30. September 2020 in Spirituelles
„Niemand kann so für das Leben sprechen wie die Menschen, die in Gott leben, denken und handeln.“ Predigt zum 80. Geburtstag von Erzbischof em. André Léonard. Von Gerhard Card. Müller
Vatikan-Paris (kath.net/pl) kath.net dokumentiert die schriftliche Vorlage der Predigt des emeritierten Kurienkardinals Gerhard Ludwig Müller (Archivfoto) in der Messfeier anlässlich des 80. Geburtstags des emeritierten Erzbischofs von Brüssel, André Léonard, in voller Länge - Wir danken S.E. für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung.
Verehrter, lieber Mitbruder in Christus,
wenn Sie heute im Kreis vieler Freunde und Weggefährten Ihren 80. Geburtstag hier in Paris feiern dürfen, dann ist dies für uns alle ein Grund zum Dank an Gott und an Ihre Eltern, denen Sie in analoger Kausalität das Leben verdanken. Der Psalmist stellt mit melancholischem Unterton fest: "Die Zeit unseres Lebens währt 70 Jahre und wenn es hoch kommt, achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Verhängnis. Schnell geht es vorbei, wir fliegen dahin." (Ps 90, 10). Und doch wird der Glaube an den lebendigen Gott nicht unter dem Schutt eines trotzigen oder resignativen Nihilismus begraben. Auf seine Gnade ist Verlass und darum können wir in aller Erdenschwere zu Gott unsere Seele erheben, indem wir zu ihm rufen: "Dein Wirken werde sichtbar an deinen Knechten und deine Pracht an deinen Kindern. Güte und Schönheit des Herrn, unseres Gottes, sei über uns! Lass gedeihen das Werk unserer Hände, ja das Werk unserer Hände lass gedeihen." (Ps 90, 16f).
Der christliche Ansatz zur Bewältigung menschlicher Kontingenz unterscheidet sich wesentlich von der platonischen Gegenüberstellung der ewigen Ideen zur sinnlichen Welt als dem Reich bloß vergänglicher Schatten. Wir gehen aber auch dem Materialismus nicht in die Falle, der das Jenseits als Trug und Illusion ent-wirklicht, um wie ein Vabanque-Spieler allen Sinn des Daseins auf die Karte des Diesseits zu setzen und wie ein Habenichts aus dem Casino geworfen wird.
Es gibt nur die eine Welt, die Gott herrlich und wunderbar erschaffen hat. In seiner Weisheit hat er sie dem Menschen als einen Garten zugewiesen, den es mit Geist und Tat zu bebauen gilt oder als das gemeinsame Haus, in dem es Wohnungen gibt für alle. Wenn man gegenüber der dualistischen Diesseits-Jenseits-Dialektik monistischer oder dualistischer Prägung mit einem Bild das christliche Verhältnis vom transzendenten Gott zum Menschen in der Immanenz der Welt beschreiben möchte, dann kommt man auf die biblische Metapher vom Weg, der zu einem Ziel hinführt. Bei der Empfängnis im Mutterleib offenbart sich Gott dem Menschen als Ursprung und Sinn seines Daseins. Und mit seiner Geburt beginnt der irdische Weg von der Kindheit über die Jugend zum Lebenswerk des Erwachsenens bis zum kontemplativen Ausklang in der Reife des Alters. Dieser Weg ist gebaut nicht als ein Labyrinth oder eine Sackgasse, die eine Totalfrustration auslösen müssten, sondern als eine providentielle Navigation, die uns zu Gott als dem Ziel unserer Reise hinführt: die ewige Gemeinschaft mit Gott in Wahrheit und Liebe. Freilich fühlen wir uns in den geistigen Herausforderungen, den körperlichen und seelischen Leiden, den Ungerechtigkeiten und Bosheiten dieser Welt wie in der Fremde. Darum hoffen wir, schlussendlich – trotz mancher Umleitungen und Staus – in der Heimat im Himmel anzulangen: "Denn von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter, der unseren armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines verherrlichten Leibes, in der Kraft, mit der er sich auch alles unterwerfen kann." (Phil 3, 21).
Jesus Christus ist der ewige Sohn des Vaters, das ihm wesensgleiche Wort, das Fleisch geworden ist. Und er hält in seiner Person Gott und Welt zusammen. Er umfasst das Sein in Zeit und Ewigkeit, in Geschichte und Gesellschaft, in Geist und Leib. Er ist die Balance von Gebet und Arbeit, von Gnade und Natur, von Glauben und Vernunft, von Humanität und Christlichkeit. Christentum ist "Humanismus mit Gott". Wer die "Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes" (Röm 8, 21) erfahren hat, der ist auch geimpft gegen das Virus des Nihilismus, der pandemisch das "Elend des Menschen ohne Gott" – wie Henri de Lubac formulierte – in der ganzen Welt verbreitet.
Die Erklärung der Menschenrechte am 26. August 1989 hier in Paris stieß nicht deshalb auf kirchliche Kritik, weil sie diese gemäß – leider ausgedünnter – thomistischer Tradition in der Natur des Menschen statt positivistisch im Willen der Mächtigen begründete, sondern weil sie ihre Grundlegung in der Transzendenz Gottes verschleierte, der allein sie menschlicher Willkür entzieht. Der Bezug auf das "Höchste Wesen" in der Präambel war nicht mehr als die Koketterie drittklassiger Salonphilosophen. Dieser "Gott" aus dem Pappmachés der Aufklärung ist nicht der lebendige Gott Israels und der Vater Jesus Christi, der sein Volk aus der Knechtschaft befreit und hineinführt in das weite Land der Freiheit und Gerechtigkeit. Die in den metaphysischen Tiefen des Menschseins begründeten Postulate der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gibt es nur in Jesus Christus, er wahrer Gott und wahrer Menschen zugleich ist. Er hat frei alle Bosheit und Gewalt der Welt am eigenen Fleisch erlitten und damit der civitas terrena die Civitas Dei entgegen gebaut. Nicht durch den Terror der Guillotine werden die Menschen zur Tugend a la Robespierre erzogen. Nur durch die Demut Christi am Kreuz kommt die Versöhnung in die Welt und wird der Mensch von Sünde und Tod befreit.
Sie, lieber Mitbruder im Bischofsamt, André Léonard, haben Ihr ganzes Leben in den Dienst Gottes gestellt, der uns in Christus zu einer neuen Schöpfung gemacht hat. Der Dienst des Bischofs und Priesters ist nichts anderes als die Ausführung des apostolisches Dienstes der Versöhnung im Hinblick auf die Gläubigen in der "Kirche Gottes" (2 Kor 1, 1). "Wir – die Apostel und ihre Nachfolger – sind also Gesandte an Christi statt und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten euch an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen." (2 Kor 5, 20). Den "Dienern Christi und Ausspendern der Mysterien Gottes" (1 Kor 4,1) macht es nichts aus, wenn sie von menschlichen Gerichten nach Gott fernen Maßstäben beurteilt werden, denn alles kommt auf den Spruch des ewigen Richters an, der allein in die Herzen schaut. Die "Diener des Neuen Bundes" dienen dem Geist, der lebendig macht, nicht dem Buchstaben, der tötet. (vgl. 2 Kor 3, 4-11).
Der Weg der Kirche ist heute der Weg des Menschen. Niemand kann so für das Leben sprechen wie die Menschen, die in Gott leben, denken und handeln. Vom ersten Moment bis zum natürlichen Tod ist die Würde des Menschen unantastbar. Dass jeder Mensch Person ist bedeutet, dass niemand zum Objekt des egoistischen Hedonismus oder der politischen und wirtschaftlichen Interessen von totalitären Politikern, Hedgefond-Managern und Medien-Mogulen herabgewürdigt werden kann – selbst wenn sie sich von ihren verführten und bezahlten Anhängern als Philanthropen und Wohltäter der Menschheit bejubeln lassen.
Die Menschheit hat keine Zukunft in einer total kontrollierten und bürokratisierten Welt, wo man den entmündigten Massen ihre geraubte Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit vorgaukelt. Die Kirche Gottes ist die einzige Macht in der globalisierten Welt, die für die Freiheit und Würde der Person eintritt. Freiheit heißt nicht machen können, was mir gefällt und nützt im Einklang mit den Zielen, die die Mächtigen vorgeben. Freiheit ist das Vermögen, unabhängig von jeder weltlichen Macht, in Liebe die Verantwortung für den Nächsten zu übernehmen. Nur wo wir Gott über alles und den Nächsten wie uns selbst lieben, erreichen wir die wahre Freiheit, die uns über uns hinaus und gerade darin zu uns selbst führt. Ursprung und Ziel der Freiheit ist die Liebe.
Das bezeugen uns die hl. Märtyrer dieses Tages Kosmas und Damian. In der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian wurde sie enthauptet. Aber die Kirche ehrt diese beiden Ärzte, die man auch die "Unentgeltlichen" nannte, weil sie die armen Patienten kostenlos behandelten aus Liebe zu Christus, den sie in der leidenden und verachteten Menschen erkannten. Unentgeltlich und selbstlos wollen auch wir Christen von heute den geistig und materiell Armen unserer Zeit dienen und mit Hilfe der Gnade die Wunden der Enttäuschten, der Erniedrigten und der Irregeleiteten lindern und heilen. In der großen Aussendungsrede an die 12 Jünger, die er zu seinen Aposteln machte, sagt Jesus. "Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben." (Mt 10, 9). Die Gnade des Apostelamts befreit uns vom Gefühl, dass alles vergeblich war ebenso wie von dem titanischen Willen, die Welt zu retten nach unseren Plänen.
Wir schauen als Christen auch im 8. und 9 Lebensjahrzehnt, in das Gott uns geführt hat, nicht verbittert und verzweifelt zurück wie die Heiden, weil ihre Zeit unwiederbringlich abgelaufen ist. Wir können alles getrost in Gottes Hände legen: unsere Leistungen und Niederlagen, unseren Einsatz für das Reich Gottes mit dem ganzen Leben, aber auch die bitteren Enttäuschungen sogar über die menschliche Seite in der Kirche.
Wie immer es auch sei: "Es kommt darauf an, dass Jesus verkündigt wird und darüber freue ich mich" (Phil 1, 18) – so tröstet uns der Apostel. Und darum ehren Ihre Freunde Sie, lieber Mitbruder, mit einem bunten Blumenstrauß aus vielen interessanten Beiträgen unter dem herrlichen Titel, der ihre Gesinnung und ihr Lebenswerk auf den Punkt bringt: Montrer aux hommes le chemin qui mène au Christ. Amen.
Foto Kardinal Müller (c) Emmanuel du Bourg de Luzençon
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