21. September 2020 in Aktuelles
Von wegen ‚reaktionär’. Der letzte ‚Papa Re’ sah die Schrecken des 20. Jahrhunderts voraus und stellte nach der Dürre der Aufklärung die Volksfrömmigkeit wieder her. Ein Gespräch mit Walter Kardinal Brandmüller. Von Armin Schwibach
(Rom kath.net/as/wb) 150 Jahre „Breccia di Porta Pia“, der Durchbruch am römischen Stadttor, mit dem der weltlichen Macht des Papstes und dem Kirchenstaat ein Ende gesetzt wurden. Mit diesem Ereignis am 20. September 1870 wurde die Annexion Roms an das junge Königreich Italien sanktioniert. Der Kirchenstaat als historisch-politische Einheit kam damit zu seinem Ende.
Bis zum heutigen Tag werden diese Ereignisse in Italien heftig und kontrovers diskutiert. Nicht zuletzt wird dabei die Gestalt des großen und seligen Papstes Pius IX. (13. Mai 1792-7. Februar 1878) in den Blick genommen, dies immer wieder verbunden mit ideologischen und politischen Interessen. Sein Pontifikat ist mit 31 Jahren, 7 Monaten und 23 Tagen nach dem des Apostels Petrus das längste in der Geschichte der Kirche. Pius IX. markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte, an dem auch deutlich wird: das eigentlich Katholische, das Wesentliche und die große Dimension kann nicht mit oberflächlichen Kategorien wie „konservativ“ – „progressiv“ erfasst werden.
Es lohnt sich immer, über die Geschichte mit einem der großen Kirchengeschichtler unserer Zeit zu sprechen. Der Professor und Kardinal Walter Brandmüller ermöglicht als „Ausländer“ einen ausgewogenen und vertieften Blick auf wesentliche Aspekte.
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Die Kritiker des Syllabus unserer Zeiten sollten in der Lage sein, die Absichten Pius’ IX. zu begreifen, indem sie das Dokument hinsichtlich dessen lesen, was es intendiert. Eines muss gesagt werden: unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation war die literarische Form des Syllabus völlig falsch und katastrophal, ein echter und enormer „Medienflop“. Dann: die so sehr in Mode gekommenen Vorwürfe, das Dokument hätte so viele Errungenschaften der Neuzeit „verdammt“, sind auf eine unangemessene Lektüre zurückzuführen, die der scholastisch-theologischen Sprache nicht mächtig ist.
Walter Kardinal Brandmüller: Pius IX., Porta Pia und der Syllabus. Von wegen ‚reaktionär’:
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich Nicht-Italiener bin. Ich spreche daher als Ausländer, dem die oft heiß diskutierten Erfahrungen und Sichtweisen auf die Geschichte von Pius IX. als Italiener fehlen. Daher fühle ich mich von den eher nationalen und politischen Fragen distanziert. Um Pius IX. in seinem Handeln als Pfarrer der Weltkirche zu verstehen, muss man ihn stattdessen in seinem ganzen historischen Kontext sehen. Zu seiner Zeit gab es eine Explosion der technischen/technologischen und industriellen Entwicklung mit den bekannten Folgen für die Gesellschaft. Es gab den Einfluss der Philosophie des Deutschen Idealismus, von Karl Marx, den damaligen Protagonisten der neuen und mächtigen Naturwissenschaften, die darauf beharrten, einen ausgeprägten und aggressiven Materialismus zu lehren, der sogar so weit ging, die rationale Natur des Menschen zu leugnen, indem sie den bekannten Ausspruch Ludwig Feuerbachs für selbstverständlich hielten: „der Mensch ist, was er isst“, oder: das Denken verhält sich zum Gehirn wie der Urin zu den Nieren.
Dann: Pius IX. war der erste Papst, der sich der Entwicklung der Kirche in den „entlegenen“ Teilen der Welt stellte: Australien, Ozeanien, Vereinigten Staaten von Amerika und andere Länder. Seine „Innenpolitik“ des Kirchenstaates war dagegen durch den zunehmend drohenden Niedergang des Staates als säkulares „Königreich“ bedingt. Was den intellektuellen Hintergrund der politischen Entwicklungen betraf, so wusste Pius IX. sehr wohl, dass er sich einer ideologisch-politischen Bewegung gegenübersah, die sich entschieden gegen den katholischen Glauben, gegen die Kirche richtete, die der übernatürlichen Wirklichkeit und dem Leben der Kirche feindlich gegenüberstand.
Pius IX. war sich fast von Beginn seines Pontifikats an bewusst, dass er sich in der Endphase der weltlichen Macht der Kirche befand. In den Jahren vor 1870 war er mit dem ständigen Verlust seines Territoriums durch die militärischen Angriffe der Piemontesen und Garibaldis konfrontiert, was seinen Höhepunkt in der „Breccia di Porta Pia“ fand. Pius IX. war in der Lage, sich des historischen Augenblicks bewusst zu sein, den er erlebte, das Ende einer tausendjährigen Geschichte: das Ende des Kirchenstaates. Der Papst war entschlossen, sich auf eine Zukunft vorzubereiten, die er als in seinem Palast im Vatikan eingesperrter „Gefangener“ verbringen sollte. Was die Situation des Kirchenstaates und der Kirche jener Zeit betrifft, so verstand sich Pius IX. nicht als „politischer Führer“. Für ihn war „Politik“ aufgrund der Existenz des „Papa Re“ ein zweitrangiger Aspekt. Pius IX. war ein tief religiöser Mann, der die neuen Herausforderungen für den Glauben sah, für einen im „Heute“ seiner Zeit gelebten Glauben, einen Glaube, der oft durch das bedroht war, was wir heute Relativismus und zügellose laizistische Aggression nennen würden.
Der Papst sah sich in erster Linie als Hirte der Weltkirche, als der „Fels“, auf dem die Kirche Christi ruht, ein Fels, der in einem immer stürmischer werdenden Meer von Zeiten fest bleiben sollte. Eine seiner Antworten auf dieses Problem ist im ersten Dekret des Ersten Vatikanischen Konzils „Dei filius“ zu finden. Es ging gerade darum, der Vernunft im Prozess der Umsetzung des Glaubens, im konkreten Glaubensakt, ihr volles Recht zu sichern und gleichzeitig die Grenzen der Vernunft gegenüber der göttlichen Offenbarung zu betonen. Leider wurde genau dieses Dekret des Konzils von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert, während „andere“ (die Konstitution „Pastor aeternus“ über den Primat und die Unfehlbarkeit des Papstes) zum Mittelpunkt heftiger Kontroversen wurden. Es ist bezeichnend, dass sich das Konzil an vorderster Front und erster Stelle mit Glaubensproblemen befasste und erst danach mit dem Primat und der Unfehlbarkeit des Papstes.
Die ursprüngliche Idee, eine „Liste“, einen „Syllabus“ von Irrtümern des zeitgenössischen Denkens und Irrlehren vorzulegen, war im Wesentlichen richtig und notwendig. Aber: die Art und Weise, wie diese Idee verwirklicht wurde, führte zur Abfassung eines sehr spezialisierten Textes, der nur für Theologen und Philosophen verständlich ist. Die breite Öffentlichkeit hätte ihn nie in seinem tiefsten Sinn und in seinen tiefsten Absichten verstehen können, wenn sie ihn unter der Linse eines allgemeinen Menschenverstands gelesen hätte. Darüber hinaus muss man auch feststellen, dass die meisten Kritiker des berüchtigten Syllabus als „repressives“ und „reaktionäres“ Dokument ihn nie einer eingehenden Untersuchung unterzogen haben. Fast einhundertfünfzig Jahre später hingegen ist eine weitsichtige Vision zu erkennen, die genau das betrifft, was später (als Ideologien) das zwanzigste Jahrhundert verwüsten und Katastrophen und Massaker verursachen sollte.
Die Kritiker des Syllabus unserer Zeiten sollten in der Lage sein, die Absichten Pius’ IX. zu begreifen, indem sie das Dokument hinsichtlich dessen lesen, was es intendiert. Eines muss gesagt werden: unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation war die literarische Form des Syllabus völlig falsch und katastrophal, ein echter und enormer „Medienflop“. Dann: die so sehr in Mode gekommenen Vorwürfe, das Dokument hätte so viele Errungenschaften der Neuzeit „verdammt“, sind auf eine unangemessene Lektüre zurückzuführen, die der scholastisch-theologischen Sprache nicht mächtig ist. Was die meisten „Kritiker“ von Pius IX. als einen „reaktionären“ oder „weltfremden“ Papst ignorieren, ist die enorme neue Blüte der Frömmigkeit, der Volksfrömmigkeit während des Pontifikats nach der Dürre der Aufklärung.
Es genügt in Erinnerung zu rufen, dass wir während der Regierungszeit von Pius IX. bis zu 150 Gründungen neuer und anerkannter Ordensgemeinschaften zählen können. Diese entwickelten eine wunderbare karitative, erzieherische, missionarische und katechetische Tätigkeit. Dann: wir dürfen die Reaktion der Gläubigen auf die Erscheinungen der Muttergottes, zum Beispiel in La Salette und Lourdes, und damit das Wachsen der Marienverehrung nicht vergessen. Gleichzeitig ist die Bindung an den Papst als gemeinsamen Vater der Gläubigen immer mehr gewachsen. Mehr noch: von Zeit zu Zeit erweist sich diese als ein wenig übertrieben.
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