10. August 2020 in Kommentar
"Man muss Erzbischof Viganò nicht mögen, um zu gestehen, dass er Debatten auszulösen vermag. Viganò hat sich jüngst und in der gegebenen Deutlichkeit über jeden Zweifel erhaben als Traditionalist geoutet." - Der Montagskick von Peter Winnemöller
Rom (kath.net)
Man muss Erzbischof Viganò nicht mögen, um zu gestehen, dass er Debatten auszulösen vermag. Viganò hat sich jüngst und in der gegebenen Deutlichkeit über jeden Zweifel erhaben als Traditionalist geoutet. Eine solche Radikalkritik am II. Vatikanischen Konzil hat es zuletzt wohl von Erzbischof Lefebvre gegeben. Erzbischof Vigano sieht die Irrtümer nicht in Folge des Konzils, das heißt in der Interpretation desselben. Vielmehr sieht der frühere Nuntius in den USA die Irrtümer immanent in den Texten des Konzils. Das gerade ist das Merkmal, welches den Traditionalisten kennzeichnet, dass er das jüngste Konzil wegen Irrtümern in (einigen) Texten in seiner Gesamtheit ablehnt.
Der Erzbischof vertritt die These, das Zweite Vatikanische Konzil sei nicht katholisch gewesen. Die Zerstörung des Glaubens führt der Erzbischof auf das Konzil und nicht auf dessen Auslegung zurück. Einer Hermeneutik der Kontinuität erteilt er eine Absage, sie gebe es nicht. Ferner nimmt Viganò an, in Folge des Konzils sei eine Parallelkirche entstanden, diese sei der wahren Kirche Christi überlagert und diametral entgegengesetzt. Der Theologe John Cavadini hat den Ball aufgenommen und eine Debatte über das Konzil angeregt. Auch frühere Konzilien seien in der Kirche umstritten gewesen, bis sich ihre Lehre in der Kirche wirklich durgesetzt habe.
Das ist starker Tobak. Sowohl die Kritik als auch das Angebot einer Debatte über das Konzil sind in den vergangenen Jahren kaum denkbar gewesen. Seit dem Ende des Konzils sind nunmehr heute genau 54 Jahre und 223 Tage vergangen. Kaum jemand erinnert aus eigener Anschauung an die Kirche vor dem Konzil. Viele Änderungen des Konzils lagen in der Luft und waren teilweise praktisch schon vorweggenommen als Johannes XXIII. die Fenster der Kirche zur Welt hin öffnen wollte.
Das II. Vatikanische Konzil ist ebenso, wie alle anderen 20 ökumenischen Konzile vorher, nicht vom Himmel gefallen, sondern auf dem Humus der realen Kirche gewachsen. Wie jede Versammlung hat es seine ganz eigene Dynamik entwickelt und seinen Verlauf genommen. Die Kirche sieht sich durch den Papst und die Bischöfe vom Heiligen Geist geführt. Darum geht man bei einem ökumenischen Konzil davon aus, dass dies vor Irrtümern in Fragen der Glaubens- und Sittenlehre bewahrt bleibt.
Weder jeder Satz in einem Konzilsdokument noch jede Interpretation oder jede nachkonziliare Entwicklung sind zwingend unfehlbar. Wo aber ein Konzil, auch ein Pastoralkonzil, das kein Dogma verkündet hat, sich zu Glaubensfragen äußert, hat es irrtumsfrei zu sein. Viganò hat genau hier den Finger in eine Wunde gelegt, die schon zu lange schwärt. Enthalten die Dokumente nachweislich Irrtümer, ist das Konzil zur Gänze hinfällig. Darüber gibt es wohl kaum einen ernsthaften Streit. Zu streiten ist, ob das Konzil die Wahrheit lehrt oder nicht. Zu streiten ist, ob die Krise der Kirche tatsächlich direkt oder nur indirekt auf das Konzil zurück zu führen ist.
Vieles spricht dafür. Vieles spricht dagegen. Häufig nehmen – besonders jüngere – Konzilskritiker eine heile Kirchenwelt vor dem Konzil an. Das ist ein großer Irrtum. Die Liturgie war in einem erbärmlichen Zustand. Der Gedanke an eine Liturgiereform war ein so breiter Konsens in der Kirche, wie wir es heute kaum noch denken können. Schon Pius XII. hatte begonnen, sanfte Reformen einzuführen. Irgendwie haben es alle gewollt. Erst die Einführung des Novus Ordo Missae vor 50 Jahren rief einen so großen Schock hervor, dass man lieber das suboptimale Alte behalten als das offensichtlich verderbliche Neue annehmen wollte. Der Novus Ordo konnte sich nur durchsetzen, weil der Klerus nicht einmal näherungsweise so rebellisch war, wie es heute der Fall ist. Was die Oberen anordneten, das befolgte man. Es wurde viel Druck aufgebaut. Und viele jüngere Priester nahmen in der Tat auch die neuen Möglichkeiten nur zu gerne auf. Das Ergebnis ist bekannt. Die Liturgie versank in zweifelhaften Experimenten. Erst in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte eine nennenswerte Gegenbewegung ein, die die Liturgie wieder rite et recte gefeiert sehen wollte. Zu spät? Vermutlich war es das. Im Gegensatz zu radikalen Tradis nehmen gemäßigte der Tradition verhaftete Katholiken (übrigens auch in der Piusbruderschaft) an, dass nach dem Novus Ordo gültig und würdig die Hl. Messe gefeiert werden kann. Kritisiert wird in jedem Falle das Potential, Irrtümer zu verbreiten.
Die Liturgie ist der Marker, an dem man die faulen Früchte des Konzils zuerst erkennen konnte. Der fast völlige Glaubensschwund, den wir heute haben, ist eine Folge des jüngsten Konzils. Doch was ist die Quelle? Ist es das Konzil selber, sind es die Texte des Konzils, die fehlerhaft sind? Ist es eine falsche Interpretation des Konzils, seiner Texte, seiner Intentionen? War es klammheimlich vielleicht doch der „Geist des Konzils“, der alles verdorben hat. Papst Paul VI. sprach davon, dass der Rauch Satans durch einen Riss in die Kirche eingedrungen ist, um die Früchte des Konzils zu verderben. Wer heute auf diesen Satz schaut, versteht, was der Papst meinte. „Rauch des Satans“ mit „Geist des Konzils“ gleichzusetzen, wäre zumindest ein zu verfolgender Denkansatz.
„Das Konzil“ war bei traditionsverbundenen wie auch bei sogenannten progressiven Kräften innerhalb der Kirche unhinterfragbar. Das Bekenntnis zum Konzil kam knapp hinter dem trinitarischen Bekenntnis. Während die einen glaubten, das Konzil habe die Kirche in unsere Zeit gerettet, glaubten die anderen, das Konzil habe die Kirche erst erfunden. Debatten über das jüngste Konzil waren ebenso verboten, wie man den Eindruck hatte, dass es verboten war, Gaudium et spes weiter als bis zum dritten Satz zu lesen. Zitiert wird sowieso immer nur der erste Satz. Machen wir uns mal locker und wittern nicht hinter jeder kritischen Anfrage eine destruktive Absicht.
Mag man ein Fan von Erzbischof Viganò sein oder ihn diabolisieren wollen, eines scheint dem Erzbischof immer wieder zu gelingen: Unruhe zu bringen. Wenn es Erzbischof Viganò schaffen sollte, eine echte Debatte über das jüngste Konzil und dessen Folgen, die bis hinein in das gegenwärtige Pontifikat wirken, auszulösen, ist das zu loben. In den USA scheint sich eine Debatte um das jüngste Konzil anzubahnen. Wir sollten sie führen. Womöglich beginnt die echte Auseinandersetzung mit der letzten großen Kirchenversammlung erst dann wirklich, wenn wir nach 55 Jahren den „Geist des Konzils“ in Pension schicken. Wenn wir danach anfangen, die Texte des Konzils und die Texte der Heiligen Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. endlich ernst zu nehmen, könnte sich die Sicht auf das II. Vatikanische Konzil deutlich wandeln. Eine Hermeneutik der Kontinuität, wie sie Papst Benedikt XVI. postuliert hat, sollte zumindest ernsthaft geprüft werden.
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