9. Oktober 2020 in Aktuelles
‚Fratelli tutti’ – ein Werbespot. Der heilige Franziskus: keineswegs ein Pazifist, sondern er suchte die „Pax Christi“. Kein Revolutionär, sondern ein Restaurator der Kirche Christi. Eine Überlegung von Ettore Gotti Tedeschi. Von Armin Schwibach
Rom (kath.net/as) Fast eine Woche ist vergangen, seitdem das Rundschreiben „Fratelli tutti“ unterzeichnet und veröffentlicht wurde. Im Allgemeinen wurde es von Rezensenten als „Sozialenzyklika“ erkannt. Auffallend in dem sich über viele Seiten hinziehenden Text ist die Vielzahl der Zitate, die der Lehre von Papst Franziskus entnommen sind. Dies hat zur Folge, dass das Schreiben eher evokativ und erinnernd ist und nichts „Neues“ bringt. Vor allem handelt es sich um einen erzählenden Text, der das persönliche Denken, die persönlichen Sichtweisen und die persönlichen Meinungen von Franziskus in den Mittelpunkt stellt.
Dazu kommt: es wird eine Art Weltbild (im positiven wie im negativen Sinn) abgezeichnet: „wie könnte es sein, wenn... – was müssen wir uns erwarten, wenn nicht...“. Dies veranlasste bereits erste Leser dazu, von einer „Utopie“ zu sprechen, die abgezeichnet wird, irgendein Idealbild von Welt, das auszugestalten ist.
Die „Utopie“ ist „οὐ τόπος“, der „Nicht-Ort“, der Entwurf von etwas Ersehntem, der sich in der Regel positiv und alternativ zu einer Lebenswirklichkeit darstellt. Also: ein „I have a dream“, das den Lesern als Desiderat vorgeführt wird. Es ist kein Zufall, dass in dem Text gerade Martin Luther King als eines der Leitbilder Erwähnung findet. Es ist ebenso kein Zufall, dass gerade deshalb die übernatürliche, vertikale Dimension des Seins und die reale Gegenwart Gottes in der Geschichte und für den heilsbedürftigen Menschen eine unterschwellige Rolle spielt, denn: gerade an einem „Nicht-Ort“ bedarf es viel Platz, um dort ALLES unterzubringen, und dieses ALLES gestattet dann oft keinen Blick mehr auf Prinzipielles und Substantielles.
Auch Ettore Gotti Tedeschi, Ökonom, Bankier, Finanzethiker, emeritierter Präsident des IOR (Institut für religiöse Werke, 2009 bis 2012), verdeutlicht den utopischen Charakter des Textes. Gotti Tedeschi ist ein Querdenker, der von je her klärt, dass die wahren Wurzeln der Unordnung in allen Bereichen (Welt, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Finanzsystem) moralischer Natur sind und letztendlich die Beziehung des Menschen zu Gott beeinflussen. Ein Ansatz sui generis in Anbetracht eines Mainstream-Denkens, insbesondere für diejenigen, die sich mit wirtschaftlichen Fragen befassen. Seine wenn auch oft gegenstrebigen Reflexionen, die sich bisweilen heftig an gewissen Aktualitäten stoßen, sind niemals von Resignation oder Entmutigung geprägt. Weil die Vorsehung eine Tatsache ist und auch wenn ihre Pläne manchmal geheimnisvoll wirken können, kann für Gotti Tedeschi alles zum Guten beitragen.
Der Artikel Ettore Gotti Tedeschis erschien am 8. Oktober 2020 in der Zeitung „La Verità”. Der italienische Text kann auf der Seite „Stilum Curiae“ des Vatikanisten Marco Tosatti eingesehen werden. Ich danke Marco für die Zusammenarbeit. as
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Die Enzyklika „Fratelli tutti“ scheint weniger vom heiligen Franziskus als vielmehr vom heiligen Thomas Morus (Utopie) inspiriert zu sein. Von Ettore Gotti Tedeschi
Ich habe den Eindruck, dass die Enzyklika „Fratelli tutti“ keineswegs von den Gedanken des heiligen Franz von Assisi inspiriert ist, sondern eher von dem „satirischen“ Roman Utopia des heiligen Thomas Morus . In Utopia wird das Privateigentum abgeschafft, die Bürger haben weder Güter noch Geld, sie nutzen Güter gemeinsam nach Bedarf und alle Güter werden gebündelt, Handel ist nicht notwendig. Das Wirtschaftssystem ist im Wesentlichen ein landwirtschaftliches System, in dem das Land an sich ein kostbares Gut ist und nicht der Nutzung durch den Menschen untergeordnet ist. In Utopia gibt es das Prinzip der totalen und absoluten Gleichheit, in dem alle sozioökonomischen Unterschiede abgeschafft werden. In Utopia ist die Zahl der Kinder vorbestimmt, damit die Bevölkerung nicht wächst und die Ressourcen nicht über bestimmte Grenzen einer nachhaltigen und geplanten Entwicklung hinaus ausbeutet. In Utopia sind alle Religionen zugelassen, Priester befassen sich mit Religion, vor allem aber mit sozialen Fragen, Frauen werden auch zum Priesteramt zugelassen. Die Utopie ist pazifistisch, die Todesstrafe gibt es nicht. In Utopia besteht die Regierung aus den Magistraten.
Wenn ich an die Werte zurückdenke, die der heilige Thomas Morus (mit offensichtlicher Satire) implizierte, nähere ich mich der Enzyklika mit dem kritischen Geist derer, die sich gezwungen sehen, die vorgeschlagenen Utopien als Werbespot zu interpretieren. Fünfhundert Jahre nach der Veröffentlichung von Utopia (1516) haben sich die Welt und die Kirche ein wenig verändert, aber was in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, ist, dass sich die Kirche bis gestern nur mit den Gewissen und nicht mit Wirtschaft und Politik befassen musste, während sie sich heute (diese Enzyklika ist ein Beispiel dafür) mit Wirtschaft und Politik und nicht nur mit den Gewissen befassen muss.
Aber da die Wirtschaft keine Wissenschaft ist, erfindet sie, wenn sie aus ideologischen Gründen politisch genutzt wird, sozioökonomische Utopien. Doch wenn diese Utopien von der moralischen Autorität gefördert werden und zum Lehramt der Kirche erhoben werden, laufen sie Gefahr, in „Häresien“ verwandelt zu werden. Dass „Fratelli tutti“ riskieren könnte, dieses Schicksal zu erleiden, erscheint mir verdächtig.
Abgesehen vom heiligen Franziskus (der mehr benutzt als nachgeahmt wird), sind die „Testimonials“ angesehene Persönlichkeiten, die für Bürgerrechte gegen Unterdrückung gekämpft haben: Desmond Tutu, Gandhi, Martin Luther King. Und diese Gestalten wurden bereits für Werbespots verwendet: wir erinnern uns an die Telecom-Werbespots, in denen Gandhi als Friedenskommunikator eingesetzt wurde, oder an die Fiat-Chrysler-Werbespots mit Martin Luther King bei der Ansprache von Atlanta. Hier werden sie als Zeugen von Solidarität, Brüderlichkeit, Gleichheit und Frieden ausgewählt.
Ich muss sagen, dass ich eine Auswahl verschiedener Zeugnisse erwartet hätte, zum Beispiel Johannes Paul II. mit „Sollecitudo rei socialis“ (der vorhersagte, dass die Instrumente denjenigen, die sie benutzten, außer Kontrolle geraten würden) oder Benedikt XVI. mit „Caritas in veritate“ (wo die Gefahr erklärt wird, dass die Instrumente moralische Autonomie erlangen). Um vor allem die Halluzinationen derer zu heilen, die daran denken, die Welt zu verbessern, indem sie die Instrumente verändern, wenn sie nicht funktionieren, schlägt Benedikt XVI. vor, über die Erbsünde nachzudenken und daran zu denken, das Herz des Menschen eher durch Umkehr zu verändern. Stattdessen finden wir uns in einer evokativen Enzyklika wieder, die uns Lösungen vorstellen lässt, die sich an utopischen Veränderungen von Instrumenten (Vorverteilung des Reichtums?), Strukturen (im Sinne eines Etatismus, also „einer politischen Anschauung, die dem Staat eine (alles) überragende Bedeutung im wirtschaftlichen und sozialen Leben einräumt und i. d. R. mit zentralistischen Staatsauffassungen verbunden ist?) und Modellen (die der Leistung entsprechende Elemente ablehnen?) orientieren.
Mit großer Klasse und zweifelloser Intelligenz wird dies auch von Andrea Riccardi in einem Beitrag „Corriere della Sera unter Bezugnahme auf die Enzyklika bestätigt: „Der dritte Weg des Papstes zwischen Liberalismus und Populismus“. Der „Dritte Weg“ war die Soziallehre der Kirche, in die sich der große Wirtschaftswissenschaftler Luigi Einaudi, der zweite Präsident der italienischen Republik, verliebte. Einaudi sah in der Soziallehre der Kirche den dritten Weg zwischen Liberalismus und Sozialismus, weil sie unternehmerische Freiheit und Privateigentum garantierte, aber auch die unabdingbare Solidarität forderte. Doch er wollte, dass die Umkehr der Herzen angewandt wird. Heute ersetzt Riccardi den alten Sozialismus durch den verachteten Populismus, vielleicht um einen getarnten katholischen Sozialismus als neuen dritten Weg vorzuschlagen?
Aber die wahren Feinde des Gemeinwohls sind heute nicht Liberalismus, Sozialismus oder Populismus, sondern Relativismus und Nihilismus. Der dritte Weg liegt nur in der Umkehr der Herzen. Sie wollen nicht, dass wir an die „Hölle“ glauben. Aber wollen sie, dass wir an eine neue katholische Partei glauben, die auf den Annahmen und Programmen einer eher utopischen als realistischen Enzyklika beruht? Doch der heilige Thomas Morus, der Utopia scherzhaft schrieb, meinte es nicht so. Der heilige Franziskus, für den die Armut nur ein Mittel war, um den Willen Gottes besser zu erfüllen (und seine Wahl war mystisch, nicht sozial oder politisch), meinte es ernst, als er den Menschen einlud, Gott zu loben, indem er verdienstvolle Tugenden ausübte, während die anderen Geschöpfe entsprechend ihrer natürlichen Rolle dazu berufen sind.
Der heilige Franziskus war keineswegs ein Pazifist, sondern suchte die „Pax Christi“. Er war kein Revolutionär, sondern ein Restaurator der Kirche Christi. Er war ganz und gar nicht egalitär, sondern predigte die Gleichheit der Menschen vor Gott. Er war kein Tierforscher, er sang nur Loblieder auf den Schöpfer (er besang nicht die Geschöpfe), er war kein Almosenempfänger, denn um den Armen zu helfen, müssen wir aus den Reichen schöpfen und sie Solidarität lehren. Franziskus war ein Realist, und diese Enzyklika scheint mir nicht so sehr von seiner Lehre inspiriert zu sein, wie man glauben machen will.
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