Die bekennenden Katholiken in Deutschland sollen sich nicht einschüchtern lassen!

5. Oktober 2020 in Interview


kath.net-Interview mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller über Fratelli tutti,Donald Trump, Joe Biden, Corona und kirchliche Einschränkungen, Synodaler Prozess in Deutschland und den Finanzskandal im Vatikan - Von Roland Noé


Rom (kath.net/rn)

Kath.net: Am Sonntag wurde von Papst Franziskus die neue Enzyklika „Fratelli tutti“ veröffentlicht. Was ist Ihre erste Einschätzung?

Kardinal Müller: Die Enzyklika ist sehr gut nachvollziehbar und zum tieferen Studium zu empfehlen, insofern sie sich an alle Menschen guten Willens richtet und sogar gegenüber den meisten deutschen Moraltheologen das in sich Böse (intrinsece malum) lehrt  mit Johannes Pauls II in Veritatis splendor. Es  wäre falsch zu sagen, dass sie der freimaurerischen und UNO-Rede von Brüderlichkeit entspricht, weil sie  die Transzendenz der Brüderlichkeit in Gott dem Schöpfer betont, Gott als Vater und die Kirche in Maria als Mutter aller Menschen herausstellt. Die Argumentation kann in die Linie von Johannes XXIII bis Benedikt über die Soziallehre und die unverhandelbaren Werte der Menschenrechte eingeordnet werden. Es wird nicht das Christliche auf das Gemeinmenschliche reduziert, sondern umgekehrt das aus dem Glauben herauswachsende Humanum als Grundlage eines Zusammenlebens von Menschen verschiedener Religion, Kultur in der globalen Zivilisation von heute empfohlen.

Kath.net: Die US-Wahlen beschäftigen derzeit die Welt, möglicherweise kommt es zu einer Abwahl von US-Präsident Donald Trump. Was könnte eine Wahl von Joe Biden möglicherweise für Christen bedeuten? Wie kritisch sehen Sie den "Katholiken" Biden, der ja beispielsweise kein Problem hat, dass seine Partei die Tötung ungeborener Kinder bis zum 9. Schwangerschaftsmonat unterstützt?

Kardinal Müller: Über den persönlichen Glauben Joe Bidens kann und will ich kein Urteil abgeben. Aber seine Haltung zur gesetzlichen Freigabe der Tötung der Kinder im Mutterleib bis zum 9. Monat und bei Missbildungen über die Geburt hinaus widerspricht "dem heiligen Recht auf das Leben jedes Menschen", das ihm durch Gott, seinem Schöpfer, wesenhaft zukommt. Das hat Papst Franziskus, auf den er sich gerne beruft, in der neuesten Enzyklika "Fratelli tutti" als einen der unverhandelbaren Grundwerte nachhaltig herausgestellt (FT 39; 207) Die Covid-Krise hat uns erneut gezeigt, dass wir nicht die "Herren und Besitzer der Natur" (Renè Descartes) sind, wie es die neuzeitliche Philosophie der Autonomie will, sondern dass wir abhängig sind von den Vorgaben der anorganischen und organischen Natur (FT 34), wie sie aus dem weisen Plan Gottes hervorgehen.

Deshalb sind die Menschenrechte universal gültig und bilden die Grundlage jeder Kultur und der Einheit des Menschengeschlechtes (FT 22). Die Unverletzlichkeit jedes Menschenlebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod leuchtet jedem Menschen ein, der seine Vernunft gebraucht, und noch tiefer denen, die an Gott im Wort seiner Offenbarung in Jesus Christus glauben. Die Schutzbehauptung, dass die Mutter und die Menschen, die sie beeinflussen, die Wahl hätte, über das Leben des Kindes in ihrem Leib zu entscheiden, ist ein Selbstbetrug und ein eklatanter Widerspruch gegen die Würde des Menschen, der getötet wird und desjenigen, der tötet.

Wer Biden und vor allem seine Stellvertreterin, die ihn bald als Präsidentin beerben wird, wählt, muss wissen, dass er mit seiner Stimme (1.) Ja sagt zur Abtreibung und zur Kommerzialisierung von Kindstötung und dem Handel mit ihren Organen, dass er (2.) mit seiner Stimme das grundlegende Menschenrecht der freien öffentlichen Religionsausübung gefährdet, dass er (3.) mit seiner Stimme der Ausschaltung der Katholiken aus öffentlichen Ämtern Vorschub leistet und dass er (4.) sich feige den Hassreden gegen die Katholiken beugt, etwa gegen die katholische Ehefrau Amy Coney Barett und Mutter von sieben Kindern als Kandidatin für den Supreme Court. Es soll dann keiner sagen dürfen, das habe er nicht gewollt, er hätte niemals geglaubt, dass es so schlimm kommen könnte, und dass er auf die Propaganda gegen "die religiöse Rechte" in Amerika hereingefallen sei.

Kath.net: Nun ist US-Präsident Donald Trump auch mit dem covid19-Virus infiziert und erkrankt. Was bedeutet das für die Wahl, für die USA? Wie sollen Katholiken generell mit der Epidemie umgehen?

Kardinal Müller: Wir fühlen als Menschen und Christen mit jedem mit, der von einer heimtückischen Krankheit befallen wird. Wer in einer solchen Situation Schadenfreude empfindet, muss sich psychologisch behandeln lassen und sollte als Katholik schleunigst in der hl. Beichte die Absolution von einer schweren Sünde gegen die Nächstenliebe suchen. Alle vernünftigen Schutzmaßnahmen, die von der legitimen Autorität erlassen werden, müssen wir befolgen. Wir haben aber auch das Recht und die Pflicht, das Menschenrecht der Religionsfreiheit zu verteidigen, das in manchen Ländern nur mit dem Vorwand von Corona eingeschränkt wird. Staatliche Autoritäten dürfen die Spendung der Sakramente und den pastoralen Dienst  etwa an einsamen, alten und sterbenden Menschen nicht behindern oder gar verbieten. Die Kirche ist die Stiftung Gottes und keine dem Staat untergeordnete NGO im Rahmen einer Zivilreligion, die von Politikern nach ihrem Bedarf und Gusto gelenkt wird.

Kath.net: In Deutschland steht derzeit der umstrittenen Synodale Prozess auf der Agenda der Bischofskonferenz. Aus Rom gab es bereits warnende Worte, den Vorsitzenden, Bischof Bätzing scheint dies aber wenig zu interessieren. Werden in Deutschland Katholiken, die den normalen Glauben der Kirche leben wollen, in den nächsten Jahren Teil zu einer katholischen Untergrundkirche?

Kardinal Müller: Der Heilige Vater warnt in seiner neuesten Enzyklika davor, in der Gesellschaft und erst Recht in der Kirche, die sachliche Auseinandersetzung zu ersetzen durch die Diffamierung der andersdenkenden und vom Mainstream abweichenden Personen (FT 156; 201). Was ich z.B. an Beleidigungen und Dummheiten aus dem Resonanzraum der "deutschen Kirche" erlebt habe, als ich einmal eine Erklärung gegen den Missbrauch der Corona-Krise zu Lasten der Religionsfreiheit und der Selbstbestimmung des mündigen Bürgers durch  kontrollwütige Staaten und am Gewinn interessierten internationale Organisationen unterstützt habe, ist nur ein Beweis für den Verlust einer freien und würdigen Debattenkultur.

Es ist doch klar, dass von einer Reform der Kirche nur die Rede sein kann, wenn die Standards der Offenbarung gelten, wie sie in der Heiligen Schrift, der Apostolischen Tradition und dem Kirchlichen Lehramt verbindlich formuliert sind. Es gibt kein Recht auf sexuelle Lust- das ist ja das Hauptthema der meisten synodalen Weggenossen- außerhalb der personalen Liebe von Mann und Frau in der Ehe. Sex ohne Liebe macht unglücklich- das kann keiner wegdiskutieren, solange der Mensch Person ist und sich nicht in ein triebgesteuertes Tier zurückentwickelt hat.

Der Begriff der selbstbezogenen Lust ist unsinnig und endet in der Frustration. Denn die leiblich-seelische Lust von Sexus und Eros ist auf die Selbstvergessenheit in der Agape der personhaften Gemeinschaft hin geordnet und gerade deshalb auch "wesenhaft gut" (Gen  2, 22-25; 1, 31). Die Ordensgelübde und die zölibatäre Lebensform der Priester (in der Tradition der westlich-lateinischen Kirche) sind nicht alte Zöpfe, die Mode-Friseuren zum Opfer fallen, sondern sind im Evangelium Jesu von der kommenden Gottesherrschaft begründet. Es ist zweifellos das Ziel einer laut- und finanzstarken ideologischen Richtung, gläubige, liturgisch praktizierende und die Moral ernstnehmende Katholiken als "konservativ" und "rechts" zu brandmarken, sie an den Rand zu drängen und gar aus der Kirche herauszutreiben.

Wenn der Heilige Vater selbst zusammen mit der Kongregation für die Glaubenslehre und der Kongregation für den Klerus und dem Rat für die Einheit der Christen von den deutschen Bischöfen eine Abkehr von den Irrwegen in den Fragen der Eucharistie, der sakramentalen Verfassung, der Sexualmoral und dem Verlust der Neuevangelisierung verlangt, dann sollten sich die bekennenden Katholiken in Deutschland nicht einschüchtern und an den Rand drängen lassen. Fragt Euren Bischof, warum man für die Frankfurter Debatten viel Geld bereit hat, aber gegen den Willen der Eltern katholische Schulen schließt, weil angeblich kein Geld da sei! Gut in den Glauben eingeführte junge Menschen sind Gott gefälliger als eine Kirchenkasse in schwarzen Zahlen. Leere Kirchen sind schlimmer als leere Kassen.    

Kath.net: Noch einmal das leidige Corona-Thema: In nicht wenigen Staaten werden Heilige Messen nach wie vor bzw. schon wieder eingeschränkt oder müssen Katholiken Auflagen akzeptieren, die oft sehr fragwürdig sind, weil in anderen Bereichen (Geschäfte, Gasthäuser ua.) es gleichzeitig deutlich lockerer zugeht.  Als Ärgernis wird beispielsweise auch gesehen, dass in manchen Bistümern die Mundkommunion  verboten wurde. Was sagen Sie zu diesen Einschränkungen?

Kardinal Müller:  Wie gesagt waren viele Bistumsleitungen in der weiten Welt, darunter auch die bei uns an Staatshörigkeit Gewöhnten, zu schnell bereit, die göttlichen Gebote zur Vermittlung der Gnade in den Sakramenten dem Willen der weltlichen Machthaber zu unterwerfen, die wie in Kalifornien, Spanien und Rotchina nur auf einen Vorwand gewartet haben, um die Kirche zu knebeln. Das zeigt sich daran, dass diese gegenüber ihren Ideologieverwandten die Maßnahmen gar nicht oder sehr lässig anwenden. Die Mundkommunion ist die normale Form des Eucharistiempfangs, neben der aber auch in manchen Regionen die Handkommunion erlaubt ist. Wenn wegen Ansteckungsgefahr vorübergehend nur die Handkommunion möglich ist, dann kann man sich durchaus fügen, wenn nur die Ehrfurcht gewahrt wird gegenüber dem im Allerheiligsten Sakrament wahrhaft, wirklich und wesentlich gegenwärtigen Christus, dem Sohn Gottes und Erlöser der Welt.

Kath.net: Noch eine Frage zu den jüngsten Entwicklungen im Vatikan und der Entlassung von Kurienkardinal Giovanni Angelo Becciu nach einem Finanzskandal. Wie beurteilen Sie diese Entlassung und auch die Rückkehr von Kardinal Pell nach Rom?

Kardinal Müller: Ein persönliches Urteil kann ich grundsätzlich nicht abgeben und bin auch in dieser Materie nicht bewandert. Warten wir ab, welche Tatsachen die Gerichte feststellen und welche Urteile sie fällen. Es gibt nunmal diese Seite des Allzumenschlichen in der Kirche Gottes, die unseren Glauben oft auf harte Proben stellt. Vieles hängt auch an einer hier tief verwurzelten Mentalität, für die Familie und die Freunde mit zu sorgen -ohne sich über die Folgen für die Glaubwürdigkeit der Kirche große Gedanken zu machen. Der Umgang mit dem Geld, das wir selbstverständlich  für die Aufgaben der Kirche brauchen, ist immer heikel gewesen. Man braucht an diesen Stellen kompetente Leute aus der Wirtschaft und Finanzwelt, die kein Interesse haben an einer Selbstbereicherung und die als gute Katholiken nur an das Wohl der Kirche denken.

Was den Vergleich mit dem Haushalt mancher deutschen und amerikanischen Diözese mit dem Budget des Vatikans angeht, wäre ein pensionierter deutscher Sparkassendirektor gewiss geeigneter als ein zum Bischof geweihter und zum Kardinal erhobener Priester aus der diplomatischen Laufbahn des Heiligen Stuhles. Dem Heiligen Vater tun in dieser Stunde sicher diejenigen keinen Gefallen, die ihn als den solitären Herkules im Augiasstall darstellen, der einsam gegen eine Welt von Feinden in der Kurie und "den bösen Konservativen" in der Weltkirche ankämpft.

Der Papst ist als der Nachfolger Petri der Stellvertreter Christi, wird von jedem Katholiken anerkannt und von den Kardinälen der römischen Kirche nach besten Wissen und Gewissen unterstützt.  Jetzt ist die Gelegenheit gekommen, jede Fraktionsbildung und das unselige Denken in den Kategorien von Freund und Feind zu überwinden. Noch mehr als einer finanziellen Korruption müssen wir alle vereint mit dem Papst und den Bischöfen der Korruption in der geoffenbarten Glaubenslehre und jeder Versuchung einer schismatischen Verkapselung im Kreis von Gleichgesinnten widerstehen. Persönliche Verletzungen, apokalyptische Endzeitphantasien, resignative Anwandlungen nach dem Motto "Macht doch Euren Dreck alleene" (- so der König von Sachsen bei seiner unfreiwilligen Abdankung) müssen wir in unserer Liebe zur Kirche Christi innerlich verwinden. Denn Seine Kirche, in welcher ER uns durch die Taufe zu Gliedern seines Leibes gemacht hat, ist nicht durch unser Blut erlöst. Christus ist es, "der die Kirche geliebt und sich für sie dahingegeben hat, um sie zu heiligen, da er sie gereinigt hat durch das Wasserbad im Wort." Nicht wir reformieren die Kirche und machen sie attraktiv, sondern er befreit und heilt die Kirche von "ihren Flecken, Falten und anderen Fehlern." (Epheser 5, 18f).

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Kath.net: Ganz herzlichen Dank für das Interview!

 

 

Foto: (c) Michael Hesemann


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