17. September 2020 in Interview
Gesprächsband von Martin Lohmann mit Gerhard Kardinal Müller - Martin Lohmann im kath.net-Interview zum neuen Buch: „In den vergangenen Monaten meinten ja manche, die DNA der Kirche ganz woanders suchen und finden zu müssen“
Köln-Rom (kath.net) Es sei eine „notwendige Provokation, ein Herausrufen aus der Selbstbetäubung, die es leider vor allem in der Kirche in Deutschland“ gebe, sagt Martin Lohmann zu seinem neuen Buch, das er gemeinsam mit Ludwig Kardinal Müller geschrieben hat. kath.net sprach exklusiv mit dem katholischen Publizisten und Theologen, dessen Wahlspruch seit Jahrzehnten die bekannte Stelle aus dem Johannes-Evangelium 8,32 ist: Veritas Liberabit Vos - Die Wahrheit macht frei.
kath.net: Herr Lohmann, Ihr neues Buch kommt pünktlich zum Herbst eines auch für die Kirche herausfordernden Jahres heraus. Es ist ein weit gespanntes Gespräch mit dem deutschen Kardinal Ludwig Müller, dem ehemaligen obersten Glaubenshüter der Kirche. Es trägt den einfachen Titel „Wahrheit.“ Im Untertitel lesen wir: Die DNA der Kirche. Warum dieser ebenso schlichte wie provozierende Titel?
Martin Lohmann: Sie haben recht. Dieser Titel ist ebenso selbstverständlich wie herausfordernd. Vor allem aber ist das, worum es hier geht, so dringend notwendig. Nehmen Sie das ruhig ganz wörtlich: die Not wendend. Denn in der Kirche gibt es tatsächlich die bei Licht betrachtet erkennbare Gefahr, dass der Geschmack für Gott und die Treue zur Wahrheit verdunstet. Viele wissen gar nicht mehr, dass zum Beispiel Jesus von Nazareth nicht nur Jesus war, sondern auch der Christus, der Gottessohn. Und dieser hat mit der Vollmacht seines Seins zum Beispiel gesagt, er sei der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand komme zum Vater außer durch Ihn.
kath.net: Warum betonen Sie das so?
Lohmann: Ganz einfach und ersichtlich ist doch: Das geht mehr und mehr verloren, weil der Wesenskern der Kirche Jesu Christi aus dem Blick gerät und das Bewusstsein viele zu verlassen scheint. Aber es gilt, und hier möchte ich mir eine gedankliche Anleihe bei Karl Rahner erlauben, der einmal davon sprach, dass der Christ der Zukunft Mystiker sein werde – oder nicht mehr sein wird, doch heute: Die Kirche der Zukunft wird Kirche Jesu Christi sein – oder nicht mehr sein. Ich weiß sehr wohl, dass die Kirche Christi eine Zukunftsgarantie hat und die Pforten der Unterwelt sie nicht überwältigen werden. Aber das ist keine Territorialgarantie. Ein Blick in den Norden Afrikas, wo es mehrere hundert blühende Bistümer gab zu Zeit Augustins, lehrt uns Vorsicht.
kath.net: Weil man bei Ihnen der entsprechende Stelle aus dem Johannes-Evangelium immer wieder begegnet und Sie sich dieser Aussage offenbar besonders verpflichtet wissen: War das der Grund, warum Sie diesen Buchtitel gewählt haben?
Lohmann: Ich wollte etwas mit „Wahrheit“ haben, aber diesen so prägnanten Buchtitel bekam ich eines Tages von Kardinal Müller geschenkt, samt Untertitel. Der Buchtitel war seine Idee. Und da wusste ich: Das ist es. Auch deshalb, weil ja in den vergangenen Monaten manche meinten, die DNA der Kirche ganz woanders suchen und finden zu müssen. Die wirkliche und einzige DNA der Kirche ist aber nun mal die Wahrheit, die von Christus verkündet wurde und auf Gott selbst verweist. Und diese Wahrheit, gerade weil sie von Gott selbst kommt, war, ist und bleibt der Maßstab.
kath.net: Wie kam es denn zu diesem außergewöhnlichen Buch? Haben Sie den Kardinal einfach einmal angesprochen?
Lohmann: Ja. Wir kennen uns seit Jahrzehnten ganz gut. Der Kardinal war schon in den 90er Jahren mein Gast in der Live-Sendung „Münchner Runde“ im Bayerischen Fernsehen. Wir sind uns immer wieder begegnet, nicht zuletzt im Neuen Schülerkreis von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt, zu dem ich gehören darf. Ich habe die Klarheit der Gedanken und den Mut, die Wahrheit im Blick zu haben, bei Kardinal Müller immer als etwas Kostbares empfunden. Und ich kann sagen, dass die Zusammenarbeit mit ihm stets sehr unkompliziert und wertschätzend war. So auch bei diesem Buch, wo das gegenseitige Vertrauen hilfreich gewesen ist.
kath.net: Was ist denn das Besondere an diesem Buch?
Lohmann: Die Weite der Gedanken, der große Bogen, der geschlagen wird, und die ebenso genaue wie verständliche Sprache. Mir war es wichtig, dass der häufig nicht ganz maßstabsgerecht gesehene und verstandene Kardinal zunächst einmal als der Mensch rüberkommt, der er schließlich auch ist. Deshalb äußert er sich in diesem Gespräch auch außergewöhnlich offen über seine Kindheit, seine Familie, seine Herkunft und seinen wachsenden Weg im Glauben. Da begegnet einem ein gleichermaßen gebildeter wie im besten Sinne kindlich gläubiger Mann, der über eine reiche Bildung und ein faszinierendes Wissen verfügt. Wer dieses Buch liest, muss wahrscheinlich manche Klischees platzen lassen, denn hier wird mentales und energiereiches Schwarzbrot angeboten, kein labberiger Toast.
kath.net: Die Atmosphäre zwischen Ihnen war also offen und gut?
Lohmann: Ja, und ob. Vor allem war sie – was vor allem mich als den Gesprächspartner des Kardinals betrifft – von einem nirgendwo gebremsten oder ausgebremsten Interesse geprägt. Als die Druckfahnen noch einmal gelesen wurden, fiel nicht nur mir auf: Ludwig Kardinal Müller verbindet vieles, wonach heute in der Kirche viele regelrecht suchen: Analytisch, persönlich, wissenschaftlich, verständlich, menschlich, glaubensstark, unbestechlich, schonungslos gegenüber allem Falschen und nicht zuletzt mutmachend. Es ist kein Jammerbuch, sondern ein Lichtbuch. Es ist auch eine Art Lehrbuch des Wesentlichen entstanden. Das Buch macht Mut, sich auf Gott einzulassen und jeder Resignation zu widerstehen. Das Buch hat für alle, die sich ehrlich um die Kirche Jesu Christi sorgen und kümmern, etwas wunderbar Verbindliches. Nichts Billiges, nicht Banales, nichts Zeitgeistergebenes. Dieses Buch macht, wenn man es mit innerer Freiheit und Sorgfalt liest, mit seinem notwendigen Inhalt wirklich Mut und schenkt Kraft. Und man kommt selbst zu der am Ende auch entsprechend formulierten Erkenntnis: Nur die Wahrheit macht wirklich frei. Und diese Freiheit sollte jetzt bald gelebt werden, gelebt werden können.
kath.net: In Ihren Vorträgen und den von Ihnen veranstalteten Seminaren, Herr Lohmann, befassen Sie sich ja in letzter Zeit verstärkt mit dem Verhältnis von Glaube und Vernunft. Und mit der Frage nach der Wahrheit. Da wird ja gerne - wenn man so sagen darf - mit einer gewissen Gegensätzlichkeit und gegenseitigem Ausschluss von Wissen und Glauben argumentiert. Spielte das in Ihrem Gespräch mit dem Kardinal auch eine Rolle?
Lohmann: Selbstverständlich. Diese Passagen halte ich für besonders lesenswert. Der Kardinal macht, wie eigentlich alle wirklich gebildeten und vernünftigen Gelehrten, sehr deutlich, dass dieser heute noch wirksame und immer wieder kultivierte Gegensatz zwischen Ratio und Fides in Wirklichkeit etwas sehr Unreifes und Torsohaftes ist. Zum ganzen – ich möchte hinzufügen: zum ganzen und wirklich aufgeklärten – Menschen gehört eben beides: die Vernunft und der Glaube. Nichts ist schließlich vernünftiger als der Glaube, und nichts ist glaubensintensiver als die Ehrfurcht vor dem Ursprung, dem Urquell der Vernunft, die Gott selber ist.
kath.net: Darüber sprachen Sie ja bereits in den 90er Jahren mit dem damaligen Kardinal Ratzinger, wenn ich das recht erinnere.
Lohmann: Stimmt. In einem Gespräch, das in meinem Buch „Maximum“ dokumentiert ist, sagte er 1996: „Es ist eine Reduktion der Vernunft erfolgt, weil sie zunächst einmal vom Glauben abgedrängt wurde und nur rein in sich selbst (…) bestehen sollte. Das heißt, sie ist bewusst schwerhörig geworden gegenüber anderen Realitäten“ und allem, „was aus Offenbarung und Glauben herauskommt.“ Ratzinger sprach damals davon, dass eine „Art Schizophrenie“ entstanden sei und als vernünftig nur das Experimentierbare übrigbleibe: „Alles andere, die großen Menschheitsfragen und Fragen des einzelnen, werden ins Irrationale abgeschoben, und damit muss die Menschheit in ihrem Wesentlichen irrational werden.“
kath.net: Vernunft und Glaube zu versöhnen, das war ja das große Anliegen von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt.
Lohmann: Richtig, und es ist auch das große Anlegen von Kardinal Müller. Auch er ist davon überzeugt, dass die Versöhnung von Vernunft und Glaube, von Vernunft und Religion zu einer gegenseitigen Reinigung und Heilung führen kann. Denken Sie bitte daran, dass selbst ein Jürgen Habermas, der Kant für einen ganz Großen hält und weiß, dass dieser keineswegs die Religion abschaffen und durch eine kalte Vernunftreligion ersetzen wollte, davon spricht, dass die „verlorene Hoffnung auf Resurrektion“ eine „spürbare Leere“ hinterlassen habe. Und da ist dieser Philosoph, was weithin gar nicht so im Bewusstsein ist, nicht allein.
kath.net: Können Sie Beispiele nennen?
Lohmann: Gerne. So ist auch ein Volker Gerhardt ist der Überzeugung, dass die Wissenschaft ohne Glaube nicht auskomme. Warum? Weil sich das definierte Wissen auf die Welt beziehe, der Glaube aber - ich möchte sagen: tiefergehend - darauf, ob dieses Wissen auch wirklich zutrifft. Der Philosoph meint sogar, dass der Glaube in Kombination mit Wissen - und umgekehrt - dem Menschen von heute eine Steigerung der Selbstreferenz des Individuums biete - und einen höheren Freiheitsgrad vermitteln kann.
kath.net: Sie beschreiben etwas, was offensichtlich weithin nicht so bekannt zu sein scheint.
Lohmann: Ja, in der Tat. So scheint es zu sein. Sie sehen aber: Die Wahrheitsfrage hat ganz konkrete Implikationen für unser Leben und ist von der Freiheitsfrage nicht zu trennen. Um es noch einmal deutlich zu machen, dass wir hier nicht von einem rein kirchlichen Thema sprechen, vielmehr die DNA der Kirche allen zugänglich sein kann, verweise ich erneut auf Habermas und seinen Gedanken, dass die Vernunft allein entscheidende Lücken in existentiellen Fragen hinterlässt. Die Kirche hat, wenn sie die Wahrheitsfrage nicht durch eine volatile Haltungsfrage ersetzt, eine absolut heutige und tragfähige, weil gültige und bleibend wahre Botschaft für alle. Wenn Sie so wollen: Die Wahrheitsbotschaft der Kirche ist das Nachhaltigste, was es gibt. Auch der Philosoph Holm Tetens, und nicht nur er, gibt zu bedenken, dass der Mensch als Geschöpf eines gnädigen Gottes mehr ist als nur eine hochkompliziert organisierte Materie einer rein materiellen Welt. Noch einmal: Nur die Wahrheit macht wirklich frei.
kath.net: Und dabei hilft die Lektüre Ihres Buches mit Kardinal Müller?
Lohmann: Mit einem dicken Dankeschön an Kardinal Müller sage ich jetzt: Wohl wahr!
kath.net-Buchtipp:
Wahrheit - Die DNA der Kirche
Von Lohmann Martin; Müller Gerhard Kardinal
Hardcover, 344 Seiten;
2020 Fe-Medienverlag
ISBN 978-3-86357-277-8
Preis Österreich: 20.40 EUR
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