Schönstatt-Gründer Pater Kentenich ein Missbrauchstäter?

17. September 2020 in Chronik


Was wirklich in der Vatikan-Akte steht. Gastbeitrag von Michael Hesemann


München (kath.net) In diversen Veröffentlichungen unterstellte die italienische Historikerin Alexandra von Teuffenbach dem Gründer der Schönstatt-Bewegung, Pater Josef Kentenich (1885 – 1968), Schönstätter Marienschwestern sexuell missbraucht zu haben. Die Missbrauchsvorwürfe, so von Teuffenbach, seien der wahre Grund für das lange Exil des Gründers in Milwaukee/USA, was heutzutage von der Schönstatt-Bewegung bewusst verschwiegen würde. Zum Beweis für Ihre Anschuldigungen beruft sich die Historikerin auf Dokumente im Vatikanarchiv, die sie im Juni 2020 einsehen konnte. Dabei versäumte sie es bislang, die entsprechenden Dokumente näher zu zitieren oder gar wissenschaftlich zu publizieren.


Da ich selbst als Historiker in den vatikanischen Archiven zum Pontifikat Pius XII. forsche, ist mir zumindest die wichtigste Akte, die Frau von Teuffenbach entdeckt hat, nicht ganz unbekannt; ich konnte sie ebenfalls Ende Juni einsehen, mittlerweile liegen mir Kopien vor. Sie befindet sich im Bestand der Apostolischen Nuntiatur „Berlin“, obgleich diese, mit der Gründung der Bundesrepublik 1949, längst nach Bad Godesberg verlegt worden war. Um es vorweg in aller Deutlichkeit zu sagen: Nichts in dieser bislang geheimen Akte und internen Korrespondenz deutet auf einen sexuellen Missbrauch, auf einen Verstoß des Pallottinerpaters Kentenich gegen sein Keuschheitsgelübde, hin. Der Grund für sein Exil war ein ganz anderer.


Wie Heinrich von Meurers, Generalvikar des Bistums Trier, am 7. Juli 1950 an den designierten Nuntius Pater Ivo Zeiger schrieb, waren es der autoritäre Führungsstil Pater Kentenichs, sein patriarchales Familienverständnis, das er auch auf die Schönstatt-Familie übertrug und die „devote Hörigkeit“ der Schönstätter Marienschwestern, die bemängelt und beim Heiligen Stuhl angezeigt wurden. Von Meurers: „Man sieht jedenfalls dadurch, dass P. Kentenich zur Zeit absolut die Schwestern-Kongregation beherrscht, und dass alles geschieht, was er haben will. Das darf doch bei einer so großen Genossenschaft von über 1000 Schwestern nicht mehr möglich sein, dass alles nur von einem Willen abhängt…“


So ermahnte Erzbischof Dr. Rudolf Bornewasser Pater Kentenich am 16.1.1950 persönlich, dass „der Pflege einer selbständigen und starken Persönlichkeit“ in seiner Bewegung „die allzu starke, überbetonte und in den letzten Jahren bewusst herausgestellte Abhängigkeit ... von dem Gründer und Leiter des Schönstattwerkes hindernd und einschränkend im Wege“ stünde: „Sie muss ganz erheblich und (sic!) zurückgeschraubt werden.“ Kentenichs Vorstellung, dass der Vater Oberhaupt und Bestimmender einer Familie sei, erklärt er eine Absage zugunsten der Mutter. Das gelte auch für das Verhältnis der Oberinnen zum Gründervater. Pater Kentenich wies diese Vorwürfe in seinem Antwortschreiben vom 2.2.1950 zurück: „Die Größe echten Führertums besteht darin, sich überflüssig zu machen.“ Er selbst plane, nur noch einige Monate in Deutschland zu bleiben und sich dann vermehrt um die überseeischen Schönstatt-Institute zu kümmern. Wahrscheinlich war ihm selbst unangenehm, wie sehr er von einigen Schwestern nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager Dachau „vergöttert“ wurde.


Auch Weihbischof Bernhard Stein, der im Auftrag von Bischof Bornewasser das Schönstatt-Institut in Vallendar im Februar 1949 einer Visitation unterzog, bemängelte zwar das „diktatorische“ Regime des Ordensgründers, der die Schwestern in „Mütter“ (Ordensobere) und „Töchter“ aufteile und unbedingten Gehorsam fordere, ja sie zu „willenlosen Werkzeugen“ degradiere – von sexuellen Übergriffen aber ist in seinem damals geheimen Bericht nirgendwo die Rede.


Aus weiteren Dokumenten geht hervor, dass modern eingestellte deutsche Bischöfe sich speziell an der zum Teil eigenwilligen, zum Teil als antiquiert empfundenen Terminologie der Bewegung störten. Begriffe wie „Lieblingsschöpfung“ und „auserlesenes Werkzeug“ für das „Schönstattreich“ würden den Eindruck von „Einseitigkeit, Ausschließlichkeit und Überheblichkeit“ erwecken. Im Gebets- und Liedgut solle „alles Kitschige und Sentimentale unterbleiben“. Auf der anderen Seite schätze man die Früchte des Werkes, das man auf jeden Fall erhalten und in diözesane Strukturen integrieren wollte – nur eben ohne den als zu mächtig empfundenen Gründer.


Der erste Versuch, Pater Kentenich in die Schranken zu weisen, erfolgte beim General der Pallottiner in Rom, dem er nach wie vor unterstand. Obwohl das Verhältnis als „gespannt“ bezeichnet wurde, blieb aus verschiedenen Gründen die beabsichtigte Visitation durch einen Ordensoberen aus. So wurde das Heilige Offizium, die heutige Glaubenskongregation, bemüht, das schließlich am 14. März 1951 den Jesuitenpater Sebastian Tromp, einen Professor an der Gregoriana, als Visitator entsandte. Das gemeinsame Ziel sei, wie Weihbischof Stein in einem Memorandum vom 9.2.1951 schrieb, „das Schönstattwerk durch die Absetzung von P. Kentenich zu retten.“


Was wirft man ihm vor? Auch hier wieder, dass er sich nicht an die Weisungen der deutschen Bischöfe hält. Wörtlich: „Er hat sich, soweit mir bekannt ist, bisher noch nie vor seiner Gefolgschaft auf den Boden einer aufrichtigen Gehorsamshaltung gegenüber den Bischöfen gestellt. Im Gegenteil, seine Ansprachen und Vorträge lassen immer wieder durchblicken, dass nach seiner Überzeugung die Bischöfe im Unrecht sind und er im Recht ist, weil sein Werk sich in seiner bisherigen Geschichte ganz klar als Gotteswerk erwiesen habe.“ Man beachte: Selbst in einem internen, streng vertraulichen Memorandum für den Visitator wird nicht der geringste Verdacht auf sexuellen Missbrauch geäußert.


Pater Tromp SJ, der Visitator, ist das Fachgebiet Frau von Teuffenbachs, die seinen Nachlass wissenschaftlich auswertet. Es ist also verständlich, wenn sie sein Vorgehen in Vallendar allein aus seiner Perspektive schildert. Da ich nur die Akte im Vatikanarchiv kenne, nicht aber die persönlichen Aufzeichnungen des Paters, kann ich nicht bewerten, ob dieser wirklich an sexuelle Verfehlungen Pater Kentenichs glaubte. Jedenfalls soll eine einzelne Schwester Tromp gegenüber ausgesagt haben, der Gründer habe ihr erklärt, dass auch ihre Brust „dem Vater“ (wobei offen ist, ob damit Gottvater oder er selbst gemeint war) gehört. Ihre Mitschwestern sahen in ihr eine Hysterikerin, die etwas als anzüglich empfand, das eigentlich nur geistlich gemeint war. Es gab, so denke ich, in der Kirchengeschichte größere Skandale.


Ein ganz anderes Bild ergibt sich freilich nach Studium der vatikanischen Dokumente, die eher ein ungünstiges Licht auf Pater Tromp werfen. Ich wäre auch hier skeptisch, wenn mir nicht Zeitgenossen das cholerische Temperament des niederländischen Jesuiten bestätigt hätten. So finden sich in den letzten 14 Seiten der „Schönstatt“-Akte im Vatikanarchiv vier Beschwerdebriefe von Schönstattschwestern über das als übergriffig empfundene Verhalten Tromps.


Darunter ist auch ein persönlicher Brief einer der engsten Mitarbeiterinnen Pater Kentenichs, der Theologin und Studienassessorin Sr. M. Blandina, die von Pater Tromp genötigt werden sollte, dem Ordensgründer „Überheblichkeit und Ehrfurchtslosigkeit der kirchlichen Autorität gegenüber“ zu bescheinigen. Trotz des „förmlichen Zwangs“ durch den Visitator weigerte sie sich aus Gewissensgründen, was dieser ihr wiederum als Stolz auslegte. Immer wieder erlebte sie, dass Tromp „keinerlei Widerspruch“ duldete, jede Entgegnung unterbrach und schnell „in heftige Erregung“ geriet. Aus Angst vor weiteren cholerischen Ausbrüchen zog sie es schließlich vor, sich ihm am 4. Januar 1953, kurz vor Abschluss der Visitation, besser schriftlich mitzuteilen.


Ein weiteres Dokument zitiert die Aussagen dreier Schwestern, die Zeugin eines cholerischen Anfalls von Pater Trump wurden. Weil ein Mädchen der Schönstattjugend es gewagt hatte, nach der Weihnachtsfeier vor seinem Zimmer zu stolpern, wurde gleich die ganze Mädchengruppe von ihm wüst als „Schweinebande“ und „Ferkel“ beschimpft. Andere Schwestern berichteten, dass der Visitator in ihrem Beisein gerne anzügliche Witze erzähle, die „unser Schicklichkeitsempfinden stark störten“. Eine Provinzialoberin war dadurch so unangenehm berührt, dass sie „Am liebsten … aus dem Zimmer gegangen“ wäre – hätte nicht ihr Respekt vor seinem Amt das verhindert.


Das erschütterndste Dokument der „Schönstatt“-Akte im Vatikanarchiv ist ein sechsseitiges persönliches Schreiben der Provinzialoberin von Vallendar, Sr. M. Annette Nailis, an Papst Pius XII. vom 21. November 1952. „Mit jedem Besuch des Hochw. Herrn Visitators, Pater Seb. Tromp, wird unser Leid drückender und unser Schmerz größer“, klagt sie. „Das währt nun schon 16 Monate, für ein Frauengemüt fast unerträglich… Manche unserer besten Schwestern drohen körperlich und seelisch zusammenzubrechen.“ Nicht die Visitation an sich sei dabei das Problem, sondern Person und Methode Pater Tromps, der eine so abgrundtiefe Abneigung gegen Pater Kentenich hege, dass „jede sachliche Verhandlung … von vornherein unmöglich ist.“ So habe dieser den Schwestern gegenüber ihren Gründer als „geistesgestört, bald als Rebell, Starrkopf oder Diktator“ bezeichnet und jeden Widerspruch „in leidenschaftlicher Unbeherrschtheit“ abgeschmettert: „Zitternd und hochrot vor Zorn, mit geballten Fäusten, stand er oft vor uns“. Damit verspielte er das Vertrauen der Schwestern, die einfach nur noch Angst vor ihm hatten: „Wer versuchen wollte, aufzuklären, wird als widerspenstig angesehen und muss fürchten, seines Amtes enthoben zu werden.“ So würden „Strafen verhängt für Vergehen, die nie begangen worden sind“; sie alle fühlten sich „eingeschüchtert und bedrückt“.


Während die Schwester Oberin zwar „Andeutungen“ des Visitators über die „sittliche Integrität“ Pater Kentenichs erwähnt, ist auch in diesem Brief nirgendwo von sexuellem Missbrauch die Rede – obwohl der Papstbrief doch die beste Gelegenheit gewesen wäre, den geliebten Gründer zu verteidigen. Das hält die Provinzialoberin aber nicht für nötig, denn dem Papst und ihr war offenbar bekannt, dass die „Verbannung“ des Paters nach Milwaukee/USA einen ganz anderen Grund hatte: Sie war die „Strafe dafür, dass er im September 1951 einen Exerzitienkurs für eine Organisation, die zum Schönstattwerk gehört, gehalten hat. Das war ihm aber in keiner Weise, weder mündlich noch schriftlich, vorher untersagt worden.“ Gehorsam folgte er der Order, ohne sich auch nur von seinen langjährigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen verabschieden zu dürfen.


Audiatur et altera pars. Die Visitation allein aus der Perspektive Pater Tromps zu schildern ist sicher historisch unsauber. Gut möglich, dass ihm tatsächlich eine einzelne Schwester, wie glaubwürdig sie auch immer sein mag, von einer zumindest in ihren Augen missverständlichen Formulierung von Pater Kentenich berichtet hat. Der „geheime Grund“ für sein Exil, ja das „Familiengeheimnis“ von Schönstatt, ist das mit Sicherheit nicht. Man mag über den patriarchalen Führungsstil Pater Kentenich streiten. Man mag auch den manipulativen, herrischen und jähzornigen Umgang des Visitators mit den Schwestern kritisieren. Daraus einen Missbrauchsskandal zu konstruieren, entbehrt aber zumindest nach Durchsicht dieser Akte jeder Grundlage.

 

Archivfoto Pater Kentenich (c) gemeinfrei

 

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