Die Crux mit dem „C“

10. September 2020 in Kommentar


Christlich ist die Politik der CVP längst nicht mehr. Streicht sie auch noch ihr exklusives Markenzeichen aus dem Parteinamen, droht ihr der Fall in die Bedeutungslosigkeit. Von Dominik Lusser/Stiftung Zukunft CH


Winterthur (kath.net/Stiftung Zukunft CH) Auch wenn sich die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) heute als überkonfessionell versteht. Eine politische Grösse war sie stets nur wegen ihrer Stärke in den katholischen Gebieten: besonders in der Innerschweiz, im Wallis, im Tessin und in Freiburg. Die Ursprünge der CVP liegen im Widerstand der „Katholisch-Konservativen“ gegen die „Radikal-Liberalen“ während des Kulturkampfs im 19. Jahrhundert. Unter dem Namen Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei (KCV) errang sie 1963 mit einem Wähleranteil von 23,4 Prozent ihr bestes Ergebnis bei Eidgenössischen Wahlen.

Verrat am „C“

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden innerhalb der Partei Stimmen laut, aus dem „katholischen Ghetto“ auszubrechen, das „C“ aus dem Namen zu streichen und sich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. 1970 legte man sich allerdings auf den Namen CVP fest. Seit den 1980er-Jahren sind die Wähleranteile deutlich rückläufig. In den 1990er- und 2000er-Jahren verlor die Partei wertkonservative Wähleranteile an die Schweizerische Volkspartei (SVP). 2019 verzeichnete die CVP mit 11,4 Prozent der Stimmen ihr bis dato schlechtestes Wahlergebnis auf nationaler Ebene, womit sie hinter den Grünen nur noch als fünftstärkste Partei dasteht.

Gesellschaftspolitisch hat sich die Partei, mit Ausnahmen vor allem im Tessin und Wallis, in den letzten 20 Jahren zusehends dem linksliberalen Mainstream angenähert. Seither vertritt sie immer wieder Positionen, die mit christlichen Werten schlicht nicht mehr vereinbar sind. Ein erster Tiefpunkt in der jüngeren Parteigeschichte markiert die Abstimmung über die Fristenlösung von 2002. Die CVP selbst hatte das Referendum gegen die Legalisierung der Abtreibung ergriffen, was heute undenkbar wäre. Mehrere Kantonsparteien sowie die CVP-Frauen plädierten vor dem Urnengang allerdings schon damals für ein Ja zur Tötung ungeborener Kinder.

In Zusammenhang mit den Diskussionen um die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften kritisierte Kardinal Kurt Koch, damals Bischof von Basel, 2003 in einem Interview mit der Sonntags-Zeitung die Haltung der CVP: Es gehe nicht an, das „C“ im Namen zu tragen und gleichzeitig die Meinung zu vertreten, der Glaube sei eine Privatsache und habe mit Politik nichts zu tun.

Peinlich und aufschlussreich

Doch der Appell verhallte ohne Wirkung. Neuerdings setzt die CVP auch ihren Ruf als Familienpartei aufs Spiel. Im Februar 2020 zog sie ihre 2012 eingereichte Volksinitiative „Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe“ zurück, ein Schritt, den die NZZ als „ebenso peinlich wie aufschlussreich“ kommentierte. Ziel der Initiative war es, die steuerliche Benachteiligung von 700'000 Ehepaaren gegenüber Konkubinatspaaren zu beenden. Beiläufig hätte die Heiratsstrafe-Initiative die Ehe explizit als „Verbindung von Mann und Frau“ in der Verfassung verankert, was die Partei, in der die Stimmung innert weniger Jahre zugunsten der Homo-„Ehe“ gekippt war, vor ein grosses Dilemma stellte.

Um dem Wählerschwund Einhalt zu gebieten, verfolgt die Parteispitze im Rahmen des Strategieprozesses #CVP2025 ein doppeltes Ziel: Durch die Streichung des „C“ will man nicht-christliche Wählerstimmen gewinnen. Gleichzeitig bemüht man sich – ebenfalls unter der Bedingung dieses Namenswechsels – um eine Fusion mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP). Dabei ist die Frage mehr als berechtigt, ob die 2,5 Prozent Wähleranteil der zuletzt arg geschrumpften BDP die Preisgabe des „C“ tatsächlich wert sind. Dies umso mehr, als die ehemalige Bundesratspartei BDP in den letzten Jahren durch aggressive LGBT-Klientelpolitik von sich Reden gemacht hat und das Werterückgrat der CVP weiter schwächen dürfte.

Während der Historiker Markus Somm von einem „Marketing der Panik“ spricht, sieht sich CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister durch eine Umfrage bestärkt. Demnach sind 53 Prozent der Mitglieder seiner Partei, obwohl sie sich christlichen Werten verbunden fühlen, der Meinung, die Partei brauche einen neuen Namen. Für Pfister zeigt die Umfrage, die auch die Meinung der Stimmbevölkerung einbezog, dass die CVP von aussen nach wie vor als katholische Partei wahrgenommen wird. Und das scheint ausgerechnet ihn, der gesellschaftspolitisch eher dem konservativen Parteiflügel zuzurechnen ist, massiv zu stören: „Das ‚C‘ hält 80 Prozent der Stimmberechtigten davon ab, uns zu wählen, selbst wenn sie mit unserer Politik übereinstimmen.“

Die Umfrage zeigt aber ebenso, dass ein Namenswechsel auch relevante Verluste bei der angestammten Wählerschaft zur Folge haben könnte. Die Partei ist darum gespalten. Der Walliser Ständerat Beat Rieder ist der Meinung, der Namenswechsel einer grossen Volkspartei sei ein Zeichen der Schwäche. Er plädiert stattdessen für eine Profilschärfung. Die bislang heftigste Kritik an den Plänen der Parteileitung kam vom Luzerner Alt-Nationalrat Pius Segmüller. „Wenn das ‚C‘ gestrichen wird, trete ich aus der CVP aus“, sagte der ehemalige Kommandant der Päpstlichen Schweizergarde gegenüber der Luzerner Zeitung. Richtiger fände er es allerdings, wenn jene gingen, die sich am „C“ störten. Dessen ungeachtet hat die Parteileitung Anfang September die konturlose Bezeichnung „Die Mitte“ als neuen Namen vorgeschlagen. Darüber sollen die 80‘000 Mitglieder nun in einer Urabstimmung befinden.

Spiegelbild der Kirche

Ausgerechnet der Protestant Markus Somm sieht in der Debatte um das „C“ den „Kern der identitären Verwahrlosung, die die Partei ergriffen hat.“ Viel zu lange schon sei die Partei auf der Flucht vor sich selbst. Die CVP sei eine katholische, oder zumindest eine christliche Partei – „oder sie ist gar nichts“. „Moderne, Liberale, Progressive, Urbane, Sozialliberale, Grüne und Mitte: Davon gibt es unter den Politikern im Überfluss, aber Christen?“ In Anbetracht der Tatsache, dass die katholische Kirche nach wie vor die grösste Glaubensgemeinschaft der Welt und die Schweiz immer noch überwiegend ein christliches Land sei, fragt sich Somm, „warum ‚christlich‘ für die CVP nicht mehr gut genug ist.“ Die CVP hat nach der Einschätzung des Historikers nicht deswegen Wähler verloren, weil sie diesen zu katholisch oder zu konservativ vorgekommen sei, sondern im Gegenteil, weil sie sich zu sehr dem Zeitgeist ausgeliefert habe.

Der gesellschaftspolitische Linksrutsch der Partei betrifft aber nicht nur die vielen Mitglieder, die sich der Kirche längst entfremdet haben. Der Solothurner CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt, Mitglied der Bioethikkommission der SBK, stimmte am 11. Juni 2020 ebenso für die „Ehe für alle“ inklusive Adoptionsrecht wie seine Luzerner Parteikollegin Priska Wismer-Felder, die in ihrer Pfarrei als Kommunionhelferin und Lektorin wirkt. Die beiden sind keine Einzelfälle. Erstaunen vermag dies freilich nicht, hatte doch die Schweizer Bischofskonferenz im Juni 2019 erklärt, die zivilrechtliche Ehe gehöre nicht zu ihrem Zuständigkeitsbereich und wolle daher auf eine Stellungnahme zum Gesetzesprojekt „Ehe für alle“ verzichten. Ein Indiz dafür, dass sich die Bischöfe auch im Wesentlichen nicht mehr einigen können, weil ein Teil von ihnen – genauso wie die CVP – den christlichen Wertekompass verloren zu haben scheint. Beispielsweise der Basler Bischof Felix Gmür, seit 2019 Präsident der SBK, der im August 2019 über seinen Pressesprecher verlauten liess, der zivilrechtlichen „Ehe für alle“ positiv gegenüberzustehen.

CVP für alle?

Es liegt nahe, den Niedergang der CVP auch als Spiegelbild der tiefen Krise zu sehen, in der sich die katholische Kirche in der Schweiz seit Jahrzehnten befindet und die sich nun immer mehr zuspitzt. Eine Kirche, die für alles Mögliche offen ist und keine klaren Konturen mehr zeigt, verliert ebenso an Anziehungskraft wie eine Partei, die ihren Namen und ihre Prinzipien verrät, um in fremden Gewässern auf Stimmenfang zu gehen.

Unter dem Titel „CVP für alle“ beschrieb die NZZ im Februar 2020 den laufenden Reformprozess der CVP als einen „Spagat“: „Die konservativen Stammwähler bei Laune halten und gleichzeitig eine moderne Politik machen, die ein junges, urbanes Publikum anspricht.“ Richten soll es unter anderem die neue Fraktionspräsidentin und Luzerner Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger, Schwägerin von Bischof Gmür. Der Glaube sei persönlich und habe mit Politik nichts zu tun, findet die 55-jährige vierfache Mutter. „Auch nicht mit CVP-Politik“, wie sie gegenüber der NZZ erklärte. Das „C“ stehe für christliche Werte, nicht für die Religion. Sie selbst möchte das „C“ beibehalten, lehnt die Diskussion über eine Namensänderung aber nicht grundsätzlich ab. Gleichzeitig gehörte Gmür-Schönenberger aber zu den Ersten, die sich in der CVP zu Gunsten der „Ehe für alle“ aussprachen.

So sieht das Ergebnis einer Politik der „christlichen Werte“ aus, die nichts mehr mit dem christlichen Glauben zu tun haben dürfen. Möglicherweise aus einer übersteigerten Angst heraus, dem Nichtgläubigen per Gesetz eine Glaubenswahrheit aufzuzwingen, oder aufgrund eines fragwürdigen Verständnisses der Trennung von Kirche und Staat bzw. Glaube und Politik – das man als politische „Schizophrenie“ bezeichnen könnte, wird nicht nur dem Glauben jede Einflussnahme auf die Politik untersagt, sondern nicht selten auch dem gesunden Menschenverstand. Eine Schuld trifft hier wiederum jenen Teil der Kirche, der es nicht mehr für zeitgemäss hält, sich auf das Naturrecht zu berufen. Gmür-Schönenberger ist nicht die Einzige, die das differenzierende christliche Menschenbild mit dem Gleichheitswahn der Linken zu verwechseln scheint, der alles mit der Guillotine zurechtstutzt, was – wie die Ehe von Mann und Frau – als besonders und darum besonders schützenswert hervorsticht. In der Quintessenz wird man so zum Adepten einer säkularistischen Zivilreligion mit ihrem obersten Dogma, dem Werterelativismus. Gerechtigkeit und Gemeinwohl bleiben auf der Strecke. Es liesse sich an zahlreichen weiteren Beispielen zeigen: „CVP für alle“ ist nicht bloss ein Spagat, sondern eine halsbrecherische Trapeznummer.

Fall in die Bedeutungslosigkeit?

Darauf deutet auch die zahlenmässige Entwicklung hin: Im Nationalrat, in dem die Kantone anteilsmässig zur Bevölkerung vertreten sind, hat die CVP gerade noch 25 von 200 Sitze. 1963 waren es 48. Zudem stellt sie seit 2003 nur noch einen Bundesrat. Was der CVP statistisch nach wie vor Gewicht verleiht, ist ihre Stellung im Ständerat, wo jeder Kanton durch zwei Mitglieder vertreten ist. Im sogenannten Stöckli ist die Partei – dank ihrer ungebrochenen Dominanz in den kleinen katholischen Kantonen – mit 13 von 46 Sitzen immer noch die stärkste Kraft.

Die CVP hat also noch einiges zu verlieren – oder auch zu retten. Dass ihr die Streichung ihres exklusiven Markenzeichens aus dem Parteinamen dabei helfen könnte, ist schwer vorstellbar. Im Gegenteil: Nicht wenige Beobachten sind der Auffassung, dass die CVP ohne „C“ definitiv in die Bedeutungslosigkeit absinken könnte. Das „C“ zu behalten und so weiter zu politisieren wie in den letzten Jahren, ist aber ebenfalls keine glaubwürdige Option.

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Der Autor leitet den Fachbereich Werte und Familie bei der Stiftung Zukunft CH: www.zukunft-ch.ch

 


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