jenseits der Belanglosigkeit des Alltags. Zunächst entführt allein schon die Sprache, dann die Bilder. Der Sprecher dieser Sprache, der im Buch nur als Schreiber von Geschriebenem begegnet, erweckt Assoziationen an alttestamentliche Propheten wie Jesaja, Daniel und im neuen Testament an Johannes, den Seher von Patmos. So muss es jenen zumute gewesen sein, als das Wort Gottes sie traf oder wie C. G. Jung einmal sagte: Es gab eine Zeit als die Worte noch zu den Menschen kamen: Patrick Roth versucht diese möglichst authentisch an Hörer und Leser weiterzugeben.

   Patrick Roths Christustrilogie ist ein einzigartiges Ringen um Ausdruck, was eigentlich gar nicht gänzlich zum Ausdruck kommen kann, zumindest nicht in unserer alltäglichen Sprache, die sich zwischen Naseputzen und Einkaufengehen ihre Ausdrücke geschaffen hat. Wenn sie geschrieben ist, ist sie bei Roth noch einmal ein Abfall gegenüber dem Hören. Das ist mir wenigstens bewusst geworden, nach dem ich Patrick Roth nun schon zwei Mal aus seinem Buch habe vorlesen hören. Aber es genügt, wenn man ihn einmal gehört hat, dann generiert sich das Gelesene noch einmal zur Sprache. Roths Sprache hat eine gewisse Poesie, die sich im Sprachfluss dann ihre eigene Grammatik schafft. Im Fluss der Wörter und Sätze wird allmählich deutlich, dass hier Tiefen oder Höhen ausgelotet und mit menschlichem Ausdruck gefüllt werden, die in der Alltagssprache brach liegen, Wirklichkeitsfelder die sprachlich nicht bestellt werden.

   In seiner Christustrilogie hat er sich die ungeheuerlichste Geschichte der Menschheit ausgesucht, um das, was in ihm lebt und bebt zum Ausdruck zu bringen. Die Geschichte des Mannes aus Nazareth, der etwa ein – oder drei Jahre öffentlich gewirkt hat und dann augenscheinlich furchtbar gescheitert ist. Wenn alles in diesem Leben ‚“mit rechten Dingen zugegangen wäre“, hätte sein Auftreten in der hintersten römischen Provinz weiter kein Aufhebens gemacht. Zeitgenössische Historiker wie Flavius Josephus, haben das, was über ihn „umging“, gar nicht für bare Münze gehalten und die Geschehnisse kaum erwähnt. Patrick Roth aber macht das eigentliche Skandalon dieser Biographie zum Thema. Im Leben dieses Galiläers wurde die oberflächliche Kausalmechanik von Ursache und Wirkung mindestens zwei Mal außer Kraft gesetzt, mit seiner Geburt und seinem Tod. Und wenn man das kleine Büschel von Nachrichten aus diesem unbedeutenden Landstrich am östlichen Mittelmeer ernst nimmt noch weitere Male. Leute, die das nicht bloß als Geschichten, Erzählungen, Märchen oder Mythen abtun, haben einen schweren Stand. Patrick Roth hat einen angelsächsischen Kollegen, der diese Geschichte vor Jahrzehnten schon einmal ernst nahm und das Skandalon zu einem Buchtitel machte. Ich rede von Bruce Marshall und seinem Buch Das Wunder des Malachias. Marshall machte vorsorglich zu Beginn seines Buches schon darauf aufmerksam, dass selbst Leute, die „Wunder“ eigentlich ernst nehmen sollten, davon peinlich berührt werden: „Und überhaupt“, sagte der Kaplan Neary, „sind Wunder heutzutage aus der Mode gekommen. Wenn sich eins im Schlafzimmer unseres hochwürdigsten Herrn Bischof ereignen würde, täten Seine Gnaden alles, um den ungehörigen Vorfall zu vertuschen.“

  Ähnliches berichtet Patrick Roth von seiner Erstveröffentlichung von Riverside, des ersten Teils der Trilogie bei Suhrkamp. Suhrkamp druckte dieses Werk, weil die Wortakrobatik und das schillernde Gedankenmosaik den Verleger offenbar postmodern beeindruckte. Als der Verlag aber merkte, dass der Autor an die dahinter verborgene biblisch-prophetische Substanz glaubte und er nicht ein bloßes Wortgeklingel abgeliefert hatte, war man an weiteren Veröffentlichungen nicht mehr interessiert.

   Patrick Roth geht es also in der Christustrilogie um das Zentrum, die Mitte der Biographie jenes Galiläers, einem Menschen aus Fleisch und Blut, in dem ein Durchbruch in eine andere Wirklichkeit erfahrbar geworden ist. Im ersten Teil Riverside begegnen uns zwei Jünger des Apostels Thomas, dem kritischsten Kopf der Evangelien in einer fast kriminalistisch anmutenden Recherche. Klar ist zu diesem Zeitpunkt, dass der auferstandene Christus, die grausame Kausalität des Todes zerbrochen hat, also das bedeutendste Wunder des Christentums schon geglaubt wird. Dem ehemaligen „ungläubigen“ Thomas bereitet aber jetzt gläubig ein anderes Geschehen Kopfzerbrechen: Es wird erzählt, dass es Jesus zu Lebzeiten nicht gelungen sei, einen Aussätzigen zu heilen und er so in seiner Allmacht wenigstens einmal gescheitert sei. Dieser Aussätzige lebt noch. Zu ihm schickt Thomas seine Jünger, nicht, um wie im Evangelium ein Wunder zu bezweifeln, sondern umgekehrt um verstehen zu können, weshalb der Wundertäter einmal gescheitert ist.

   Auch im zweiten Teil der Trilogie wird Aufsehenerregendes zum Thema. Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten spielt in der Gegenwart und in der Mojavewüste Kaliforniens. Johnny Shines ist ein Sonderling. Als Kind eines Pfarrers hat er ein für ihn traumatisches Erlebnis. Er fragte seinen Vater ob man Gott sehen könne. Der Vater verneinte die Frage und sagte, man könne ihn aber hören, wenn man zu ihm beten würde. Trotz aller Anleitungen gelingt es Johnny nicht ihn zu hören. In der Rahmengeschichte taucht Johnny bei Beerdigungen auf und versucht im Moment der Bestattung der Toten, diese zum Leben zu erwecken. Das erweckt den Anschein als wolle er Transzendenz erzwingen, weil sie sich ihm in seiner Kindheit nicht eröffnet und geschenkt hat. Er lässt sich von seinem Tun nicht abhalten und versucht immer wieder Tote bei Beerdigungen zu erwecken. Im zweiten Teil der Trilogie sind wir also in der Gegenwart angekommen. Der überlieferte Glaube aus dem ersten Jahrhundert soll in der ganzen Wirkmächtigkeit des damaligen Ereignisses auch in unserem Jahrhundert wirksam werden, eherne Kausalitäten durchbrechen. Die sonderbare Erzählung mit einem Sonderling als Protagonisten beschreibt das unentrinnbare Eingefügtsein in eine durch und durch säkulare Welt. Wer diese Einmauerung durchbrechen möchte, fällt unangenehm auf, macht sich lächerlich, wird nicht Ernst genommen und ständig daran gehindert den Durchbruch in eine andere Wirklichkeit zu leben, die für den Autor die Tiefenstruktur alles uns sinnhaft Zugänglichen ist. Johnny Shines wird zum Idioten in einer Wüstenlandschaft, die für trostlose Säkularität steht, geradeso wie Fürst Myschkin in Dostotjewskis gleichnamigem Jesus-Roman Der Idiot als absolut lauterer Mensch in der durch und durch intriganten St. Petersburger Gesellschaft des 19. Jahrhunderts leben muss.

   Im dritten Teil der Trilogie Corpus Christi verlässt der Autor wieder die Gegenwart und entwickelt die grandioseste Idee der christlichen Literaturgeschichte: Er platziert eine Zeugin der Auferstehung am Ort, im Grab und zur Zeit, in der Nacht des Geschehens. Alle Zeugen in den Evangelien sind zu spät gekommen: am Morgen danach und der Stein ist schon weg gewälzt. Ein Literat hat hier den Mut, der bei Theologen erst noch zu suchen ist. Eine stattliche Reihe von Theologen nimmt nicht einmal die Berichte der Evangelien ernst und glaubt nicht, dass das Grab leer war. Wenn das Grab voll war, wie konnte der Glaube an Auferstehung entstehen? Auch eine Hegelsche List der Vernunft ist m. E. überfordert, zu erklären, wie die Angst der Jünger von Gründonnerstag und Karfreitag, ohne dass noch etwas nach dem offensichtlich katastrophalen Scheitern am Kreuz geschehen ist, am Ostersonntag oder danach verschwunden ist. Auch die Gefahr für die Jünger, Kollaborateure zu sein, bestand weiter in einer für sie unveränderten politischen Lage an Pfingsten oder danach. Trotzdem sind sie offensichtlich todesmutig auf die Straßen gegangen. Auch als es die ersten das Leben gekostet hat sind sie nicht eines Besseren belehrt worden.

   Patrick Roth ist an dieser Stelle glasklar. Seine Protagonistin wird Zeugin des Ungeheuerlichen: Die stärkste Macht der Welt, die jedes Menschenleben und auch jede hymnisch gefeierte Liebe zerstört, oft in grausamster Weise, ist am Ort des Todes schlechthin, besiegt worden: nämlich im Grab, also für den Tod in einem Heimspiel. Das ist ein Osterwitz! Die Ostkirche hat es erkannt, wenn sie an Ostern Witze erzählt.

   Bei Patrick Roth überschlagen sich an diesem Ort Bilder und Sprache. Menschliche Ausdrucksweisen werden überwältigt. Kein Wort, kein Bild, kein Ausdruck, kein Eindruck ist fähig zu beschreiben, was da geschehen ist. Dem Autor ist es in genialer Weise gelungen - sich sprachlich selbst überwältigend - darzustellen, was Christen glauben oder besser glauben sollten, noch besser glauben dürfen: Mit Gertrud von Le Fort gesprochen: „Das Leid der Erde ist selig geworden, weil es geliebt wurde“.

Alles in allem ein großartiges Werk über das Zentrale des Christentums. Durch Gottes Menschwerdung in einem Galiläer ist tatsächlich „das Wort (leibhaftig) Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt … Und wir haben seine Herrlichkeit (der Auferstehung) gesehen.“ Fast zweitausend Jahre nach dem Ende der Kanonbildung und der Johannesapokalypse hat wieder ein Wort- und Schriftzeugnis von dem ungeheuerlichen Geschehen berichtet, das letztlich eine Umdatierung der Zeit bewirkt hat: Wenigstens einmal ist ein Grab dann doch leer geblieben, obwohl der Tod es schon gefüllt hatte. Und meine ganz persönliche Meinung, da gehe ich vielleicht über Patrick Roth hinaus: 33 Jahre zuvor ist dagegen der Schoß einer Frau mit Leben gefüllt worden ohne Mitwirkung eines Mannes. In einem Hymnus des 12. Jahrhunderts konnte die Jungfrau Maria noch „terra non arabilis, quae fructum parturiit“ genannt werden. Das bedeutet etwa auf nicht bestelltem Feld ist dennoch eine Frucht hervorgegangen. Es ist ein überhaupt nicht Erwartbares, ja sogar völlig Ausgeschlossenes geschehen. In allen Religionen der Welt ist nach den Kriterien aufgeklärter Vernunft normalerweise eigentlich völlig Ausgeschlossenes die Regel.

   Unter dieser Hinsicht wird eine vielleicht verblüffende Definition von Johann Baptist Metz verständlich: Religion ist Unterbrechung. Was wird unterbrochen? Wir alle werden in einer 370 Welt groß. Jeder von uns hat schon einmal erfahren, dass diese Welt hin und wieder durch Fieberträume durchbrochen wird. Schon bei einer läppischen Erhöhung von zwei oder drei Grad Körpertemperatur sehen wir buchstäblich weiße Mäuse, die kein anderer sieht, der im gleichen Raum anwesend ist. Ist Religion also ein Fiebertraum, ein Opiumrausch, wie schon Karl Marx vermutete? Johann Baptist Metz hat seine Definition so ganz gewiß nicht gemeint und auch Patrick Roth sieht Religion m. E. so nicht.

   Man könnte sagen: Religion ist eine „Ausweitung der Kampfzone“, eine Ausleuchtung auch des Unbewussten, wie Patrick Roth immer wieder mit Bezug auf C. G. Jung hinweist. Vieles ist in uns traumhaft verborgen, wird nachts, wenn das Wachbewusstsein „schläft“ aufgeweckt und kommt genau so, nämlich „ förmlich wachgerüttelt“ ins Bewusstsein, mit dem Gedanken, was soll das? Aber nicht alle Träume sind Schäume. Sehr vieles was in der 370 Welt unbeachtet bleibt - meistens sind es Gefühle, aber auch Sinneswahrnehmungen, die vom Wachbewusstsein aussortiert und außen vor gelassen worden sind – ist zurecht einer Zensur zum Opfer gefallen. M. E. ist Religion nicht nur eine Ausleuchtung des Unbewussten, sondern viel mehr noch eine Ausweitung ins Transbewusste. Und das Christentum legt die Latte noch höher: Aus diesem Transbewussten glaubt es, dass ein historischer Abstieg in den normalen Bewusstseinshorizont einer 370 Welt geschah mit der Menschwerdung Gottes in dem Galiläer Jeschua ben Marjam.

   Patrick Roth ist es in ausgezeichneter Weise gelungen diese Chiffren im Unbewussten zu „lesen“, die m. E. von Transbewusstem künden. Wie aber Unbewusstes von Transbewusstem unterscheiden? Handelt es sich nicht doch nur um eine farbige, exotische, individuelle Tapezierung des Raums unseres jeweiligen Un- oder Unterbewusstseins? Man könnte die Frage Karl Rahners an Hans Urs von Balthassar auch Patrick Roth stellen. „Woher weiß der das?“ Ist das nicht doch bloß postmodernes Wortgeklingel, wie es den Suhrkampverlag, vielleicht auch sogar Reich-Ranicki kurzzeitig beeindruckte? Eben bloß ne bunte Tapete an den Wänden des Unterbewusstseins Patrick Roths, die dieser damals in Riverside zum besten gab?

   Hans Urs von Balthasar antwortete damals: Sein Werk und das der Ärztin Adrienne von Speyr sei Eines, wie die eine und die andere Seite derselben Münze. Adrienne von Speyr war eine mystisch begabte Frau. Hans Urs von Balthasar hatte ein Kriterium die mystische Schau, die die Seherin aus ihrem Unterbewusstsein in das Bewusstsein wendete von Transbewusstem zu unterscheiden. Die Hl. Schrift und die Kirchenväter, also die Nähe zu dem ursprünglichen Christusereignis waren die Kriterien, das Unterbewusstsein der Seherin von dem wirklich Transbewussten zu unterscheiden. Es trat also nichts Neues in Erscheinung, sondern das immer schon Überlieferte und im Glauben Gedeutete fand eine neue Illustrierung, die nicht nur hermeneutischen, sondern häufig auch einen heuristischen Charakter hatte. Eine Theologie, die sich in den spanischen Stiefeln kantischer Logik bewegt, sieht darin nur Hirngespinste und neue Geisterseher vom Format Swedenborgs. Offenbarung in diesen Kategorien war dann bestenfalls eine Ausleuchtung dessen was in einen menschenmöglichen Sprach- und Bewusstseinshorizont treten konnte.

   Offenbarung ist aber nach den Kriterien Hans Urs von Balthasars eine Überwältigung nicht nur der Sinne, sondern auch des menschlichen Sprach- und Bewusstseinshorizonts. Und genau dies beschreibt Patrick Roth in der Grabesszene von Corpus Christi. Nicht nur dort, sondern in seinem ganzen Werk. Es ist eben kein bloß postmodernes Wortgeklingel, was nur literarisch entzückt, sondern eigentlich ein Aus- und Aufbruch in die Unsagbarkeit und Wortlosigkeit, eine das Mysterium „zur Sprache bringende“ moderne Glossolalie. Diese eigentlich sprachlose Sprache markiert das von dorther Ergriffenwerden. Es kommt Martin Bubers Übersetzung des Vorübergangs des Herrn am Berg Horeb gleich: Elija nahm nach der Epiphanie der Elementarmächte eine Stimme verschwebenden Schweigens wahr. Patrick Roth gleicht in dieser Hinsicht dem, was dem Propheten Elija widerfahren ist und dem Seher von Patmos. Er wird zu einem Seher des Christusereignisses zur Jahrtausendwende. Aus dem Karussell wilder Träume treten im Rahmen des christlichen Kerygmas Perspektiven hervor, die dem Hinaushängen ins Nichts (Heidegger) eine christliche Alternative entgegen setzen.

    Wenn all das berufene Gottesversteher nicht mehr oder zu wenig sagen oder erst gar nicht mehr gehört werden, rekrutiert Gott eben Bauchredner.

kath.net-Buchtipp:

Zeitgerecht statt zeitgemäß
Spurensuche nach dem Geist der Zeit im Zeitgeist

Von Helmut Müller
Hardcover, 244 Seiten
2018 Bonifatius-Verlag
ISBN 978-3-89710-790-8

Preis Österreich: 15.40 EUR


© 2020 www.kath.net